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Februar 2004
Anne Kathrin Hahn
für satt.org

Tanja Dückers:
Himmelskörper

Aufbau Verlag 2003

Tanja Dückers: Himmelskörper

319 S., geb.
16,90 EUR
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Nicht mal bereut

Die Berliner Dichterin und Autorin Tanja Dückers im Gespräch über Himmelskörper

von Anne Kathrin Hahn



„Ich lese keine Kritiken mehr“, sagt Tanja Dückers grinsend. Wir sitzen in einer Küche in Berlins Mitte und sprechen über ihren im Frühjahr 2003 erschienenen Roman „Himmelskörper“ und die Reaktionen darauf.
„Das regt so auf, da verliert man Zeit!“ legt sie nach. Seit Dückers zweitem Roman grätschen die Kritiken die Skala auf, vom Hochgesang bis zum Totalverriss. Womit hat die Autorin das provoziert? Liegt es am Gegenstand ihres jüngsten Romans? Wir nähern uns dem Thema behutsam.

„Die Silberlügenaale waren die unheimlichsten Bewohner des Bleichen Sees. Sie waren heimtückische, unsichtbar am Boden des Sees liegende Verschwörer, die – von Elfen beauftragt, unseren Vater Dinge sagen ließen, an denen Erdbewohner manchmal zweifelten …“

So versponnen und selbstbezogen erleben die Geschwister des Romans, Paul und Freia, ihre Kindheit im Berliner Westen, direkt am Wald. Will man Tanja Dückers Roman autobiografisch verstehen, muss es eine heile Zeit gewesen sein. Hat sie wirklich so eine schöne verwunschene Kindheit gehabt? An See und Wald?

„Nee, wir wohnten immer mitten in der Stadt, in Berlin. Wir hatten viel Phantasie und haben schön Urlaub gemacht, ich habe das nämlich hauptsächlich aus meinen Urlaubsbildern gespeist. Wir sind mittendrin aufgewachsen, am Zoo, war ne recht grobe Gegend damals und meine Eltern sind in den Ferien mit uns aufs Land gefahren, so richtig schön, entweder Alpen, Nordsee oder Norwegen. In Cornwall waren wir drei Sommer lang, haben sechs Wochen keinen Menschen gesehen, selbst kochen und so … Daher kommt das.“

Und bei Freia und Paul? War das die reine Idylle, eine unbefleckte Kindheit? „Aber es gab noch etwas anderes, was uns sehr beschäftigte: wo war Großvaters Bein geblieben, nachdem es im Krieg’ oder durch Kriege’ verloren gegangen war? Manchmal, wenn Paul und ich auf der runden Mittelinsel des Bleichen Sees standen, suchten wir seinen Grund nach Großvaters Bein ab …“

Da ist schon, was sich in die heile Welt bohrt. Der Krieg und seine offenen Fragen. Tanja Dückers hat einen ganzen Roman um dieses Motiv gebaut und begibt sich als Ich-Erzählerin in die Enkelperspektive, die ganz naiv Fragen stellt. Das ist nicht nur geschickt gewählt, sondern authentisch dargestellt.

Die 1968 geborene Autorin wollte ein Buch schreiben, „das sich zu dieser Vertriebenenproblematik anders äußert, als ich das sonst oft in den Nachrichten höre, weil ich schon das Gefühl habe, dass sich so eine Art Deutschlandselbstbewusstsein wieder konfiguriert.“ Sie findet gegenwärtige Diskussion über Rückzahlungsanträge von Seiten der Vertriebenen „sehr seltsam“. Es war ihr wichtig, ihre Roman-Großeltern am Ende des Buches nicht freizusprechen, „das sind eben keine verkappten Widerstandskämpfer gewesen, sondern die waren richtig dabei und haben es nicht mal bereut!“

Im Roman wird Freia erwachsen, studiert Meteorologie, verliebt sich, und erwartet schließlich ein Kind. Die Großmutter erwartet den Tod und nun werden die Fragen nach der Schuld und Unschuld am Überleben der Familie mit neuer Intensität gestellt. Der Krieg und die Flucht liegen lange zurück, aber verarbeitet ist nichts.

