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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




4. August 2010
Florian Neuner
für satt.org
  Florian Neuner: Frohnhausen (Dérive V)

Florian Neuner: Ruhrtext. Eine Revierlektüre. Mit einer Fotoserie von Jörg Gruneberg. Klever Verlag 2010. 496 Seiten, 29,90 Euro.
» Klever Verlag




»Ruhrtext« vom 1972 in Oberösterreich geborenen, seit 1995 in Berlin lebenden Schriftsteller und IDIOME-Herausgeber Florian Neuner ist eines der schönsten, weil aufrichtigsten und ungeschminktesten Bücher über das Ruhrgebiet. Eine unterhaltsame, assoziative, knapp 500 Seiten lange »Revierlektüre«, wie der Untertitel verrät – mit zwei jeweils 16 Seiten atmosphärisch dichten Fotostrecken. Besonders schön sind die 28 »Derivé« benannten Ortsbegehungen, in denen der Autor schillernd-triste Stadtteile wie Bockum-Hövel, Styrum oder Carnap erkundet. Auf dieser Seite veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Werk. (Marc Degens)




satt.org-Link zum Thema:
» Marc Degens: Mein Poppott


Florian Neuner:
Frohnhausen (Dérive V)

Essen West. Eine Bahnhofshalle, als wäre das ein Bahnhof von Bedeutung & nicht bloß ein S-Bahn-Halt. Reisemöglichkeiten nach Hattingen, Oberhausen, Bottrop usf. Der Spielraum wird zuerst durch den Ausgangspunkt bestimmt. Spiele, Konflikte, Reisen. Am Westbahnhof heißt der Platz, dunkel & weit. Es ist kalt. Niemandsland. Bureauhäuser, Hinweisschilder auf eine Eissporthalle. Der Wirt in der Union Klause wird später sagen, daß das Provinz sei hier, & nicht nur Frohnhausen meinen, sondern die ganze Stadt Essen. Wird über die schlechten öffentlichen Verkehrsmittel klagen, die ihn immer zu einer viel zu frühen Rückkehr aus Gelsenkirchen zwängen, nach den Fußballspielen & den anschließenden Kneipenbesuchen. Frohnhausen liegt also zwischen der Bahntrasse & dem Ruhrschnellweg, dieser Autobahnschlucht, in die sich auch eine U-Bahnlinie zwängt. Essen West. Ich überquere den dunklen, weiten Platz, ohne Ziel, & kann mir auch gar keine Gedanken darüber machen, welchen Weg ich nehmen könnte, denn in dem Moment, in dem ich diesen Platz Am Westbahnhof überquere, erreicht mich ein Anruf. & ich gehe telephonierend weiter, erfahre von einem Todesfall & einer geplanten Reise & mache mir also keine Gedanken über den Weg, in Bewegung gehalten von der Kälte. Stehenbleiben kommt nicht in Frage. Irgendwann komme ich, während ich noch immer telephoniere, zum Genossenschaftsplatz. Der Verkehr auf der Berliner Straße ist so laut, daß er mich, den Telephonierenden, in eine ruhigere Seitenstraße ausweichen läßt. Auf der Flucht vor dem Lärm & der Kälte wundere ich mich, daß ich auf eine Bahnunterführung zulaufe, wo ich doch dachte, mich die ganze Zeit von der Bahn entfernt zu haben. Freizeitzentrum Oase. Ich kehre um. Südsee um die Ecke. Noch ein Angebot für frierende Menschen. Nein, lieber wärme ich mich im Gasthaus Keller auf. Zum Treff. Nein, Glühwein hätte sie keinen, meint die junge Frau, die mich bedient & immerhin einen Tee mit Grog anbieten kann. Ich habe leichte Halsschmerzen & halte deshalb ein Heißgetränk für angezeigt. Wie das weitergehen soll? Ich werde sicherlich zum Bier zurückkehren, in einer der nächsten Kneipen. Die Nacht ist kalt & sternklar. Minusgrade werden nicht nur für das Sauerland vorausgesagt im Radio-Wetterbericht. Wie wirken diese Temperaturen sich auf Umherschweifexperimente aus? Man kann ja nicht in einer Kneipe sitzenbleiben die ganze Zeit. & die Empfehlung Guy Debords, ziellos mit dem Taxi in der Stadt herumzufahren, wird man wohl – nicht zuletzt aus Kostengründen – doch nicht aufgreifen. Der Gebrauch von Taxis kann eine ziemlich klare Trennungslinie bedeuten. Fährt man mit einem Taxi einfach 20 Minuten nach Westen, so sucht man vor allem das persönliche Gefühl des Sich-fremd-Fühlens. Nüchtern kann ich mich auch nicht leiden. Meint jemand & bringt die Intention dieses Zusammenseins im Gasthaus Keller auf den Punkt. Die junge Frau ist in ein Dartspiel involviert & sieht mich nicht, der ich mich eigentlich dazu entschlossen habe, bei ihr einen weiteren Tee mit Grog zu bestellen. Aber irgendwann will ich dann nicht mehr. Man kann ja nicht in einer Kneipe sitzenbleiben die ganze Zeit. Ich wundere mich über die zwei türkisch aussehenden – darf man das so sagen, egal – Jungs, die sich in dieser Kneipe getroffen haben, die doch von älteren Stammgästen geprägt ist. Zum Treff. Hinaus in die Kälte, leere Straßen. Ich lasse mich von den Bierleuchtschriften leiten. Mein Bild von Essen bestätigt sich: Überall diese relativ kleinen, zwei-, höchstens dreistöckigen Häuser. Immer geht es entweder bergauf oder bergab. Dieses Bild auch heute Nachmittag im Südostviertel, Steeler Straße, Am Wasserturm. Jetzt die Berliner Straße, die Frohnhauser Straße, die keine Allee ist & wo das Café unter den Linden folglich etwas deplaciert wirkt. Soll das nach großer, weiter Welt klingen? Die Cafés Unter den Linden in Berlin taugen auch nichts. Überhaupt weist die Topographie von Frohnhausen so etwas wie einen preußischen Subtext auf, die Rankestraße, Mommsen-, Treitschke-, Niebuhrstraße, Kuglerstraße. Historiker. Dann, etwas ungeordnet, nach deutschen Städten benannte Straßen. Potsdam, Lüneburg, Aachen, Breslau, Krefeld. In der Kölner Straße finde ich nicht nur den noblen Kölner Hof – den ich schon einmal besuchen wollte, um dort eine Martinsgans zu essen & der für den ruhelosen Wanderer in der Nacht natürlich kein geeigneter Aufenthaltsort ist –, sondern auch den Hot Pot: besser, frischer, leckerer. Der alberne Name führt in die Irre & sollte einen nicht abschrecken, denn hier gibt es anständige, preiswerte Gerichte. Deutsche Küche. Die Kreidetafel mit den Tagesgerichten, die einfachen Holztische, die durch die großen Fenster zu sehen sind, & die ältere Frau hinter dem Tresen machen klar, daß man dieses Lokal durchaus betreten kann, wenn nicht gar: sollte. Ich bestelle einen Erbseneintopf & einen Tee. Für den Hals. Die Wirtin kümmert sich um Hartmut, der hier jeden Tag ißt & dem die Portion heute zu groß war. Er wird gemocht hier, denn es gibt solche & solche Gäste, wie die Wirtin mit ihrer 30-jährigen Gastronomieerfahrung zweifellos beurteilen kann. Hartmut zählt zu den netten & wird mit einer Umarmung verabschiedet. Er wird morgen wiederkommen & Grünkohl essen. Das weiß er schon jetzt. Ich blättere in der Neuen Ruhr-Zeitung, die hier herumliegt & aus der man auch nichts erfährt. Höchstens, daß irgendwo ein Schwimmbad geschlossen werden soll oder daß jemand im Suff verunfallt ist. Vorhandene Bilder beweisen nur vorhandene Lügen. Ein Satz aus einem Film von Guy Debord. In girum imus nocte et consumimur igni. Unsinnige Nachahmung eines unsinnigen Lebens. Bei Nacht & Kälte durch Frohnhausen. Wir bewegen uns in einer vom Krieg verwüsteten Landschaft, den eine Gesellschaft gegen sich selbst & ihre eigenen Möglichkeiten führt. 