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Mai 2005 Jan Fors
für satt.org

T. C. Boyle:
Dr. Sex

Hanser Verlag 2005

T. C. Boyle: Dr. Sex

472 S., Hc, 24,90 €
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satt.org-Link:
Rezension zu "Dr. Sex" (7.2005)

Protokoll eines vorurteilsfreien Abends
T.C. Boyle liest in Köln aus "Dr. Sex"

Bevor die Besucher der Lesung von T.C. Boyle ein Wort aus dessen Mund oder Buch gehört haben, werden sie vom Veranstalter Werner Köhler und bald darauf von Moderator David Eisermann darauf hingewiesen, daß der Autor im Anschluß an die Lesung gerne signieren wird. Und auch Jan Joseph Liefers wird sein "tolles, fettes Hörbuch" (Eisermann) mit einem Autogramm versehen. Daß Liefers überhaupt auf der Bühne sitzt, ist pures Glück: beinahe hätte man ihn, verrät Eisermann, auf der Toilette vergessen.



T. C. Boyle
T.C. Boyle
Foto: Max Groenert


T.C. Boyle versichert den rund 500 Besuchern im Kölner E-Werk, daß die Kölner das beste Publikum seien, das er bei seinen vielen Deutschlandauftritten kennengelernt habe, woraufhin Eisermann darauf verweist, daß "Düsseldorf-bashing" in Köln Tradition habe, und morgen dort, in Düsseldorf, die nächste Lesung anstehe. Es wird auf Englisch weitergeplaudert; Liefers fragt, ob es okay sei, wenn nicht übersetzt wird, ein Zuschauer klatscht, es ist also okay.

Eisermann fragt nach den Erfahrungen beim Aufnehmen von Hörbüchern. Boyle nimmt gern Hörbücher auf, nicht zuletzt, weil dadurch seine Stimme für spätere Generationen konserviert wird. Er hat nicht bei jedem Buch Zeit, selbst das Hörbuch einzusprechen, aber für seinen nächsten Kurzgeschichtenband, der im September in den USA erscheint, ist der Vertrag schon unterzeichnet. Er hört aber auch gern zu, wenn seine Übersetzungen gelesen werden, weil er dann den Rhythmus der anderen Sprache und der Übersetzung genießen und versuchen kann, das Gehörte zu verstehen.

Auch Liefers mag die Arbeit an Hörbüchern und ist überhaupt das Vorlesen von Zuhause gewohnt, denn: "My children can’t read." Eisermann: "Because they are too small." "Yes." Das Publikum lacht. Aber die Arbeit im Studio mache auch Spaß, weil die Tontechniker und alle anderen Beteiligten spontan auf den Vortrag reagieren. So habe man 30 Minuten über die richtige Aussprache des Wortes "Klitoris" diskutiert.

Eisermann: Shall we translate the word for Tom? The German word for ‘clitoris’?
( …)
Eisermann: Would you like to say it, Jan?
Liefers: Maybe somebody from the audience?
( …)
Eisermann: There is a German word for ‘clitoris’ …
( …)
Schließlich nimmt Eisermann das Wort "Kitzler" in den Mund.


Jan Joseph Liefers
Jan Joseph Liefers
Foto: Max Groenert


Bald darauf weiß er, warum Liefers und Boyle so gut harmonieren. Weil beide in ihrem Herzen "Rockmusiker" sind. Das bestätigt Liefers. "Music is a universal language. You don’t need much words. It takes the way straight to the heart."

Boyle leitet in die Lesung ein, steht dazu auf. Steht ohne Tisch oder Pult vor einem Mikro. Er spricht über die Hauptfigur des Romans "Dr. Sex"; Prof. Alfred C. Kinsey, den weltberühmten Sexualforscher, der mit seinen beiden Bücher "Das sexuelle Verhalten des Mannes" und "Das sexuelle Verhalten der Frau" den größten Beitrag zur Normalisierung der Sexbeziehungen geleistet hat, indem er mittels Statistiken, die auf der Befragung von 18.000 Menschen (Kinsey sprach gern vom "Menschlichen Tier" – "the human animal") basierten, die ganze Breite menschlichen Sexualverhaltens zeigte. Boyle war daran gelegen, daß das Cover des Buches – anders als das des Vorgängers "Drop City" – keine Nackten zeige. Er wollte ein Foto aus den 1950ern mit einem sich leidenschaftlich küssendem Paar, auf dem der Mann seine Hand auf das Knie der Frau legt. Ein solches Foto wurde gefunden. Boyle hält das Buch dem Publikum entgegen.