Tanja Dückers liefert mit „Himmelskörper“ einen „Beitrag zu diesen seit Jahren währenden Diskussionen und dem Gefühl, das ist ja alles schon lange her. Zum Beispiel Walser, mit der Auschwitzkeule, wir wollen nicht immer damit von den anderen genervt werden’, das hat mich aufgeregt in den letzten Jahren!“ Die Schriftstellerin findet überhaupt nicht, dass das Thema vorbei ist, „wenn ich mich hier in Berlin umgucke, dann steht hier ein Neubau, da ist ne Lücke, warum wohl?“
Und sie sieht nicht ein, „dass immer nur diese älteren grauhaarigen Herren sich auf die Weise, auch noch so bekloppte, wie sie es oft machen, zu diesem Thema äußern.“

Tanja Dückers besitzt ein gesundes, strahlendes Selbstbewusstsein. Sie nimmt es mit den grauhaarigen Herren und dem gewichtigen Thema locker auf. Wie kommt sie dazu?

Sie macht ihre Lesungen und schreibt. Und das sehr konsequent. Die Frühaufsteherin hat ihren Tag fest eingeteilt, von 8 bis 10 Uhr schreiben, dann Frühstück, von 10 bis 13 Uhr Bürokratie, dann Artikel schreiben, Kunstkritiken, und – sich mit der Gegenwart beschäftigen. Man könnte profaner sagen, Wäsche waschen, einkaufen gehen, Bude putzen. All so was, was zum Leben dazu gehört und Raum fordert.
„Ich habe zu wenig Zeit zum Schreiben“ beklagt sich Tanja Dückers, beinahe erstaunt und schmunzelt dann; „ein Sekretär wäre gut!“ Autorin sein ist anders, als sie sich das vorgestellt hat, „es gibt kurze anarchische Momente, wenn man schreibt, aber die nichtanarchischen Momente sind viel größer.“
Auch wenn sie sich diese Disproportionalität nicht vorgestellt hat, Tanja Dückers macht gerne Lesungen, „das ist mein Beruf“. Sie reist von Flensburg nach München, weiter nach Stuttgart. Pflegt Freundschaften zu Leuten in Hamburg und Köln. Nur manchmal ist ihr das Reisen nicht nur Eindruck, Spannung, sondern auch eine zu hohe Stimulation, eine Überreizung.
Nach dem Studium hat sie bei der Post Schichten geschoben, Nachtdienst im Postamt 11. Dann hat sie bei der Deutsche Welle Wettersymbole in die Nachrichten eingegeben. „Ich habe gerne Wölkchen gesetzt.“ Sagt sie und plötzlich schweben all die aufgezählten Himmelskörper ihres Romans am Sommerhimmel vorbei, aha – daher weht der Wind! Nein, das Interesse für Astronomie und Meteorologie entstand bei ihr schon vor langer Zeit, erklärt sie: „Ich war nicht gut im Rechnen, und die Fragen, die ich gestellt habe, wurden nicht beantwortet. Ich glaube, die Schule war nicht der geeignete Ort für mich …“

Man mag es ihr glauben, wenn sie solche Sätze sagt. Die Silberlügenaale, da sind sie wieder. Wie die Universität für sie war? „Die FU, ein herrlicher Massenauflauf!“ Sie habe vor sich hinstudiert, lange studiert, man konnte sich in aller Ruhe Themen raussuchen, für sich wursteln … Tanja Dückers wurstelte sich bis zu einem glänzenden Abschluss durch die Germanistik und Amerikanistik. Und lebte acht Monate in Amsterdam, machte Reisen, schloß Freundschaften.