40, 50 Jahre alte Diagnosen, die noch immer überzeugen. Weiter im Text der Stadt .Täglich frisch aus dem Rauch: Mettwürstchen. Liest man beispielsweise, liest Ankündigungen, Aufschriften. & gegen Mettwürstchen ist ja auch nichts einzuwenden. Ich bin nicht nach Frohnhausen gefahren, um dort nur in Kneipen herumzusitzen. Aber es ist zu kalt, um sich länger im Freien aufzuhalten. & die Straßen sind menschenleer. Die Berliner Straße & die Kerckhoffstraße. Die Curtiusstraße. Was wäre eigentlich nicht verlorene Zeit? Warum soll man nicht irgendwo in Frohnhausen herumsitzen & Bier trinken? Kneipen sind schließlich die einzigen möglichen Aufenthaltsorte, Anlaufstellen in solchen Stadtteilen, in solchen Nächten. Die jeder aufsuchen kann, der es sich leisten kann, wenigstens irgend etwas zu trinken in so einer Kneipe. Die Bahnhöfe sind abweisend & verfügen über keine Aufenthaltsräume mehr. Wärmestuben & Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose könnten eine Alternative sein. Vielleicht könnte man auch an einem Pfarrhaus klingeln. Ja, zweifellos ist die fortschreitende Häßlichkeit der unvermeidliche Preis des Konflikts. Eine Gaststätte heißt Zum Wilddieb & ist gut besucht an diesem Freitagabend. In der Seniorenrunde werden Straßennamen genannt, die Namen von Straßen in Essen-Frohnhausen. Mommsenstraße, Rankestraße usf. Die Straßen, in denen sich diese Sprecher täglich bewegen & die mir jetzt auch schon präsent sind, der ich seit einigen Stunden umherirre in Essen-Frohnhausen. Denn in Wirklichkeit wohnt man nicht in einem Stadtviertel, sondern in der Macht. Man wohnt irgendwo in der Hierarchie. Es werden auch die Namen von Läden genannt. Allerdings handelt es sich dabei um die überall gleichen Ketten, Filialen, mit denen sich die Sprecher hier begnügen müssen & die es nicht nur in Frohnhausen gibt, sondern auch in anderen Stadtteilen von Essen, überall eigentlich. Da die Verheerungen, Verschmutzungen & Verfälschungen bereits die Oberfläche der ganzen Welt überschwemmt haben. In einer Einheitswelt kann man nicht ins Exil gehen. Wußte Guy Debord. In die nächste Kneipe kann man aber immer noch gehen, in Frohnhausen. Ins Stübchen in der Rankestraße vielleicht, das mir – etwas abgelegen in dieser ruhigen Straße – dennoch nicht entgehen kann. Aber der ganze Raum ist bereits vom Feind besetzt. Konflikte werden in die Kneipen getragen. Es geht gegen die Europäische Union & die Bundesregierung. Aber der Reihe nach: Das Stübchen ist holzgetäfelt, der hagere Wirt waltet hinter dem Tresen unaufgeregt seines Amtes. Im hinteren Teil der Kneipe sitzt eine Runde, ältere Leute, Stammgäste, die Darts spielen & denen sich der Wirt immer wieder entzieht, sich hinter den Tresen verzieht, um dort irgendwelche Aufräum- & Reinigungsarbeiten zu vollführen. Ich sitze mit meinem Pils am Tresen, dem Wirt direkt