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März 2007 | Martin Jankowski für satt.org |
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| Ingo Schulze: Handy
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Ingo Schulze: HANDY dreizehn geschichten in alter manier Berlin Verlag 2007 288 S., € 19,90 » amazon |
Ingo Schulzes neuer Erzählband bietet einen Blick hinter die Kulissen des Schreibens, sozusagen ins Nähkästchen des Autors: Dreizehn Texte lang dürfen wir ihm bei der literarischen Fiktionalisierung von Leben zusehen. Als Milieus begegnen wir der Welt der Goethe Institute, Universitätskonferenzen und Premierenpartys - die Züge, Taxis und Flughäfen der Reisenden in Sachen Gegenwartskultur. Doch die eigentlichen Geschehnisse haben stets einen persönlichen, sozusagen privaten Charakter, sodass wir ausnahmslos höchst eigenwillige, außergewöhnliche Begebenheiten erfahren. Stilistisch bleibt der Autor dabei unaufgeregt bodenständig, denn „ … im Alltag gibt es keine Novellen“, wie es in „Eine Nacht bei Boris“ heißt. Wobei die erzählte Story bzw. die Erzählung in der Erzählung wie schon seit den grandiosen „33 Augenblicken des Glücks“, die Ingo Schulze 1995 schlagartig bekannt machten, die Hauptinstrumente des Autors sind. Diesmal erfahren wir allerlei Pleiten, Pech und Pannen aus dem Leben des Erzählers und seiner Geliebten - als literarische Figuren in immer neuen Verkleidungen. Und natürlich schwebt, wie immer bei Literatur, die große Frage im Raum, was am Erzählten denn nun real sei, ob nicht alles In-Worte-Fassen immer auch Literarisieren ist, ob das Erzählen eben gar keine „außerreale Kunst“, sondern schlicht eine Grundeigenschaft der menschlichen Psyche ist, Fiktion mithin Teil des Realen.
Zunächst sei angemerkt, dass der Buchtitel „Handy“ den unbedarften Leser in die Irre führt. Man könnte erwarten, jetzt auch bei Schulze trendige Neuzeitprosa vorzufinden, mit der im großen Stil dem Medienzeitalter gehuldigt wird. Glücklicher Weise trifft das Versprechern des Untertitels („dreizehn geschichten in alter manier“) tatsachlich zu. Wie immer erwartet uns bei Schulze geistiges Slow-food bei abgestelltem Telefon: Handgemachte Sätze, echte literarische Sujets, Beobachtungen über die Absurdität unseres Alltags aus der Perspektive eines Schriftstellers, keine Drehbücher im Nachttischformat.
In den Geschichten begegnen dem Schulze-Kenner gute alte Bekannte aus dem Prenzlauer Berg, Dresden, aus der Altenburger Theaterwelt oder noch östlicheren Welten. Wobei letztere erneut die besten Storys liefern, etwa wenn uns „In Estland, auf dem Lande“ ein bemerkenswerter Bär aufgebunden wird, eine wahrhaft amüsante Geschichte, wie man sie (als Provinz-Pendant der urban legends) eben nur an den Wodkatresen östlich der Oder hören kann. Oder wenn in der letzten Geschichte quasi nebenbei berichtet wird, wie der Autor auf Lesereise mit seinem St.-Petersburg-Buch „33 Augenblicke des Glücks“ in St. Petersburg selbst plötzlich dazu verdammt zu sein scheint, all das Unglück, das seinen Figuren darin widerfährt, nun auch am eigenen Leibe durchleben zu müssen. Charakteristisch für Schulze ist, dass der Erzähler prinzipiell im Bezug auf ein Du erzählt. Auch noch der Einsame spricht, existiert und denkt grundsätzlich auf eine geliebte (an- oder abwesende) andere Person hin - eine Erkenntnis über die menschliche Verfasstheit, die selten so konsequent literarischen Ausdruck findet. Und egal wo die Geschichten spielen, ob in Dresden, Petersburg, Kairo oder Budapest, immer erfahren wir etwas über die Gefühle einzelner Personen – kleine Mosaiksteinchen statt großer Panoramen. Das Leben als Summe kleiner Schritte, die jeder zu einer Geschichte zusammenaddieren muss (Autor, Figuren, Leser), nicht als Breitwandformat mit literarischer Soundsoße. Selbst von New York zeigt Schulze uns keine Wolkenkratzerschluchten mit Polizeisirenen, sondern einen seltsamen alten Mann, der Möhrentorte liebt.
