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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




14. Dezember 2008
Felix Giesa
für satt.org

Bilderbücher für Groß und Klein

Felix Giesa stellt in der Vorweihnachtszeit elf Bilderbücher vor. Am zweiten und am dritten Advent jeweils fünf und ein letztes dann am vierten. Hier nun die zweiten fünf Vorstellungen durchaus lesenwerter Bilderbücher. Von märchenhaft über abenteuerlustig bis tiefgründig ist alles dabei.

  Marie Caudry und Gauthier David: Max macht einen Ausflug
Marie Caudry, Gauthier David:
Max macht einen Ausflug

Carlsen 2008
ab 4 Jahren,
32 S., € 15,90
» Carlsen
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Marie Caudry und Gauthier David: Max macht einen Ausflug

„Max macht einen Ausflug“ ist ebenso wie das neue Buch von Sven Nordqvist nur noch gewaltig zu nennen: 80 Zentimeter breit sind die Doppelseiten; da bringt man viel drauf unter. Idealerweise eine Reise, was ja eines der klassischsten Motive der Kinderliteratur ist. Die Hauptfigur der beiden Franzosen Caudry und David, der kleine Junge Max, bedient dann optisch auch noch ein ebenso klassisches Motiv. Nämlich das des Schelmen: mit seiner gelben Hose, dem weiß-rot geringelten Pullover und einer Mütze mit Eselsohren erinnert er ein bißchen an Tom Bombadil aus Tolkiens „Herrn der Ringe“. Ebenso wie Tom, so lebt auch Max im Einklang mit der Natur. Er scheint alleine, keine Eltern weit und breit, ein gutmütiges Feenwesen, dass sich nur um seine eigene Unterhaltung bemüht. So folgt man Max auf den Doppelseiten zur Pilzsuche, als er vor einer Regenwolke in die Bäume flieht. Im dichten Geäst kann die Wolke nur schwer folgen und reißt sich schließlich auf, sodass sie platzt. Marie Caudry wählt für ihre Illustrationen, denen man die Nähe zum französischen und amerikanischen Independentcomic ansieht, einen Nordqvist entgegengesetzten Weg: ihre Seiten sind regelrecht minimalistisch gefüllt, den Hintergrund spart sie gleich ganz aus. So haben die Zeichnungen mit Filzstift und Fineliner ordentlich Platz, ihre Wirkung zu entfalten. Und Max, der Schelm, hat dann doch noch Mitleid, schnappt sich die platte Wolke, flickt sie und bindet sie an seinen Schornstein. So wird die Wolke wieder aufgepumpt und Max Haus zu einer Gondel. Bis auf eine kleine Tagebuchnotiz kommt die Geschichte dabei ganz ohne Worte aus und versinnbildlicht ganz herrlich den frühkindlichen Entdeckergeist und den damit verbundenen Autonomiedrang. „Max macht einen Ausflug“ kann problemlos als das schönste und graphisch avancierteste Bilderbuch in diesem Buchherbst bezeichnet werden.

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  Hannes Binder und Peter Stamm: Heidi
Hannes Binder und
Peter Stamm: Heidi.

Nach der Geschichte
von Johanna Spyri
Nagel & Kimche 2008
48 S., € 16,90, ab 7 Jahren
» Nagel & Kimche
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Hannes Binder und Peter Stamm: Heidi

„Die Geschichte von Heidi ist zeitlos wie ein Märchen, wie die Berge, in denen Heidi gelebt hat.“ Das ist die Einschätzung von Peter Stamm, dem mit „seiner“ Heidi eine großartige Restauration der Ur-Heidi gelungen ist. Vollkommen frei von Kitsch nimmt er sich des Stoffes von Johanna Spyri an und destilliert die Geschichte der mittlerweile über 125jährigen kleinen Rebellin auf wenige Dutzend Seiten zusammen. Geblieben sind die Kernmomente. Die anfängliche Angst alleine beim Alm-Öhi und die später umso größere Liebe zu ihm, das fremde und abweisende Frankfurt und die Freundschaft zu Klara. Dabei darf Heidi auch wieder der Wildfang aus den Bergen sein und heißt entsprechend „das Heidi“. Klischeehaftere Umsetzungen und Adaptionen haben gerade an dieser Stelle immer wieder regulierend in den Originaltext eingegriffen. Wie weit die vorliegende Version von solchen Umdeutungen entfernt ist, zeigt sich besonders in den Illustrationen von Hannes Binder. Bunte, fein ziselierte Schraffuren schaffen ein wenig idealisierendes Bild der Bergwelt und auch die Stadt wird nicht als dunkler und kinderfeindlicher Ort abgebildet. Binder gelingt es mit ein und derselben Zeichentechnik sowohl warme Emotionen zu transportieren, als auch, wenn es die Handlung verlangt, kalt und abweisend zu sein. So ist die Stube vom Öhi ein hellbraunes Refugium inmitten der Berge und kargen Wiesen. Auch die Wahl seiner Bildausschnitte weicht stark vom herkömmlichen „auf der einen Seite der Text, auf der anderen Seite ein Bild“- Schema ab. Ist das Geschehen handlungsreich, so bedient er sich auch mal mehrer Panels und führt die Erlebnisse kleinschrittig vor. Und besonders in Frankfurt gelingt es ihm eindrücklich, das Heimweh der kleinen Heidi darzustellen, wenn diese zum Beispiel die hohen Häuserfronten hinauf in die Sonne schaut, und dort oben Gipfelkanten zu sehen sind. Oder in der sicherlich schönsten Szene des gesamten Buches, als „das Heidi“ sich in Klaras Schoß ausweint, Binder das Zimmer aufbricht und die Bergwelt hinüberfließen lässt und dort eine Weihnachtstanne steht. Auch wenn Heidi mittlerweile schon selber Ururoma sein könnte, ihr Heimweh und ihre Rebellion gegen die Enge der Gastfamilie sind etwas, mit dem sich auch heute noch jedes Kind identifizieren kann.