gegenüber, sozusagen Auge in Auge, allein mit dem Wirt, was mir in diesem Moment nicht angenehm ist. Nicht, weil ich den Wirt unsympathisch fände oder er mich belabern würde, sondern weil ich mich beobachtet fühle & es in dieser wie auch immer erzwungenen Zweisamkeit doch eigentlich angebracht wäre, ein Gespräch zu führen, das ich aber nicht führen will. Aber wo hätte ich mich sonst hinsetzen sollen? Sicher nicht zu der dartsspielenden Runde. Aufdringlich ist der Wirt auch wirklich nicht, unternimmt nur einen einzigen, dezenten Gesprächsvorstoß, indem er mir die rhetorische Frage stellt, ob ich denn jetzt Feierabend hätte. Ja wann, wenn nicht jetzt? Es bereits nach 22 Uhr. Ich bin mit einer Tasche gekommen, die man vielleicht als Aktentasche ansehen könnte, bezeichnen. Es handelt sich um eine Umhängetasche aus Stoff, in die das Emblem des Chicago Symphony Orchestra eingearbeitet ist, aber das ist nicht wichtig. Keine Ahnung, welche Berufsgruppe mit solchen Taschen herumläuft – Vertreter, Lehrer, Agenten? Feierabend, nunja: Ich kann schließlich nicht sagen, ich sei im Dienst, oder gar: immer im Dienst. Ich bejahe also, & dann ist das eben ein Feierabendpils, warum nicht. Ein Aushang hinter dem Tresen richtet sich gegen »Bundeskanzler, EU-Bureaukraten & alle anderen sauberen politischen volksfremden Vertreter«. Die haben hier, so verfügt es der wütende Wirt – der Wirt, der zu dem Zeitpunkt, da er dieses Plakat schrieb, wütend gewesen sein muß, jetzt freilich gar nicht wütend wirkt –, allesamt keinen Zutritt, denn: Wir lassen uns nicht bevormunden usf. Damit dürfte zumindest klar sein, daß mich der Wirt für keinen Politiker hält, andernfalls er mich ja gleich wieder aus dem Stübchen komplimentiert hätte. Volkszorn, der sich – & das ist keine Überraschung – an einem angekündigten Rauchverbot entzündet & sich wohl durch geringfügige Modifikationen dieses Gesetzes wieder besänftigen ließe. Die Leute lassen sich ständig & widerspruchslos bevormunden, bloß von Rauchverboten nicht. Es ist ein Elend. Aber das Schlachtfeld ist bekannt. Das alltägliche Leben ist das Schlachtfeld, auf dem der Kampf zwischen der Totalität & der Macht ausgetragen wird. & wenn wir die Macht des alltäglichen Lebens gegen die hierarchisierte Macht fordern, fordern wir alles. Zurück in die Gegenwart: Ich – Auge in Auge mit dem Wirt – beschließe, das Stübchen bereits nach dem ersten Pils wieder zu verlassen, was ich nicht gerne tue, aber nun. In der Frohnhauser Straße & also ganz in der Nähe gibt es eine Gaststätte Becker, wo sich die nicht mehr jungen Gäste – sagt man: in Feierlaune? – um den Tresen drängen. Zum Glück kann ich etwas in Deckung gehen, mich an einen Tisch in der Nähe des Tresens verziehen. Es ist eine Abwägung: Ich möchte ein wenig Abstand halten, andererseits muß mir dann das Bier an den Tisch gebracht werden, was ich allerdings zu verhindern suche, indem ich mich bemühe, es am Tresen abzuholen, ehe der Wirt sich auf den Weg machen kann. Aber das gelingt meist nicht. Ich trinke sehr langsam, die Halsschmerzen zwingen mich dazu. Ich versuche gar nicht erst, Glühwein zu bestellen, habe das nach einem erfolglosen Versuch schon im Wilddieb aufgegeben. Die Feierlaune wird angeheizt durch Schlager, die auch in allen