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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



August 2003
Lothar Glauch
für satt.org

Helmut Krausser:
UC

Unter Zuhilfenahme eines Märchens von H.C. Andersen
Rowohlt, Reinbek 2003

Helmut Krausser: UC
480 Seiten, geb.
EUR 22,90
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Der Homo Sapiens 2.0



Wie für Helmut Kraussers letzte Werke "Thanatos" und "Schmerznovelle" hat der Cover-Gestalter auch für "UC" die dunkleren Töne gewählt. Aber neben dem gewohnt sanguinischen Memento Mori paraphrasiert Krausser in seinem im März erschienenen Werk auch musikgeschichtliche Motive, wie er sie bereits in dem 1993 erschienenen Historienroman "Melodien" eindrucksvoll ins Wort gesetzt hat.

Diesmal ist der Romanheld ein aufstrebender Dirigent im besten Alter, Arndt Hermannstein, der überdies eine vermögende Frau geheiratet hat und seinen dekadenten Launen in Sachen Lust und Liebe frönen kann. Beziehungsweise könnte. Denn er verstrickt sich immer tiefer in einer Midlifecrisis der ungewöhnlichen Art: Nicht nur die ihm noch bleibenden Lebensjahre schwinden, auch sein Erinnerungsvermögen an die zurückliegenden Jahre geht verloren – und mit letzterem will Hermannstein sich partout nicht abfinden müssen.

Der Aufmacher des Romans verspricht Spannung: Wie jüngst Chuck Palahniuk in seinem Bravourstück "Flug 2039", so werden auch bei Krausser die letzten Augenblicke im Leben des (Anti-)Helden geschildert. Der Countdown bis zur letzten Sekunde ist hier allerdings um einiges wehmütiger gestaltet. Wo man ein finales Feuerwerk der Assoziationen erwarten könnte, folgt die Erzählung geradlinig der Biografie des Protagonisten, anstelle den Ultrachronos (UC) zu drehen, jenen Film also, in welchem dem Sterbenden noch einmal seine Lebensgeschichte im Schnelldurchlauf vor Augen geführt wird, während das Bewusstsein Zugang zu einer vielfach intensivierten Wahrnehmung besitzt. "UC" aber wirkt größtenteils flurbereinigt und kanalisiert, selbst Sprachstil und –duktus sind handlungsergeben und zielführend gewählt. Nur selten verlässt Krausser diese klare Linie und entwickelt poetische Bilder:

"Ein Augenblick, in dem alles so restlos alles war, und nichts davon. Der Himmel im Fenster beruhigte sich. Es ist immer nur der Himmel im Fenster, jedes Fenster eine Frau, dein Haus besteht aus Fenstern, aus Frauen, beruhigte Himmelsfragmente, Gräber bewegter Wetterfronten. Anne. Ich lag neben ihr wie tot. In diesem Moment war alles, soweit es möglich war, in Ordnung gebracht."

Arndt Hermannstein sieht sich nach einem Treffen des Abiturientenjahrgangs mit einer längst vergessenen Jugendgeschichte konfrontiert. 20 Jahre waren genug, um sämtliche Erinnerungen getilgt oder durch krude Fantasien ersetzt zu haben. Als schließlich die Leiche der damals verschollenen Schulkameradin in einem Waldstück gefunden wird und allem Anschein nach einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen ist, zählt auch Hermannstein zu den Verdächtigen. Sein lückenhaftes Gedächtnis macht ihm Angst, drängt ihn in die Defensive. Er stellt sich unentwegt Fragen, entwickelt Hypothesen zu einer Vergangenheit, die ihm fremd geworden ist, und die ihm längst nicht mehr alleine gehört; sie zu beherrschen, ist unmöglich geworden. Wohl aber zu bearbeiten! So traktiert er seine Vergangenheit, was immer mehr zur Exegese gerät, zur Auslegung, ganz ähnlich den filmischen Vorbildern "Memento" oder "Vanilla Sky", wo ebenfalls angstmachende Gedächtnislücken aufbrechen und sich zu immer größeren Bedrohungen auswachsen. In seiner verzweifelten Lage kommt ihm der charismatische Schriftsteller und Philosoph Samuel Kurthes zur Hilfe. Kurthes aber handelt nicht ohne Eigennutz. Noch zu Lebzeiten avanciert er zum Nachlassverwalter des Dirigenten, ja er verwandelt sich selbst zusehends in dessen Alter ego, verwirrt ihn überdies mit seinen Parallelwelten-Theorien, womit dem Untergeher der letzte Halt in der Realität entzogen wird.