Wie immer bei Ingo Schulze wird die Technik der erzählenden Fiktionalisierung in den Geschichten selbst thematisiert, das geschieht ganz nebenbei, man liest es als organischen Teil des Erzählens, es schmälert das Lesevergnügen keineswegs, sondern steigert die natürliche Lust am Zuhören ganz so, wie wir einen Erlebnisbericht mit Floskeln wie „Stell Dir vor …“ beginnen und damit die Aufmerksamkeit des Zuhörers steigern. In manchen Texten wird die literarische Verkleidung ganz aufgegeben, wie etwa in der liebenswert unliterarischen „Epiphanie am Sonntagabend“ mit den realen Mitgliedern von Schulzes Familie als Figuren (die man z. T. deutlich als Vorlagen auch für andere Figuren nicht nur dieses Buches auszumachen vermeint), oder in der schon erwähnten meisterhaften „Noch eine Geschichte“ am Schluss des Buches, in der der Erzähler demonstrativ keinen Namen mehr bekommt und die Geliebte Namen wie „Petra oder Katja tragen könnte“, die dann in absichtlicher Beliebigkeit verwendet werden, ohne dass die literarische Maske fixiert würde …
Ich stelle mir Ingo Schulze als Storysammler vor, der an den Erzählstränden des Alltags (wie Küchentischen, Kneipentresen, Diaabenden, Nachttelefonaten oder Grillpartys) kleine, abgewetzte Geschichten wie Strandgut sammelt, sie zuhause in eigenen Worten auf Zetteln archiviert, hier und da übermalt, und die Episoden schließlich wie ein Collagenkünstler schwitzend und fluchend hin und her schiebt, bis sie schließlich passende Konstellationen ergeben, in denen sie sich zu literarischen Texten verflechten. So ergäbe sich eine gewisse Heterogenität der Erzählungen in Stilistik und Dichte, die nicht immerfort spannend, aber mit keiner Silbe belanglos sind. Wie man dem Buchanhang entnehmen kann, sind die Erzählungen zu verschiedenen Zeiten und Anlässen in den letzten zehn Jahren entstanden. Wenn man zudem Schulzes Romane („Simple Storys“ 1998, „Neue Leben“ 2005) in betracht zieht, muss man feststellen, dass das Feuilleton-Etikett des „Raymond Cavers vom Prenzlauer Berg“ nicht greift, einfach weil von Anfang an ein unverwechselbarer Schulze-Stil existierte, der sich kaum mit etwas anderem vergleichen lässt. Das Unverwechselbare an diesen Geschichten ist zum Beispiel, dass sie verfilmt ihren ganzen Zauber verlieren würden: Es ist Literatur, deren Wesen im Erzählen liegt - in der literarischen Perspektive auf das Leben, die durch nichts anderes ersetzt werden kann. Der typische Schulze-Sound. Man kann diese Art des Erzählens, die weniger um die schönste Melodie als – im Text immer wieder nachlesbar - vielmehr um die richtige Perspektive des Beschreibens ringt, behäbig oder gar betulich nennen. Diese „alte Manier“ ist, wie ein Glas Wasser, vielleicht nicht besonders originell; sie ist, verglichen mit allerlei neuer Coca-Cola-Literatur, möglicherweise sogar uralt. Denn sie geht dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis des Erzählens nach und ist gerade deshalb im buchstäblichen Sinne notwendig.
» Autorenportrait bei perlentaucher.de
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