Kneipen dieselben sind, dieselben CDs, dieselben Hitradios, wie auch immer, & die leider deutsche Texte haben, so daß sie sich nur schwer ignorieren lassen & von der Wahrnehmung nicht widerspruchslos zurückstufen zum Geräusch. Zwei Frauen verleiten die Schlager sogar zum Tanzen. Die Kneipe ist groß genug. Tausendmal belogen. Er gehört zu mir. Ich war noch niemals in New York. Usf. Immerhin ist im Text dieses Schlagers von der Sehnsucht nach Revolte die Rede. Einmal verrückt sein & frei von Zwängen usf. Wünsche, die man sich versagt. Mit dem Sänger, der sie sich ja auch versagt, kann man sich identifizieren. Kann diese Bankrotterklärung mitgrölen. Weil man glaubt, daß einem nicht mehr zusteht & daß sowieso alles keinen Sinn hat. Die meisten Menschen leben in dem von der Macht geschickt aufrechterhaltenen Schrecken vor dem Erwachen zu sich selbst. Tausendmal ist nichts passiert. Usf. Die alternden Paare in der Gaststätte Becker schauen sich tief in die Augen & berühren sich bei den Textstellen, die verkitschend die Liebe beschwören. Noch viele andere Banalitäten wären zu überprüfen. Ich trinke, geradezu grotesk langsam, mein Pils & lasse den Schlagerblödsinn auf mich einstürzen, Fetzen aus Gesprächen auch. 23 Uhr vorbei, ich muß hinaus in die Kälte, ein, zwei Kneipenbesuche auf dem Weg zur U-Bahn sollten noch möglich sein. Ich laufe die Mülheimer Straße entlang, mein Blick schweift in alle Seitenstraßen, damit mir keine Bierleuchtschrift entgeht. Manchmal handelt es sich um Trinkhallen, oft genug um Kneipen. Die Gaststätte Derts aber gefällt mir nicht. Sie wurde irgendwie steril renoviert, an den Wänden überall Metallschilder, Imitate historischer Werbetafeln, Pernod, Moulin Rouge, die Reproduktion eines Casablanca-Plakats. Beliebiger Nippes. Was soll das, wen interessiert das hier? & wieder wird Paris beschworen. Nun, sicher nicht das Paris, dessen Erniedrigung Guy Debord nicht mitansehen konnte & deshalb nach Italien flüchtete. Ich glaube, daß diese Stadt deshalb ein wenig früher als alle anderen verwüstet wurde. Sagt Debord. Weil die Revolutionen, die in ihr stets von neuem ausbrachen, die Welt zu sehr beunruhigt & verstört hatten & weil sie leider immer gescheitert sind. Das Pils ist noch immer nicht fertiggezapft, während ich die Gaststätte Derts am liebsten schon wieder verlassen würde. Ein Stammgast, der den ganzen Abend hier getrunken haben muß, bezahlt. Eine ältere Frau unterhält sich mit der Wirtin über Trinkgewohnheiten. Die Schänke indes ist öfters wegen Überfüllung geschlossen, & mir bleibt nur ein Tisch im Abseits, zwischen der Theke & den Toiletten. Man könnte hier sicher bis lange nach Mitternacht bleiben. Ich stelle mich an die einzige freie Stelle am Tresen, um mein Bier zu bestellen, & es wird mir bedeutet, daß ich im Weg stehe, aber nicht unfreundlich. Der Wirt sagt dann noch irgend etwas Bedauerndes, als er sieht, wie ich mich an den Tisch im Abseits verziehe. Ich will noch mit einer letzten U-Bahn in die Innenstadt, stelle ich mir vor, & steuere den U-Bahnhof Wickenburgstraße an. Wo man die U-Bahn zwischen die Fahrbahnen des Ruhrschnellwegs gepfercht hat. Es ist kurz nach Mitternacht. Ich muß feststellen, daß die letzte U-Bahn bereits vor einer Stunde gefahren ist. & das