Peter Richter hat, ausgehend von der eigenen Biografie, die ihn 1993 von Dresden elbabwärts nach Hamburg verschlagen hat, ein west-östliches Befindlichkeitsbuch geschrieben. Er kam, wie sein Titelgeber Helmut Kohl, in den Genuss der »Gnade der späten Geburt«, als Jahrgang 1973 konnte er nicht mehr als IM angeworben oder in ein Stasi-Wachregiment einberufen werden, war also bestimmten Zwängen nicht ausgesetzt, und nur deshalb kann er so angriffslustig schreiben, wie er es eben tut.
Beispiel: Den Solidaritätszuschlag interpretiert er nicht nur als Obolus zugunsten der deutschen Einheit, sondern mittelbar auch als eine Konsequenz der Teilung und damit letztendlich des Krieges: »Und wenn ich von den Gewinnlern dieses Krieges«, also den Westdeutschen, »weiterhin immer wieder vorwurfsvoll auf den Solidaritätszuschlag angesprochen werde, dann kann es eines Tages passieren, dass ich mal ausschließlich den zweiten Teil des Wortes beherzige.« Überhaupt wird da wunschhalber und natürlich ironisierend zugehauen, zugeschlagen und gesprengt, werden Leute umgehauen oder von einer Empore geworfen.
Richter scheut sich nicht vor derlei Pointen, ist also unterhaltungswillig. Stilistisch ist ihm unterhaltsames Popfeuilleton gelungen, wenn man das noch so nennen darf. Er fällt Urteilssätze wie einst das Tristesse-Royale-Quintett, zum Beispiel, wenn es um die städtische Graffittiplage geht: »Von mir aus kann alles, was in Deutschland rumsteht, besprüht werden«, ist sein Patentrezept gegen die Eintönigkeit der kalten Hamburger Büroparks und geweißelten Villen. Von der Grafittiaktion ausnehmen würde er »vielleicht ganz wertvolle historische Sehenswürdigkeiten. Aber davon hat ja Hamburg so gut wie keine.«
Darüber hinaus schmückt sich Richter mit den Insignien einer jugendlichen Provokultur, bekennt sich zu den Böhsen Onkelz, zu Rammstein, Suicide und Cock Sparrer und trägt fleißig Doc Martens, Springerstiefel und Bomberjacke. Auf der anderen Seite hagelt es Schmähworte gegen Barbour, Nike und Prada. Das Ostkid hat die Westkodes zwar verstanden, will aber nicht mitmachen. Als Gegenentwurf zu Robinsons anpassungswilligem Ziehsohn Freitag sucht sich Richter Fragmente einer Dagegen-Kultur zusammen.
Der Wende-Teenager hat sich jedenfalls im Nachhinein nicht so einfach zum Grundgesetz beitreten lassen und tritt neben dem grünen Pfeil auch noch für andere DDR-Produkte ein, zum Beispiel den Händedruck unter Freunden. Das Plädoyer für den Handschlag statt der Begrüßungsbussis ist allerdings beliebig und zielt, wie gesagt, vor allem auf schlagende Pointen. Ähnlich verfährt Richter, wenn er von der WG-Suche rund um St. Pauli und das Schanzenviertel berichtet. Die Ausfälle gegen die so wahrscheinlich gar nicht mehr existente Müsli- und Jutebeutelfraktion mehren sich, nach einem Negativerlebnis mit einem Hochbett-Fan scherzt er: »Das war das erste Mal, dass ich daran dachte, vielleicht doch lieber Nazi zu werden.« Da sackt allen, die nicht durch die Harald-Schmidt-Schule gegangen sind, erst einmal die Kinnlade auf den Boden.
Richters Stärke ist das anekdotische Erzählen. Die zahlreichen Exkurse halten zum Beispiel das Phänomen fest, dass jeder ostdeutsche Russischlerner nur noch das eine Wort für Sehenswürdigkeiten, nämlich Dostoprimitschatjelnosti kennt. Auf jeder Lesung in Ostdeutschland ein Kracher, Wiedererkennung ist Trumpf. Auch das Statuieren einer »Großen Ostdeutschen Kollektivkleptomanie« ist Richter gelungen, gemeint sind die Raubzüge ostdeutscher Jugendlicher in den ersten Nachwendejahren, bei denen man praktisch nicht erwischt werden konnte.
Die Geschichte der kolumbianischen Rotlichtexistenz Darlin bringt Richter um zu zeigen, dass »damals die Fremdheit der Ostdeutschen und der Ausländer in einer Stadt wie Hamburg sehr ähnlich aussehen konnte«, wie er im Interview mit der FAS bemerkt. »Damals«, sagt er in seinem Buch bezieht sich dieses »Damals« vorrangig auf das Jahrzehnt nach der Wende, seine Berichte sind also nicht unbedingt als Bestandsaufnahme zu werten. Richters deutsch-deutsche »Heimatkunde« ist reich an Facetten, aber lange nicht erschöpfend. Er könnte immer weiter machen mit seinen Geschichten aus der BRDDR und tut das auch gerade aller 14 Tage als Kolumnenschreiber im Feuilleton der FAS. Die Kurzform liegt ihm fast noch besser, wie auch seine Beiträge für »Hier spricht Berlin« beweisen, eine bei Kiepenheuer & Witsch erschienene Sammlung mit Anti-Berlin-Feuilletons.