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  Margherita Sgarlata und Riccardo Francaviglia: Der Drache mit den 7 Köpfen
Margherita Sgarlata
und Riccardo Francaviglia:
Der Drache mit den 7 Köpfen

Bohem Press 2008
40 S., € 14,90, ab 4 Jahren
» Bohem Press
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Margherita Sgarlata und Riccardo Francaviglia: Der Drache mit den 7 Köpfen

,Neue’ Märchen gibt es in den letzten Jahren eigentlich nicht mehr. Natürlich gibt es ,urbane Mythen’ oder ,märchenhafte’ Geschichten. Aber ein ,richtiges’ Märchen, mit Prinzessinnen, Rittern, Burgen und Drachen, das ist schon eine Seltenheit. Das italienische Künstlerpaar Margherita Sgarlata und Ricardo Francaviglia haben diesen Missstand nun endlich behoben. Ihr Buch „Der Drache mit den 7 Köpfen“ ist genau so ein Märchen, inklusive Moral und wirklich herrlichen Illustrationen. Und am Anfang steht sogar „Es war einmal ...“ In diesem Fall war einmal ein König, der hatte sieben Töchter und die sollten unter die Haube gebracht werden. Damit die sieben Bewerber sich beweisen, sollen sie gegen den siebenköpfigen Drachen kämpfen, der schon seit langem das Reich bedroht. Und weil es ein Märchen ist, können natürlich alle eine Sache ganz besonders. Die eine Prinzessin kann singen, eine andere tanzen, eine weitere kochen und eine sogar fliegen. Die Ritter sind aber auch nicht ohne, sie können boxen, schwertkämpfen, gut reden oder auch im Dunkeln sehen. Das ist auch gut so, denn schließlich hat jeder Drachenkopf auch besondere Fähigkeiten. Die Kunstfertigkeit, in der die doppelseitigen Bilder gearbeitet sind, ist wirklich beachtlich und zeigt ein weiteres Mal, wie sehr im Bilderbuch die Grenzen zwischen Buchillustration und bildender Kunst verschwimmen. Auf einem rauen und grob strukturierten Untergrund haben Sgarlata und Francaviglia ihre Bilder gemalt. Dabei arbeiten sie weniger detailvergessen, als in großen Flächen. In matten, teilweise auch leuchtenden Pastellfarben veranschaulichen sie das Geschehen rund um die Ritter und den Drachen. Einer um den anderen zieht zur Höhle und macht den armen Kerl einen Kopf kürzer. Als etwa der erste Ritter samt Schwert vor der Höhle steht, nimmt diese mehr als die Hälfte des Bildes ein. Im Dunkel erkennt man lediglich sechs Augenpaare, die sich im Inneren versteckt halten. Nur der Kopf, der mutig ist, lugt keck heraus. Doch Mut allein reicht nicht aus, um gegen einen großen Schwertkämpfer zu bestehen. Und so steht der siegreiche Ritter schließlich vor der Wahl, welche Prinzessin er zur Frau will. Er wird nicht der einzige bleiben, der eine pragmatische Entscheidung treffen wird: „Meine Kleider zerreißen oft während der Schlachten. Da ist es ideal, eine Frau zu haben, die sie wieder flicken kann.“ Und die Moral von der Geschicht’? – Eine unnütze Fähigkeit gibt es nicht.

