Paul Auster:
Nacht des Orakels
Nach vielen Jahren, in denen sich Paul Auster eher auf Drehbücher, Filme und Sachbücher spezialisierte und nur zwei (eher bodenständige als herausragende) Romane veröffentlichte (1994: Mr. Vertigo, 1999: Timbuktu) hat der New Yorker Schriftsteller nach The Book of Illusions (2002) gleich noch einen zweiten Instant-Klassiker hinterhergeliefert, der seinen Ruf als lesenswerten und innovativen Romanautor wieder festigt.
Sydney Orr ist dem Tod gerade mal so von der Schaufel gehüpft, und auf seinen vorsichtigen Wanderungen durch die Stadt findet er ein chinesisches Papiergeschäft ("Paper Palace"), in dem er ein in Portugal gefertigtes blaues Notizbuch ersteht, das den seit seiner Krankheit nicht mehr tätigen Schriftsteller zu neuen Kreativschüben inspiriert. Angespornt von seinem Mentor John Trause und ausgehend von einer kleinen Episode in Dashiell Hammetts The Maltese Falcon schreibt er die Geschichte eines Mannes namens Nick Bowen nieder, der bei einem Spaziergang beinahe erschlagen worden wäre, und der nach diesem Wink des Schicksals kurzentschlossen ein neues Leben beginnt - u.a. fernab seiner zurückgelassenen Ehefrau, die ihm später nachreisen wird. Ein wichtiger Bestandteil dieses Romans im Roman ist auch ein Roman aus dem Nachlaß einer längst verstorbenen Autorin, den deren Großtochter Rosa Leightman dem Lektoren Bowen vorlegt - woraufhin sich dieser augenblicklich in Rosa verliebt.
Dieser Roman im Roman im Roman heißt Oracle Night (den Inhalt werde ich hier nicht wiedergeben), und zunächst erscheint es so, als verliere sich Auster (oder sein Erzähler Sydney) in diversen Narrativen, wozu sich dann auch noch das Treatment einer freien Drehbuch-Adaption von H. G. Wells’ The Time Machine gesellt, die Sydney noch "nebenbei" ersinnt, um etwas gegen seine Geldschwierigkeiten zu unternehmen.
Auster, der mal eine Sammlung von kleineren Texten unter dem Titel The Red Notebook bei faber and faber veröffentlichte, macht das blaue Notizbuch zum Kern seines Romans, in dem das Schreiben teilweise auf eine Stufe mit dem Erschaffen von Leben gestellt wird, und in dem ein vernichtetes (oder auch nur erstelltes) Schriftstück wie eine Abtreibung oder ein Mord erscheinen kann.
Ein besonderer Reiz des Buches ist es, wie sich Auster aus narrativen Sackgassen befreit, indem er diese einfach zum Thema seines Romans macht. Nicht jede Geschichte wird zu Ende erzählt, und selbst das Happy End des Buches könnte man ohne Problem auch als eine am günstigsten Moment abgebrochene Narration interpretieren.
"Ten minutes later, I was out on the street again,
walking toward the hospital to see Grace."
Das Kunststück, einige Handlungsfäden in typisch Austerscher Manier zusammenzuführen, Parallelen zwischen unterschiedlichsten Handlungsebenen aufzubauen, und den Roman ganz nebenbei auch noch durch diverse Fußnoten um eine weitere Ebene zu erweitern, gelingt Auster ebensosehr wie die psychologische Ausformulierung seiner Figuren, allen voran der des Erzählers. Der aufmerksame Leser merkt beispielsweise schon früh, was im Leben von Sydney Orr aus dem Ruder geraten ist, während jener völlig blind für Aspekte seines Lebens zu sein scheint, sich aber unterbewusst in seinen Schriften genau darauf bezieht.
Auch wenn Oracle Night in vielen Facetten auf typischen Auster-Themen aufbaut, und man sich mehrfach an seine gelungensten Frühwerke wie City of Glass oder Moon Palace erinnert fühlt, kommt diesmal auch ein neues, sehr attraktives Element dazu, denn das blaue Notizbuch scheint magische Fähigkeiten zu haben, und wie in einem Roman von Jonathan Carroll erscheint es lange Zeit, als verliere sich unser Erzähler in einem übernatürlichen Fluch, den die neugewonnene Kreativität mit sich bringt.
Oracle Night verbindet dermaßen viele gute Ideen auf kongeniale Weise, daß es eine wahre Freude ist, dieses immer wieder überraschende Buch zu lesen. Selbst der auf ein, zwei Seiten angerissene Plot von Sydneys Time Machine würde wahrscheinlich vielen Autoren (nicht nur in Hollywood) wie ein Gottesgeschenk erscheinen, während Auster die spannende Liebesgeschichte um zwei Zeitreisende aus Zukunft und Vergangenheit, die sich Ende November 1963 in Dallas treffen und Lee Harvey Oswald davon abhalten, seinen Platz in den Geschichtsbüchern einzunehmen, wie ein Abfallprodukt behandelt - wo doch jede Seite von Oracle Night Teil des Meisterwerks um die Höhen und Tiefen des literarischen wie biologischen Schöpfungsaktes ist.