Mit der Einführung von Kurthes variiert die Erzählperspektive: Am Anfang des Romans darf Arndt Hermannstein noch aus seinem Ich heraus berichten, unprätentiös und ungefiltert, dann aber wendet sich das Blatt und wird zur Außenansicht, Hermannstein degeneriert zusehends zum Gefühlsdusel, der seine Melancholie und Angst am besten mit Alkohol, Drogen und Frauen bekämpft. Samuel Kurthes indessen unterzieht den Dirigenten einer Vivisektion – eine Operation am offenen Gehirn sozusagen. Kurthes ist weniger daran interessiert, seinen an Erinnerungslücken leidenden Patienten zu heilen, nein, der Romancier schreckt nicht einmal vor einem Experiment der besonderen Sorte zurück: Einen lebenden Prominenten zu seiner Romanfigur zu machen.

Kurthes recherchiert, sammelt Material, und greift schließlich sogar in Hermannsteins Leben ein, gefällt sich einmal als Helfer, dann wieder mimt er den advocatus diaboli. Eine Konstruktion, die an den Skandalroman "Esra" von Maxim Biller erinnert, wo reale Personen auf delikate Weise fiktionalisiert wurden. Krausser hingegen wählt die weniger plumpe Variante des "Buchs im Buch": Hinter jedem vermeintlichen Autor steht demnach ein noch größerer Autor. (Und hinter dem Roman-Romancier hält sich selbstverständlich der große Meister selbst versteckt, denn "Helmut Krausser" ist gewiss nicht zufällig anagrammatisch mit "Samuel Kurthes" fast identisch.)

Das alles mag kompliziert klingen. Letztendlich ist "UC" allerdings kaum mehr als ein geordnetes Verwirrspiel. Innovativ und explosiv wirken nur die sexuellen Aberrationen oder erotischen Arrangements, die zu Kraussers Markenzeichen gehören. Neu sind die ständigen Perspektivwechsel, welche bis ins Schriftbild hineinreichen, die breite Palette von Schriftarten, die dem pc-schreibenden Autoren des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, werden hier exzessiv durchexerziert. Was nach einer Manierismuskeule klingt – aber keine ist. Zur Prosa eines Huysmans etwa fehlt die Dichte, die Eloquenz, die Eleganz. Krausser verlässt sich hingegen auf die Crimestory, auf die erotischen Eskapaden, vertraut der Spannung eines Zeitgeistthemas und hinterzieht damit die Poesie, die Sinnlichkeit. Just die Crimestory ist keineswegs neu, kommt viel eher als Klon von Stefan Beuses "Die Nacht der Könige" (2002) daher. Denn Beuses Roman schildert ein verblüffend ähnliches Triebverbrechen, Auslöser der Verwicklungen ist auch hier eine finstere Waldszene mit einer Frauenschändung, die aus dem Bewusstsein des Protagonisten getilgt worden ist.

Ein kulturkritischer Exkurs aber macht "UC" schließlich doch noch zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis: In Samuel Kurthes´ populärwissenschaftlichen Abriss über den Ultrachronos wagt Krausser eine lautstarke Kritik am übersteigerten Individualismus der westlichen Zivilisation. Das erinnert stark an Michel Houellebecqs "Elementarteilchen", denn auch Krausser entwirft einen Supermenschen, eine homo-sapiens-2.0-Version, allerdings benutzt er den Ultrachronos als neue Variante eines parapsychologischen Zusammenklangs des Menschengeschlechts. Da, wo Houellebecq über die Möglichkeiten einer gentechnischen Götterschöpfung spekuliert, wählt Krausser den Ausfallschritt ins Übersinnliche, fantasiert über Telepathie und die Kunst des Antizipierens, die angeblich im Tierreich vorherrscht und beim Menschen durch dessen Sprachkultur zerstört worden ist. Jawohl, da geht es bisweilen recht munter esoterisch zu, da werden augenzwinkernd sogar die morphogenetischen Felder Sheldrakes strapaziert. Ein sehr weit gespannter Bogen, gewiss. Aber gerade dieser ungewohnte Ansatz tut gut, erfrischt das Gemüt, in einer Zeit, wo die obdachlos gewordenen Seelen nach neuen Ufern jenseits von Sex, Geld und Geltung Ausschau halten.

Man merkt den Unterschied: Waren die Romanhelden des zwanzigsten Jahrhunderts damit befasst, ihr eigenes zerfasertes "Ich" neu zu fassen, um – den Fliehkräften der Postmoderne zum Trotz – als Ganzes, Homogenes, als Individuum weiter existieren zu können, so sind ihre Nachfolger zum Beginn des 21. Jahrhunderts dabei, den Identitätsgedanken fachgerecht zu entsorgen und einem Gemeinsinn (welcher noch näher zu definieren ist) unterzuordnen. Womit einhergeht, dass diese neuen Helden nicht länger versuchen, den eigenen biografischen Sumpf trocken zu legen, weil sie erkannt haben, dass auch die eigene Vergangenheit irgendwann zwangsläufig zur Fiktion oder zum reinen Konstrukt entarten muss. Und so steht am Ende eine glückliche, verheißungsvolle Kapitulation, die schöne Vollendung im Untergang des Ichs – und des Aufgehens in der Gesellschaft. Die Suche nach dem verlorenen Trauma hingegen wird eindeutig als vergeudete Zeit entlarvt.