Mit ihrem dritten Buch im Salzburger Verlag Jung und Jung präsentiert sich Ursula Krechel nach mehreren Essays und Erzählungen wieder als Lyrikerin. Statt einer Sammlung jüngster Gedichte legt sie ein durchkomponiertes, aus zwölf mal zwölf Texten bestehendes Poem vor. Ein an den Blankvers angelehnter rhythmischer Grundpuls durchzieht das Gedicht, das fernste Zeit- und Kulturräume zusammenspannt: Vom trojanischen Krieg über die Weltkriege des 20. Jahrhunderts bis zu den afrikanischen Völkermorden der Gegenwart folgt die Autorin den Spuren der Gewalt durch die Geschichte. Kühl protokollierend angesichts der Schrecken, sarkastisch sezierend angesichts der ideologischen Verbrämungen des Mordens, messerscharfe lyrische Bildsequenzen immer wieder abbrechend und mit sprachlichen Fremdkörpern konfrontierend, macht Ursula Krechel die Konflikte, die sie beschreibt, auch in den Sprachbewegungen ihres Textes greifbar.
Gewalt erweist sich in ihrem Gedicht als „harter Kern“ des Menschen, untrennbar verflochten mit seinem erotischen Begehren ebenso wie mit seinem wirtschaftlichen Streben. Abgesehen von seiner beeindruckenden kontrollierten Sprachmagie besticht das Gedicht nämlich vor allem durch die hellsichtige Radikalität, mit der Ursula Krechel Themen wie die Kolonisierung und die heutige wirtschaftliche Benachteiligung der so genannten Dritten Welt als ähnlich gewaltsame Akte zeigt wie den offenen Krieg. Die Überblendung europäischer Alltagsszenerien mit Bildern vom Verrecken unter südlicher Sonne hinterlässt beim Leser die Erkenntnis, dass für die Privilegien seiner Existenz unweigerlich jemand in einer anderen Weltgegend bezahlen muss, oft genug mit dem Leben.
"Stimmen aus dem harten Kern“ ist somit ein beeindruckender Beleg dafür, wie welthaltig und „engagierend“ eine zeitgenössische Lyrik sein kann, die sich ihrer sprachlichen und kompositorischen Mittel sicher ist. Und wie Gerhard Falkners jüngst erschienenes Langgedicht „Gegensprechstadt – ground zero“ belegt auch Ursula Krechels neues Buch: Langen Gedichten ist es eher möglich, diese Art von Diskursfähigkeit zu wahren. Statt ihren Gegenstand entweder in einer hermetischen Chiffre zu verrätseln oder ihn plakativ zu benennen, können sie ihn in mannigfacher Brechung umkreisen – so oft, bis er dem Leser unübersehbar vor Augen tritt, ohne dabei seine lyrische Vieldeutigkeit einzubüßen.