Anzeige: |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |
Juli 2005 | Silke Winzek für satt.org |
||
| T. C. Boyle: Dr. SexT.C. Boyle, der sich gern zum enfant terrible der amerikanischen Literatur stilisieren lässt, allerdings in der Gegenwart wenig durch eigenes, unangepasstes Verhalten oder Provokationen auffällt (sondern inzwischen ein braver Familienvater und produktiver Autor zu sein scheint) ist seinem Hang zu Nonkonformität insoweit treu geblieben, dass er als Protagonisten für seinen neuen Roman Alfred Kinsey gewählt hat. Damals galt es im Gegensatz zu heute aber noch nicht als "schick" anders zu sein. Auch Kinsey hat versucht sein exzessives Leben vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Die Zeiten ändern sich. Mag sein, dass er zur heutigen Zeit mit seinem Anderssein kokettiert hätte.
Der Roman setzt 1939 ein, als Kinsey beginnt, seine "Vorlesungen über die Ehe", begleitet von einer für damalige Verhältnisse drastischen Diashow (erigierte Penisse und feuchte Scheiden in Großaufnahme etc.) zu halten. Der Campus steht Kopf. Für Kinsey ist die Vorlesung die Initialzündung für sein bahnbrechendes Forschungsprojekt, die Erforschung des sexuellen Verhaltens unserer Spezies und deren Quantifizierung, um zu enthüllen, was jahrelang unter dem Schleier von Tabus, Aberglauben und religiösen Verboten verborgen war. Kinsey, der sich bis dato als Zoologe mit der Erfassung der Gallwespen beschäftigt hatte, und zu diesem Zeitpunkt bereits 43 Jahre alt war, entwickelt einen standardisierten Fragenkatalog und eine spezielle Fragetechnik und stürzt sich in die Datenerfassung. Zwei Eigenschaften prädestinieren ihn für seinen Job: er ist Sammler aus Obsession und er steht sexuellen Aktivitäten jeder Variation offen gegenüber. In der Folge wird ihn seine Leidenschaft quer durch das ganze Land führen, immer auf der Suche nach neuen Sexgeschichten. Wie bekannt ist, gipfelt die Forschung Kinseys in zwei Standardwerken der Sexualforschung, er wird in die Annalen dieses Forschungsgebietes eingehen. Der Ich-Erzähler des Romans ist John Milk. Er ist ein gut aussehender, junger Mann, groß, mit breiten Schultern, lockigem Haar und "ausdrucksstarken" Augen, ein Frauentyp, der zu unsicher ist, um seine Wirkung auf Frauen (und auf Männer) zu bemerken, ansonsten der langweilige naive Typ. Als Student der englischen Literatur und Psychologie gelangt er zufällig in die Vorlesung "Ehe und Familie" von Professor Alfred Kinsey. Kinseys Begeisterung für seine Forschung überträgt sich sofort auf ihn und wirkt elektrisierend. Er gelangt in den Bannkreis von Kinsey, der ein Gespür für sich ihm unterwerfende Charaktere zu haben scheint und sexuell an dem unerfahrenen Milk interessiert ist. Kinsey erlebt parallel zu seiner Forschung seine eigene private sexuelle Revolution. Haben seine Bedürfnisse bisher unter der Oberfläche verharrt, so brechen seine Lüste nun ungehemmt hervor. Sein Credo: "Der Mensch ist ein pansexuelles Wesen, und nur die Konventionen, die Gesetze, die Sitten, die Kirchen halten ihn davon ab, sich mit jedem beliebigen Partner auszutauschen, unabhängig von Geschlecht und Spezies." Milk, der zu Kinsey als Wissenschaftler und Vaterersatz aufschaut, wird sein erstes Manipulationsopfer. Der Junge aus einfachen Verhältnissen mit mäßig ausgebildetem Selbstbewusstsein, der ohne Vater mit einer strengen, distanzierten Mutter aufgewachsen ist, fühlt sich im Zentrum des Interesses des angesehenen, charismatischen Mannes wie beseelt. Er ist heterosexuell orientiert und unerfahren. Kinsey bringt ihn dazu, seine homoerotischen Neigungen mit ihm auszuleben. Als Milk klar wird, dass seine Bedürfnisse in dieser Hinsicht gering ausgebildet sind, sitzt er bereits in der Falle von emotionaler und inzwischen auch wirtschaftlicher Abhängigkeit. Er wird Kinsey in Zukunft sexuell immer wieder zu Diensten sein müssen. Milk arrangiert sich nicht nur mit der Situation, er entwickelt im Laufe der Ereignisse Kinsey gegenüber eine völlig devote Haltung, die totale Unterwerfung ist vollendet. Ein Konflikt entsteht, als Milk Iris