Rein zeitlich habe sie nie so viel geschrieben wie damals. Das Leben war entschlackter. Sie hat sechs Stunden am Tag gearbeitet, „mit Leidenschaft!“ In Neukölln, wo sie lange wohnte, stampfte sie stundenlang Gedichte in den Schnee, auf der Wiese hinter einem Friedhof. Als sie das am nächsten Morgen fotografieren wollte, war alles geschmolzen.
Geblieben sind die verlegten Gedichte. Ihr erster Band erschien im BonsaiVerlag, er war „altersgemäss“, sagt Tanja Dückers heute. Dass sie bisher mehr Zeit mit Lyrik verbracht hat, wird in den Medien nicht so wahrgenommen, wie es ihr lieb wäre. Ihr 1999 erschienener Roman „Spielzone“ war dann auch kein Debüt, sondern ihr drittes Buch. 2001 folgte mit „Café Brazil“ ein Erzählungsband, der wie „Spielzone“ wohlwollend aufgenommen wurde. Aber Tanja Dückers wurde in eine Schublade gestopft, in der sie sich nicht einleben wollte. Das Fräuleinwunder, die Berliner Szeneschriftstellerin, die Popliteratin.

Ihr Roman „Himmelskörper“ durchbricht diese an sich waghalsige Etikettierung. „Natürlich hat es da auch Leute gegeben, die fanden, das ich nicht über so was schreiben sollte, weil meine Generation zu weit weg ist, blablabla. Aber genau das wollte ich eben, über ein politisches Thema schreiben, um dieses Feld auch zu besetzen, und sich nicht freiwillig in die Spaßecke zu begeben, die einem von oben zugewiesen wird!“

Das klingt entschlossen und distanziert zugleich. Wie die Hauptfiguren des Romans, Paul und Freia, geschaffen sind. Tanja Dückers wollte den Zugang zur Geschichte in zwei Facetten spalten, den rational naturwissenschaftlichen durch die Meteorologin Freia und den irrational künstlerischen durch den Maler und Künstler Paul. Sie funktionieren perfekt zusammen, könnten eigentlich ohne die Außenwelt existieren. Gibt es da autobiografische Erfahrungen? Sicher, Dückers erzählt von ihrer frühen Begeisterung für Thomas Manns Wälsungenblut. Ihr Bruder, der Afrikawissenschaftler und Musiker, zählt nur zwei Lebensjahre weniger als die Autorin. Vieles speist sich aus der verschworen verbrachten Einigkeit der Kindertage. Inzwischen seien sie befreundet, aber zwischen sechzehn und zweiundzwanzig habe es eine Zeit gegeben, wo weder sie noch ihr Bruder eine längere Beziehung hatten. Sie fand den Bruder am spannendsten. Er war mutig angezogen, „wir waren ein tolles Paar“. Es fehlte nur die erotische Komponente.

Und Freia? Im Roman trägt die junge Frau eine Glatze und Männerkleidung. „Ich hatte nie ne Glatze, aber war gern so männlich angezogen, Krawatten und so, und ich kann verstehen, wieso Frauen Glatze tragen.“
Im Roman „Himmelskörper“ wird Paul immer für Freia da sein, wenn sie in der Geschichte gräbt, sie erzählt, er malt dazu. Das ist für Tanja Dückers eine Möglichkeit, mit der Vergangenheit umzugehen. Sie sich anzueignen, um sich dann davon zu trennen. Sie zu bewältigen. „Aneignung beinhaltet Kenntnis der Faktenlage, präzises emotionales Wissen und ihr Verfremden in Kunstwerken,“ sagt sie und gerade, als man den Eindruck gewinnt, einer perfekten Autorin mit der perfekten Geschichte und druckreifen Statements gegenüber zu sitzen, leuchten Zweifel durch. „Einiges ist nicht gelungen, das habe ich bei Lesungen bemerkt.“
Dazu lächelt Tanja Dückers wieder freundlich und schaukelt ein wenig mit den übereinander geschlagenen Beinen. Die Rückblenden seien zu kompliziert, zu viele Figuren, der Roman sei zu weit angelegt.