Die wichtigsten Quellen von "Dr. Sex", das im Original "The Inner Circle" heißt, waren neue Biographien über Kinsey und seine Gruppe, in denen sich "deviant, but wonderfull stuff" fand. Eben das, was sich hinter der Fassade des darwinistisch-kalten Kinseys verbarg, der angetreten war, um die "mechanics of love" zu zeigen, die die Dichter in 2000 Jahren Beschäftigung mit der Liebe nicht beschrieben hätten. Um den Widerspruch zwischen romantischem Liebesideal und mechanistischer Vorstellung zu illustrieren, hat Boyle dem Buch zwei Motti vorangestellt: ein romantisches von Shakespeare und ein darwinistisches von Kinsey. Boyle liest beide Motti; die Lesung hat begonnen.

Boyle hält das Buch in der einen Hand, gestikuliert ab und zu mit der anderen. So bekommt sein Vortrag den Charakter einer Theaterprobe. Boyle wirkt – in seinen schwarzen Hosen, dem schwarzen, offenen Hemd, das er über einem schwarz-weißen T-Shirt mit einem Tiger-Motiv (?) trägt, dazu schwarz-weiß karierte Turnschuhe, rötliches Haar mit einer blonden Strähne – wie ein Punk-Hamlet.

John Milk, der Erzähler des Buches, ist im Prolog, aus dem gelesen wird, 21 Jahre alt, hat keinerlei Erfahrungen mit Sex. Eine Kommilitonin, die er kaum kennt, fragt ihn, ob er bereit wäre, sich als ihr Verlobter auszugeben, um gemeinsam an dem berühmt-berüchtigten "Ehekurs" von Kinsey teilzunehmen. Milk willigt ein. Der Prolog schildert den Ablauf einiger Vorlesungen Kinseys, der ohne Scham über die menschlichen Geschlechtsorgane und ihre Funktion sprach und Bilder von ihnen zeigte.

Boyles Art, den Text zu lesen, läßt Milk als schüchternen, unsicheren, über die Welt verwunderten Menschen erscheinen. Boyle erhöht das Lesetempo immer dann, wenn von Dingen die Rede ist, deren Milk sich sicher ist, die konventionell sind. Sobald von etwas Prekärem, Sexuellen die Rede ist, liest er stockend, um Milks Unsicherheit auszudrücken. Wenn er darstellen will, daß Milk dem Leser etwas gesteht, senkt Boyle die Stimme. Er hebt sie immer dann, wenn er eine Frauenstimme imitieren will. Liefers liest dagegen ironisch, versucht in allen Sätzen Pointen zu betonen, Witziges herauszuheben.

Nach knapp 30 Minuten ist die Lesung vorbei, die, so David Eisermann, "wonderful" war. Boyle schlägt vor, noch lange weiterzulesen, das ganze Buch, zumindest alle schmutzigen Stellen. Liefers ist einverstanden, zumal sich Boyle angeblich alle guten Stellen im Text zum Vorlesen vorbehalten hat.

Das Gespräch geht weiter: Was hat Boyle an Kinsey interessiert? Sein kalter Darwinismus, der das Schöne ausblendet – wohingegen Boyle mit einem Blick ins Publikum erkennt: "We have a physical attractive crowd tonight". Darüber hinaus natürlich wie immer andere große Fragen, die er aber in seinem nächsten Buch allesamt beantworten werde.

Boyle erzählt weitere Episoden über Kinsey. Über seine Fähigkeit, Menschen dazu zu bringen, die intimsten Details ihres Sexlebens preiszugeben. Über Kinseys Charisma, das jedoch z.B. in Fernsehinterviews aus der Zeit kaum zu erkennen ist. (Die Sexfilme, in denen er und seine Mitarbeiter selbst agieren, sind nicht zugänglich.) Über die Erzählperspektive des unerfahrenden John Milk, die verdeutlichen soll, daß auch wir, die von Kinseys Arbeit profitiert haben und die wir in einer Zeit frei zugänglicher Pornographie leben, trotzdem unsicher sind, wenn es um Sexualität, um eigene Liebeserfahrungen geht.

Kinseys herausragende Eigenschaft war es, vorurteilsfrei und wertneutral jeder Form von sexueller Neigung begegnen zu können. Eine Haltung, die Boyle sich von der derzeitigen US-Regierung wünschen würde. Eigentlich möchte er nicht über Politik sprechen, aber es habe – er wisse nicht, ob man es hierzulande mitbekommen hätte – einen rechten Putsch in den USA gegeben; das derzeitige Klima erinnere an die rigide Zeit der 1950er Jahre. Nein, er wolle nicht über Politik sprechen, er hätte bei seinem letzten Besuch in Deutschland noch die Hoffnung geäußert, daß Bush die Wahl verliere. Aber man müsse sich wohl damit abfinden, daß nach diesem Bush sein Bruder für acht Jahre ins Amt käme und dann nochmal George Bush senior, weil der bisher nur eine Amtszeit hatte. Spaß beiseite: Wahlentscheidend sei u.a. gewesen, daß Bush sich der radikalen Rechten angenähert und sich deren Forderung nach einem Verbot der Abtreibung und der Homosexuellen-Ehe zu eigen gemacht habe. Aber jetzt solle man wirklich das Thema wechseln.

David Eisermann stellt fest, daß er zum ersten Mal bei einer Veranstaltung auftritt, die von der Frauenzeitschrift "Brigitte" gesponsert wird – "Elke Heidenreich sollte eigentlich hier sitzen." Welche Rolle Frauen als Leser spielen, will er wissen? Liefers erklärt, daß Frauen der Schlüssel zu jeder Art von Erfolg sind. Das Publikum reagiert mit Lachen und Applaus. Er, Liefers, sei mit starken Frauen – seiner Großmutter und seiner Mutter – aufgewachsen, die ihn zu dem gemacht hätten, was er ist. Noch heute würde er jede wichtige Entscheidung mit einer Frau besprechen.

T.C. Boyle hat ähnliche Erfahrungen: Seine Mutter war die starke Figur in der Familie, weil der Vater früh starb. Sie arbeitete, verdiente das Geld. Doch zurück zu den weiblichen Lesern, meint Boyle: natürlich läsen sie viel mehr, denn die Männer spielen beständig an ihren Computern.

Boyle sei der fleißigste aller amerikanischer Gegenwartsautoren, findet Eisermann. Alle zwei Jahre erscheine ein Roman, dazwischen Kurzgeschichten. Und daneben unterrichte er noch als Professor für Kreatives Schreiben. Boyle ergänzt: Und er diene seiner Frau als Sex-Sklave, kümmere sich um den Haushalt, die Kinder, zahle die Rechnungen. "I’m wearing a big Superman-shirt under this shirt." Aber wie er schon in einem Essay auf seiner Homepage www.tcboyle.com erklärt habe, könne er nicht verstehen, wieso nicht viel mehr Menschen schrieben, sich an diesem Zustand des Traumes, der Meditation an der Schreibmaschine berauschen würden.

Eisermann spielt auf einen besonderen Platz an, an den Boyle sich zurückzöge, um seine Texte zu beenden. Boyle erläutert, es handle sich um einen Ort in den Bergen, 7.200 Meter hoch, an dem er schon Berglöwen und Bären begegnet sei. Die nächste Bar ist 28 Meilen entfernt, nur über eine meist verschneite Straße zu erreichen. In der Hütte wäre es zuweilen so schön und langweilig, daß er manche Romane noch schneller als geplant abgeschlossen und mit neuen Texten angefangen habe.

Letzte Frage: Worum geht es in dem neuen Buch? Boyle: Um Identitätsdiebstahl – eine zur Zeit große Sache in den USA. Hauptfigur ist eine taube Frau. Wie alle tauben Menschen erschließt sie sich die Welt nicht mittels der Sprache, sondern mittels anderer Sinne, die sie besonders entwickelt hat. Diese Frau schreibt ein Buch über ein Findelkind, das Anfang des 18. Jahrhunderts zwölfjährig im Wald gefunden wurde und nie in der Lage war, die menschliche Sprache zu lernen. Seine Lieblingsfigur sei jedoch der Identitätsdieb. Ein wunderbarer Mensch, der seine russische Freundin liebt, gut kocht, zu jeder Art von Schandtat aufgelegt ist. Das Buch ist sehr spannend, man kann sich schon darauf freuen.

David Eisermann dankt Liefers und Boyle. Und erinnert daran, daß es zum Signieren durch die linke Tür hinausgeht.