heiratet, die sich gegen Kinseys Macht über ihren Mann offen auflehnt. In Zukunft wird Kinsey die Kriterien zur Auswahl seiner Mitarbeiter erweitern und perfektionieren, auch Ehefrauen und andere nahe Bezugspersonen der potentiellen Mitarbeiter werden auf ihr Sektiererpotential und ihre sexuelle Offenheit geprüft. Es gelingt ihm, totalitäre Strukturen aufzubauen. "Jeder Bewerber wurde mit Frau und Kindern eingeladen – den Frauen galt Proks (Kinsey) besondere Aufmerksamkeit, nicht nur im Hinblick auf irgendwelche Verklemmtheiten, sondern auch, um festzustellen, ob sie verlässlich und diskret waren …". Die Zuspitzung der Ereignisse, die Verfeinerung der Machtstruktur Kinseys mutet fast unheimlich an. Kinseys Mitarbeiter mutieren zu Marionetten unter seiner Regie, das Stück handelt von Sex: Gruppensex, Partnertausch, Sex mit Prostituierten, gleichgeschlechtlichem Sex, Sex vor der Kamera. Gleichzeitig übt er auf seine Mitarbeiter Druck aus (und es gelingt ihm auch), diese Geschehnisse vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Im tiefsten Innern ist er eine Spießerseele: "Wir mussten der Öffentlichkeit eine makellose Fassade präsentieren: Wie waren Sexualwissenschaftler und wir waren absolut und entschieden normal." T.C. Boyle gelingt es, Kinsey als Person mit allen Facetten zwischen schwarz und weiß darzustellen. Kinsey ist ein hervorragender Wissenschaftler, als Interviewer einfühlsam, akribisch in seiner Arbeit, mitreißend und überzeugend, wenn es um die Beschaffung von Geldern für das Projekt geht, charismatisch in seinen Vorlesungen, mit der Fähigkeit sein Publikum in seinen Bann zu ziehen. Dieselben Eigenschaften, die ihn als Wissenschaftler besonders befähigen, machen ihn in seinem persönlichen Umfeld zu einem Tyrannen, Guru, Selbstverherrlicher und Egomanen. Die Brüchigkeit in seinem Charakter, seine Zerrissenheit zwischen dem Zwang, den schönen Schein zu wahren und der Gier nach immer extremeren sexuellen Erlebnissen zeigen ihn als Menschen, der weit davon entfernt ist, unfehlbar zu sein. Zu Beginn des Romans wird darauf hingewiesen, dass bis auf Kinsey und seine Frau alle Figuren frei erfunden sind. Das mag juristische Gründe haben. Bei Kinsey und seiner Frau ist das Recht auf Information der Öffentlichkeit höher zu bewerten, als deren Persönlichkeitsrecht, da sie Personen der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte sind. Es steht zu vermuten, dass die dargestellten Ereignisse sich so oder in ähnlicher Form tatsächlich zugetragen haben, sonst hätte Boyle Kinseys Namen nicht verwenden können. Spannend ist auch der Kunstgriff, eine eigentliche Nebenfigur (Milk) zum Ich-Erzähler des Romans zu machen, der nach dem Tode von Kinsey die Zeit mit ihm rekonstruiert. So entsteht eine distanzierte, aber immer noch naive Sicht auf den Guru. Es ist die Sicht des manipulierten Opfers, der einige Mechanismen der Verführung inzwischen zwar durchschaut, der es aber im Grunde genommen auch nach dem Tode seines Peinigers nicht geschafft hat, sich von ihm zu befreien. Kinsey wird ihm sein Leben lang in den Knochen stecken. So zeigt sich die Wirkung des Machtsystems besonders eindringlich. Boyle gelingt mit der Methode aber ein weiterer Streich: dem Leser wird schnell bewusst, dass der im System gefangene Milk wohl nur die Spitze des Eisberges erkannt hat. Bleibt zu vermuten, dass Boyle damit andeuten möchte, dass die Wirklichkeit viel drastischer war, er aber aus Gründen der Wahrung des Persönlichkeitsrechtes gezwungen war, sich auf diese Andeutung zu beschränken. Es ist aber nicht nur die Geschichte von Kinsey sondern auch die Geschichte des sympathischen, aber farb- und konturlosen Mitläufers John Milk und die Geschichte der anderen Mitläufer, ohne deren passive, teilweise auch aktive Bereitschaft Typen wie Kinsey wenig aus- bzw. anrichten könnten. Boyle versucht, die Entwicklung eines Menschen exemplarisch aufzuzeigen der für die Manipulation und Unterdrückung gemacht zu sein scheint. So schließt sich der Kreis vom Täter zum Opfer. |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |