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September 2004

Thomas Meinecke:
Musik

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2004

Thomas Meinecke: Musik

372 Seiten, geb.,
19,80 Euro
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Interview mit Thomas Meinecke, geführt von Marko Hild

Thomas Meinecke: Musik

Anverwandlung an den kontingenten Text:
Thomas Meineckes neues Buch ist kein Roman im
engeren Sinne. Dafür erfreut es auf andere Weise.




Thomas Meinecke (Foto von Claudia Mucha)
Thomas Meinecke
Foto: Claudia Mucha

Während die Autorin Kandis (Anspielung auf den Kölner DJ gleichen Namens?) in einer einsamen Blockhütte in den Bergen sitzt und an ihrem Buchprojekt arbeitet, das die Lebensläufe von Ludwig I., Lola Montez, Ludwig II., Clara Bow, Ruby Keeler, Leonard Bernstein und Claudia Schiffer vereinen soll (unter anderem, weil Kandis mit all diesen Figuren der Weltgeschichte das Geburtsdatum teilt), schreibt ihr Bruder Karol, im Hauptberuf Flugbegleiter, sein erstes Buch über "Rekontextualiserungen, Umkodierungen, Resignifizierungen in der Geschichte der US-amerikanischen Popmusik". Die beiden lesen eine Menge, tauschen sich gegenseitig aus, geben sich Lektüreempfehlungen. Dabei geht es um die Themen anatomisches und soziales Geschlecht, sexuelles Begehren und die Wechselwirkungen aus denselben. Aus diesem Plot besteht im großen und ganzen "Musik", der neue Roman des Schriftstellers und Musikers Thomas Meinecke. Musik ist im Buch allgegenwärtig.

"Musik" hat einige Schwachstellen: Was hat Meinecke eigentlich geritten, einen Großteil der Protagonisten zu Flugbegleitern zu machen? Es ist reichlich befremdlich, ausgerechnet Stewardessen akademisch gebildet über Genderfragen und philosophische Theorien reden zu hören. Es wirkt unrealistisch, wenn selbst der schwule Kollege bei den zahlreichen Zusammenkünften in diversen Hotelzimmern der Welt ständig über den "performativen Sinn einer politischen Praxis" referiert. Nicht dass ich dafür plädiere, homosexuelle Männer sollten in Romanen nur ständig von Darkroom zu Darkroom hopsen – aber eigentlich sind wir da schon mittendrin im Thema, das "Musik" bestimmt. Denn was bedeutet schon homosexuell, und was ist überhaupt ein Mann?

"Musik" ist gar kein Roman, nicht im engeren Sinne. Eher könnte man das Buch als Google-Patchwork bezeichnen, denn die bekannte Suchmaschine wird, das unterstelle ich mal, eines der Hauptwerkzeuge Meineckes bei der Recherche gewesen sein, als Generierungsmaschine für Gedankenanekdoten. Das verschweigt Meinecke auch nicht, wenn er Kandis an zentraler Stelle sagen lässt: "Der analytische Schnitt, nennen wir ihn Querschnitt, den ich für meinen nächsten Roman angelegt habe, könnte auch von einer Suchmaschine vollzogen werden." Dagegen ist nichts einzuwenden, denn Meinecke findet immer wieder wahre Perlen an Denkanstössen. Beispielsweise fordert Felix, der erwähnte Flugbegleiter, eine explizit männliche Sexualität nur schwulen Männern zuzuschreiben – denn auch heterosexuelle Männer seien eigentlich lesbisch orientiert. Oder die Ausführungen zur Entstehung des Begriffes "heterosexuell", der Mitte des 19. Jahrhunderts noch ausschließlich für Personen gebraucht wurde, die Sex zum Selbstzweck und ohne Fortpflanzungswunsch hatten – womit der Ursprung des Begriffs eine "Perversion" beschrieb. Oder ein Ausspruch Arnold Schwarzeneggers aus seinem kalifornischen Wahlkampf, ein Ausspruch, der sich dankenswerterweise gleich selbst ad absurdum führt: "Ich glaube, daß die Schwulen-Ehe etwas ist, das einem Mann und einer Frau vorbehalten sein sollte." In der Auffindung und Choreographie solcher verbaler Bruchstücke ist Meinecke meisterhaft.

Mit "Musik" bleibt sich Meinecke seinem bevorzugten Stil der polyphonen Erzählung treu. Manchmal merkt man erst am Ende einer Seite, dass die Erzählperspektive ja bereits wieder gewechselt hat. Zudem wird der Leseprozess absichtlich erschwert, wird die Formung der Gedanken sichtbar gemacht, zum Beispiel wenn Kandis ausführlich aus Nietzsches Tagebüchern zitiert und dabei die Satzzeichen und Unterstreichungen als in Druckbuchstaben übersetztes Faksimile ausgeschrieben im Text stehen. "Ich lasse es auch zu, wenn Dinge durch Mißverständnisse, und seien es, wie bei einer Suchmaschine, digitale, also abstrakte, auf produktive Weise zusammengeraten. Mit dem Stiften von Sinn hat das wenig zu tun. Sinn ist für mich, in diesem Sinn, ein negativ besetzter Begriff", sagt Kandis. Man darf sie hier getrost als Sprachrohr von Thomas Meinecke lesen. "Was ist das eigentlich für eine Instanz, frage ich mich, nackt, beim Blick in den Badezimmerspiegel, die den Fluß meiner Gedanken ordnen will? Sich manchmal sogar herausnimmt, zu bestimmen: Hier wird jetzt nicht weitergedacht. Und das auch dann auch durchzusetzen vermag." Das, so antwortet man dann, plötzlich verstehend, ist die Erzählinstanz dieses Buches, an den Zufall abgegeben, das Sinnlose zulassend, eine Kontingenz des Textes stiftend.