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April 2005 | Lothar Glauch für satt.org |
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| Silke Andrea Schuemmer: Remas Haus
Von Engelsflügeln und anderem Weiß
Der Surrealismus lebt, zumindest in Silke Andrea Schuemmers Roman "Remas Haus". Die Berliner Autorin zeichnet eine ebenso sinnliche wie apokalyptische Welt, in der poetische Absurditäten die Regel sind. Ich fühlte mich bei der Lektüre unwillkürlich an "Der Schaum der Tage" erinnert. Während Boris Vian die Seerose als zentrales Symbol für das langsame Sterben verwendet, wählt Silke Andrea Schuemmer das Weiße, die Milch, die Engelsflügel, um die morbiden Szenerien ihres poetischen Romans zu konterkarieren. Die Geschichte, die in "Remas Haus" erzählt wird, ist ihrer Narration nach wenig romanhaft. Schuemmer bevorzugt das Assoziationsgeflecht, ihre Prosa erinnert an die Werke von Herta Müller, Elfriede Jelinek oder Marion Poschmann: Die Handlung tritt hinter das Behandelte zurück, das Wie ist entscheidender als das Was. Schuemmer zeichnet gewaltige Bilder, bringt Träume und Phantasmagorien zum Blühen. Wem an Poesie und purem Sprachklang gelegen ist, kommt bei der Lektüre voll auf seine Kosten. Zugegeben, die Autorin entscheidet sich gegen die Entwicklung eines Spannungsbogens – aber dennoch wird das Buch nie langweilig. Was daran liegen mag, dass Schuemmer nicht mit wild wuchernden Assoziationen arbeitet, wie es so viele Autoren des stream of conciousness versucht haben. Nein, Schuemmer bevormundet nicht, sie gibt nur Hinweise. Und mit Hilfe postmoderner Finten in der Narration gelingt es ihr immer wieder, die Erwartungshaltung des Lesers zu durchbrechen und neue Horizonte zu öffnen. So entsteht ein eigenwilliger Wortparcours, in dem der Leser sich ständig neue Wege suchen muss, um an sein Ziel zu gelangen. Bereits der Eingang in dieses Textlabyrinth ist furios: "Damit Sie mich richtig verstehen: Nicht nur die Möbel aus den unteren Stockwerken habe ich verbrannt, sondern den gesamten unteren Teil des Hauses. Außer einer morschen Stiege, die mich nicht mehr trägt, weil mein Kopf täglich schwerer zwischen die Schultern sinkt, ist nichts mehr übrig von dem Fundament, den Mauern oder Fluren. Es gibt nur noch mein Zimmer mit dem Fenster und eine halb verrottete, halb verbrannte Treppe." Der Ich-Erzähler lebt in seiner Ruine wie auf Abruf, hängt irgendwo zwischen Himmel und Erde. Und während in Vians "Schaum der Tage" die Bedrohung von innen kommt (hier ist es eine Seerose, die in der Lunge der Lungenkranken wächst, bis sie ihn tötet), kommt in "Remas Haus" die Bedrohung von außen. Und auch in diesem Fall hat das Opfer keine Chance: Früher oder später wird die Ruine ihn in den Tod reißen. Einzig die leichtgewichtigen Straßenmädchen ("leichte Mädchen" im wahrsten Wortsinn!) trauen sich die morsche Stiege hinauf und leisten dem Vereinsamten Gesellschaft. Sie sind es auch, die seine Briefe mitnehmen. Und diese Briefe nun richten sich direkt an den Leser. Er skizzierte seine Stadt derart grotesk, dass man in ihr eine Parabel für die ganze Welt ausmachen kann: Eine Welt, deren Zerstörung schon vor längerer Zeit stattgefunden hat, eine Welt, in der sich das Chaos längst als neues Ordnungssystem etabliert hat. Aber Schuemmer vermeidet es, Trübsal zu blasen. Ihr Ich-Erzähler gibt sich im Gestus wunderbar lakonisch oder verschmilzt. Die Welt als einen unbegreifbares, nachzivilisatorisches Ruinenlabyrinth zu skizzieren, gewinnt an Attraktivität. Georg Klein etwa lässt in seinen Werken Bezugssysteme, Narration und Handlungsträger durcheinander wirbeln. Wie auf satt.org schon berichtet wurde, gibt sich sein neues Buch "Die Sonne scheint uns" ebenfalls diesem wundersamen Chaos hin, in dem die Charaktere noch als Fragmente zu erkennen sind, als verdinglichte Spielfiguren in der Hand eines anarchischen Gottes. Oder Alban Nikolai Herbst. Der Berliner Autor hat in seiner Anderswelt-Trilogie die mäandrischen Formen des Erzählens ebenfalls auf die Spitze getrieben. Er orientiert die Handlung nicht mehr an den Romanfiguren. Das Technik-System selbst rückt in den Mittelpunkt, die Erzählperspektive wird panoptisch eingesetzt, wie aus der Perspektive von den tausend Augen des Argos: Womit er ein verwirrendes, labyrinthisches und apokalyptisch anmutendes Szenario erzeugt. Schuemmer hingegen wählt eine andere Methode, die sich als nicht minder raffiniert erweist. Die Briefe des Erzähler-Ichs richten sich direkt an den Leser. So wird der Leser mit ins Geschehen einbezogen, es werden ihm ständig neue Intimitäten offenbart. Aber hat er dieses Vertrauen eigentlich verdient? Hier muss eine Verwechslung vorliegen, meint der Leser. Und diese Frage begleitet ihn während seiner gesamten Lektüre. Wollte man eine Schwachstelle an "Remas Haus" finden, wäre es das Handlungsdefizit, die schwer erkennbare Botschaft. Doch Schuemmer tut gut daran, sich auf die Eleganz ihrer Sprache zu konzentrieren, denn gerade in der Wortfindung beweist sie ihre Virtuosität. "Remas Haus" ist eine stilistische Augenweide. Die surrealistische Traumhaftigkeit und Weltferne wird durch die leuchtende Schönheit ihrer Wendungen zum Blühen gebracht. Silke Andrea Schuemmers Buch ist wie gemacht für opulente Tagträumereien. |
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