Freitagnacht! Im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr, in diesem Fall im Verantwortungsbereich der Essener Verkehrs-AG, werden regelmäßig auch die bescheidensten Erwartungen enttäuscht. Wir bewegen Essen. Höhnt der Werbespruch. Ein Nachtbus fährt stündlich & verspätet in die Innenstadt. Der Verkehr ist die Organisation der Isolation aller & insofern das Hauptproblem der modernen Städte. Er absorbiert alle Energien, die ansonsten der Begegnung oder anderen Arten von Beteiligung zur Verfügung stünden. Man kann das bei den Situationisten nachlesen. & meine Hoffnung richtet sich nun auf die Union Klause, denn die Idee, zu Fuß in die Innenstadt zurückzuwandern, verwerfe ich schnell. Meine Befürchtung, in der kleinen, in einer Seitenstraße gelegenen Kneipe gar nichts mehr bekommen, erweist sich zum Glück als falsch. Die Kneipe, in denen die fünfziger Jahre konserviert sind, ist dunkel & leer. Die fünfziger Jahre, als es das alte Paris, durch das Debord mit seinen Freunden zechend schweifte, noch gab. Nur noch zwei Gäste sitzen beim Würfelspiel an der Theke. Ich bekomme mein Pils & werde vom Wirt bedauert wegen meiner Unannehmlichkeiten mit Bus & Bahn. Daß das eben Provinz sei hier, meint der Wirt, & bezieht diese Aussage nicht nur auf diesen Stadtteil Frohnhausen, sondern auf die ganze Stadt Essen, wenn nicht das gesamte Ruhrgebiet. Nach den Fußballspielen in Gelsenkirchen & der anschließenden Sauferei habe auch er immer Probleme, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu kommen. Man spricht über den ebenso legendären wie erfolglosen Fußballverein Rot-Weiss Essen. Zu einem Auswärtsspiel nach Ahlen ist eine günstige Sonderfahrt organisiert worden. Man ist unschlüssig, ob man da hinwill. Daß jetzt alles anders werden solle. Merkt der Wirt an & spielt auf das sogenannte Kulturhauptstadtjahr an, das seine Schatten vorauswirft, & ist skeptisch: zuviele Projekte, zuviele Baustellen! In der Überflußgesellschaft zeigt sich der Ekel vor diesem Überfluß & vor seinem Preis. Nun läßt sich das im modernen Konsum aufgezwungene Pseudo-Bedürfnis zweifellos keinem echten Bedürfnis entgegensetzen, das nicht selbst durch die Gesellschaft & ihre Geschichte geformt wäre. Aber die Ware im Überfluß existiert als der absolute Bruch einer organischen Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Aber ein schnelles Pils geht noch. Ich schaue auf die Uhr, trinke hastig mein Bier. Der Wirt wünscht mir noch Glück mit dem Nachtbus & geht also nicht unbedingt von reibungslosen Abläufen aus im Essener Nachtverkehr. Er wird wissen, warum. Notfalls kehre ich zurück in die Union Klause. Der Nachtbus ist verspätet. Ich befürchte schon eine gröbere Störung oder Verfrühung oder was weiß ich. Der verspätete Nachtbus wird mich am Berliner Platz in die Innenstadt entlassen. Ich werde am Limbecker Platz über eine der vielen Großbaustellen – ein spektakuläres Einkaufszentrum – stolpern, dort aber wenigstens einen Winkel finden, in dem ich ungestört pissen kann. Ich werde mich dann in den dunklen Labyrinthen der Phoenix Sauna in der Viehofer Straße aufwärmen, einen Sexpartner gefunden & irgendwann auch abgespritzt haben, zurückkehren müssen schließlich in die Kälte eines noch immer dunklen Morgens.