Drei Jahre hat die Schriftstellerin an diesem Buch gearbeitet. Zwischendrin schrieb sie Lyrik, Artikel, nahm ein Stipendium in Los Angeles wahr und änderte ihren Kurs. Als die Novelle „Krebsgang“ von Günter Grass erschien, die sich mit dem Untergang der Wilhelm Gustloff beschäftigt, nahm Dückers ihr erstes Kapitel aus dem Buch. Es hatte sich mehr auf das Schiff und seine Konstruktion konzentriert.
Jetzt stehen die Menschen im Vordergrund. Am Ende des Buches scheitert Renate, die Mutter der Ich-Erzählerin. Warum lässt die Autorin diese weiche Frau, die ihr ganzes (Roman)Leben über im Hintergrund steht und leidet, am Ende Suizid begehen? „Weil der Leser solch eine Figur am wenigsten für schuldig hält, da ist der Überraschungseffekt am größten!“

Tanja Dückers entwickelt eine interessante Theorie. Die Generation in der Mitte, die 68er-Generation, ist demnach die Gefährdetste. Die Großeltern und die Enkel finden eine Art von innerem Gleichgewicht, meint Dückers, und können somit überleben. „Die Großeltern, indem sie radikal verdrängen und ihre vollgestopften Keller haben und ansonsten sich ihre immer gleichen rituellen Legenden erzählen und sich eingerichtet haben. Und dann gibt es die Enkel, die einfach genug historische Distanz haben, um sich das anzueignen, ohne daran zu zerbrechen. Und die in der Mitte sind die, die eigentlich auch stark involviert sind, aber weder so verdrängen können, noch so einen Abstand haben.“
Kasimir, Renates polnischer Cousin, und Renate bringen sich um, sie sind beide Vertreter der historisch bewussten Mittelgeneration. Sie überleben das nicht, weil sie zu nahe dran sind, „aber gleichzeitig nicht der Generation angehören, die einfach so selbstverständlich mit Vaterlandsbegriffen aufgewachsen ist, dass sie gut damit leben können, dass sie im Krieg waren und jede Menge Leute abgeknallt haben.“
Der Großvater des Romans zum Beispiel, der sei nicht ernsthaft erschüttert davon, der erzählt über die Juden auch nicht anders als vor fünfzig Jahren, sein Weltbild ist intakt. „Und die Enkel haben die Postmoderne, reisen ständig. Die haben einen so aufgelösten Begriff von Heimat, Vaterland, Geschichte, dass die wiederum freier sind und die mittlere Generation ist noch verhaftet in all dem und stellt unbequeme Fragen, sieht sich selbst als nicht so immun, wie die Großeltern das noch getan haben. Deshalb halte ich die für am verwundbarsten.“

Tanja Dückers glaubt, die 68er-Generation sei in ihrer Väteranklage stecken geblieben, und „ist in einem Halbprotest erstickt.“ Sie wollte die fragile Position dieser Generation zwischen den Stühlen darstellen. Aber warum so zugespitzt, gibt es da Momente, die selbst erlebt sind?

„Wie immer ist es so, dass eine Sache nicht unbedingt passiert sein muss, um sie zu beschreiben, … meine Mutter war früher sehr depressiv.“
Stockend und leise erzählt Tanja Dückers, wie sich die beiden besten Freundinnen der Mutter das Leben nahmen. Als sie alle drei neunzehn Jahre alt waren. „Das ist eine hammerharte Geschichte, und ein Jahr später hat sich ihr Lieblingscousin umgebracht. Mein Onkel. Und deswegen …“
Es wird klar, das hat ihre Mutter verändert. Sie war jahrelang absolut selbstmordgefährdet.
„Sie hatte diese Vorlagen“, sagt Dückers und erzählt, wie ihre Mutter diese Zeit der Depressionen überwunden, für sich umgestaltet hat. Sie singt heute im Chor, hat ganz viele Freunde, ist viel in Polen unterwegs, kommt gut mit dem Vater zurecht. „Ich habe den Roman so laufen lassen, wie es auch hätte sein können.“

Bizarre Wolkenformationen ziehen über Berlin und Tanja Dückers sieht ihnen aufmerksam hinterher. Blinzelnd. Sie hat einen großen Schritt gewagt. Wir erwarten weitere.