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  Mein Buch vom Angsthaben
Emily Gravett:
Mein Buch vom Angsthaben

Sauerländer 2008 ab 4 Jahren
32 S., € 19,90
» Sauerländer
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Emily Gravett: Mein Buch vom Angsthaben

Panische Angst vor Spinnen hat, wer unter Arachnophobie leidet und Hydrophobie ist die unbegründete Angst vor Wasser. Fachbegriffe für Phobien gibt es also unzählige und einige gibt es auch ganz und gar nicht. Zum Beispiel die „Wobinichphobie“, die Angst, verloren zu gehen, was durchaus keine seltene Befürchtung ist. Wer sich all diesen Ängsten stellt, kann sie bewältigen. Emily Gravetts „Buch vom Angsthaben“ kann dabei sehr hilfreich sein – zumindest für eine kleine weiße Maus, die sich vor nahezu allem fürchtet. Das Buch stellt eine Art Notizblock dar, in den man seine Phobien eintragen und so wegschreiben soll. Die kleine Maus hat das einmal ausprobiert ... Mit einem Bleistift bewaffnet, hat sie sich durch das Buch hindurch genagt und zu den unterschiedlichsten Ängsten ihre eigene Geschichte hinzugekritzelt. Wie schwer ihr das fällt, symbolisiert schon der Bleistift, der von Seite zu Seite kürzer geknabbert ist. Um die Angst loszuwerden, ist jedes Mittel recht. Mit groben Skizzen werden böse Eulen (Phagophobie) ins Buch gebannt, collageartig sind Fotos von Katzen (Ailurophobie) und Hunden (Cynophobie) ins Buch geklebt. Darüber hinaus finden sich Zeitungsausschnitten und Landkarten. Und immer ist alles ausgefranst und löchrig. Dieser Nager kann sich wirklich kaum beherrschen! Emily Gravett verleumdet ihre aufklärerische Intention nicht und so ist ihr Buch auch als eine augenzwinkernde Hilfestellung, wenn die Monster unter dem Bett mal wieder allzu frech werden. [Anika Knott]

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  Ulf Nilsson und Eva Eriksson: Als Oma seltsam wurde
Ulf Nilsson und Eva Eriksson:
Als Oma seltsam wurde

Moritz 2008
ab 5 Jahren
40 S., € 12,80
» Moritz Verlag
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Ulf Nilsson und Eva Eriksson: Als Oma seltsam wurde

Vor zwei Jahren erschien ein Buch von Ulf Nilsson mit Illustrationen von Eva Eriksson auf Deutsch und sorgte für einen großen Wirbel im kleinen Kinderbuchbetrieb. Da ging jemand hin und schrieb über das Leben und Sterben in einem Kinderbuch, mit einer Leichtigkeit und einem Wortwitz, dass es geradezu unerhört war. Erikssons Bilder unterstrichen diese tolle Geschichte noch in einfühlsamer Weise und so landete „Die besten Beerdigungen der Welt“ auch auf der Nominierungsliste für den diesjährigen „Deutschen Jugendliteraturpreis“. Nun hat sich das Erfolgsteam wieder zusammengetan und es entstand „Als Oma seltsam wurde“. Nilsson nimmt sich eines sehr ernsten Themas an, der Altersdemenz, und es ist ihm ein persönliches Anliegen. So findet sich im Impressum eine kurze einleitende Notiz des Autors, in der er von seiner eigenen Oma berichtet. Es ist also ganz offensichtlich der Autor selber, der berichtet, dass seine „Oma eines Tages seltsam und geizig“ wurde. Den Jungen trifft es wie ein Schlag, als seine Oma ihn auf einmal nicht wieder erkennt und nichts mit ihm zu schaffen haben will. Überall sieht sie Verfolger und beginnt alles Geld zu verstecken. Dem Jungen ist diese Wandlung natürlich vollkommen unerklärlich, daher scheint es erstmal sinnvoll, den Flitzebogen dabei zu haben. Einfühlsam und auf Augenhöhe mit seinen kindlichen Lesern erzählt Nilsson diese Geschichte. Und er berichtet auch, dass seiner Oma schließlich vom Arzt geholfen werden konnte und es ihr dann wieder besser ging. Was im Text oft schon zum Schmunzeln anregt, spiegelt sich in den Bildern Eva Erikssons noch mehr. Es ist schon urkomisch, wenn die Oma auf dem Bett hockt und der Junge, mit Robin Hood-Kappe auf dem Kopf, neben ihr steht und fassungslos den mit Geld randvollgestopften Nachttopf betrachtet. Da schwingt genau die umgekehrte Rollenverteilung in Familien mit, wenn Kinder ihre Eltern pflegen. Das dies hier nicht tieftraurig erscheint, sondern durchaus schmunzeln lässt, ist der Kunst Erikssons zu verdanken. Sicher, ein Angehöriger eines Demenzkranken wird zu bemängeln haben, dass es der Oma am Ende des Buches besser geht und der Autor es damit gut sein lässt. Demenz ist bekanntlich nach wie vor nicht heilbar, dass weiß auch Nilsson und berichtet in seinen einleitenden Worten, dass die Krankheit bei seiner Oma immer wieder kam – bis keine Medizin mehr half. So kann man das Ende des Buches auch anders lesen: „Der Bogen lag schussbereit auf meinem Schoß. Einen Pfeil hatte ich noch.“ Denn wenn die Krankheit zuschlägt, hilft nur noch der Zusammenhalt in der Familie.

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