Alexander Graeffs poetische Prosa:
Runen
In einer informationsüberfluteten Zeit, in der das E-Mail-Konto täglich von Nachrichten überläuft, in der kulturelle Phänomene im steten Fluss über das weltweite Netz ins heimische Arbeitszimmer dringen, verliert sich die Aufmerksamkeitsspanne in Sekundenbruchteile. Vielleicht möchte man das noch: das subjektive Zeitempfinden der Kindheit in das erwachsene Alter hinüberretten, doch der Atem für längere Texte mag auch bei den Literaturaffinen verlorengehen, seitens der Leser ebenso wie seitens der Autoren. Die Zerstreuung ist ein Resultat dieser Zeitknappheit und des Reizoverkills.
Autoren können sich aber auch bewusst für die kleine Form entscheiden.
In der Auseinandersetzung mit Poesie und Existenzialismus schafft Alexander Graeff in seinen Büchern einen Dialog von Welt und Innenwelt. Die Prosaminiaturen in seinem neuesten Werk Runen tendieren eher zu letzterem. Auf anscheinend unverbundene Weise, surreal verknappt auf je eine Buchseite gebracht, schildert Graeff keine nachvollziehbare Handlung – d. h. Handlung gibt es schon, aber nicht im konventionellen Sinne. Die Kohärenz der Texte ist nicht über eine Plotline gegeben, die einzelnen Sätze sind nicht logisch miteinander verbunden.
Die Prosaskizzen sind, wie schon in Graeffs vorigen Büchern, stark poetisch, können stellenweise ins Idiosynkratische übergehen. Das gestaltet die Lektüre zuweilen etwas anstrengend, denn es ist keine Lyrik, oder doch? Werde ich von der Erwartung in die Irre geleitet, dass Dichtung entsprechend gelayoutet sein sollte? Aber der Klappentext spricht selbst von „Prosaminiaturen“. Es fällt mir schwer, mich in die teils abstrakten Zeilen hineinzudenken.
In „Nadelkuss“ wird eine Partnerin konturiert, die Nadelküsse vergibt, der Erzähler aber hat eine Behinderung, die sie nicht akzeptieren kann. In „Krümel meiner Wirklichkeit“ folgt Graeff einer konstruktivistischen Weltwahrnehmung, verfällt jedoch nicht in einen allzu sardonischen Ton, wie er sich als eine Art Understatement in manche Romane einschleicht, aus Angst, man würde an große metaphysische Fragen rühren. (Dies nämlich, mysteriösen Umständen geschuldet, darf heute nicht mehr geschehen, zumindest nicht, wenn man als Autor noch nicht die Altersgrenze von 50 Jahren überschritten hat.)
Der Text „Hong Kong ist eine Reise wert“ zeigt exemplarisch Graeffs stark verkürzte Schreibweise: einzelne Stoßmomente, Augenblicke, reihen sich aneinander und 'ergeben' möglicherweise Hongkong oder auch einen anderen Ort. In der Verdichtung kann der poetische Eindruck dieser Metropole entstehen. Graeff reizt die Möglichkeiten der Gattungen aus, bildet eine Hybridform aus Prosa und Lyrik.
Eine Passage aus dem Stück „Nepal“:
Papa ist sehr glücklich heute. Ein Mann im Anzug ist gestorben – an einem Ort der Romantik. Ich sehe ein Eichhörnchen, es ist: promoviert und tätowiert. Jetzt reicht es mir den Honig, während Nepal einzigartige Bilder sendet. Das ist der Name dieses eigenwilligen Gewürzes. Warum ist einmal alles aus Schokolade?
Ein promoviertes und tätowiertes Eichhörnchen darf als metaphorisches Bild gewertet werden, denn in unserer Welt essen Eichhörnchen vorwiegend Nüsse und halten Winterschlaf. Wie nun das Eichhörnchen mit dem Land Nepal zusammenhängt, erschließt sich nicht aus dem weiteren Verlauf des Textes, muss es auch nicht. Das surrealistische Schreiben machte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor, wie man anscheinend unzusammenhängende Dinge in einen erzählerischen Zusammenhang bringen kann.
Hongkong wie auch Nepal auf solche Weise chiffriert als Reiseorte zu schildern wie Alexander Graeff es tut, kann als eine bewusste Emanzipation vom Genre der Reiseliteratur gewertet werden. Die Frage nach der Welthaltigkeit erübrigt sich bei diesem extrem kondensierten assoziativen Schreiben, das z. B. auf „Gewürz“ unvermittelt die „Schokolade“ folgen lässt. Dennoch dürften diese 'Reise'-Stücke für Besucher dieser Orte interessant sein, denn sie können die eigene Anschauung als Gegenerfahrung in Beziehung zu Graeffs Miniaturen setzen. Ich, der ich nicht selbst dort war, werde ein mehr oder weniger mythisches Bild in meinem Kopf hervorrufen, um Graeffs Nepal für meine Rezension gegengewichten zu können. Das ist es vielleicht überhaupt: Das Buch ist Kopfliteratur.
Rune – Chiffre – Chip
Zeitgenössische Poesie sucht mitunter, die Zeichen der Welt zu erforschen: Zeichen als Elemente eines hermeneutischen Prozesses, aber auch als Chiffren, als stark verdichtete Bilder. Ich bin nie ein großer Semiotikfreund gewesen; das Allverweisen und Chiffrieren ist Hirntraining, verwirrt jedoch eine realistische Wahrnehmung von Welt. (Mein Leseweg führte von der Lyrik zur Sachprosa und literarischen Essayistik.) – Es ist klar, dass kein literarischer Text nur eine Deutung zulässt. Verknappte Sprache jedoch hilft nicht, die Komplexität der Welt als soziales Mit- und Gegeneinander zu begreifen, stattdessen erfolgt ein Rückgriff auf eine Kunst-für-die-Kunst-Ästhetik, die anliegende Probleme der Gegenwart nicht klar beim Namen nennt. Der sachliche Bezug zur Realität ist marginalisiert (die Poesie könnte hinterrücks kommen und laut rufen: Das ist es doch! Welche Realität meinst du denn?), insofern eine innere Wahrnehmung zum Inhalt der Prosastücke wird und für sich steht. Es wäre dann (Was ist Kritik anderes, als die eigene Erfahrung mit der fremden Erfahrung zu vergleichen?) die formale Kritik noch möglich: Welche rhetorischen Mittel, welche Metaphern, welcher Rhythmus werden gewählt, und wie werden sie verwendet? Verliert die Metapher inmitten der Textwüsten, die die heutige Publikationswut produziert, nicht möglicherweise an Aussagekraft?
Graeffs Buch vergegenwärtigt auf subtile Weise die Allgegenwart der Poesie. Das zeigt m. E. aber auch das Dilemma literarischen Schreibens. Sobald man Worte setzt, spulen sich Bilder ab. Das Wort als etwas Isoliertes gibt es nicht. Die Frage ist: Soll man sich den Luxus der freien Assoziation gönnen?
Runen betitelt Graeff sein Buch. Er bezieht sich dabei nicht auf das antike bis mittelalterliche Schriftsystem der Runen, sondern auf die Begriffsbedeutung „Chiffren“, was weit über die Buchstabenebene hinausgeht.
Rufen wir uns die verschiedenen Verwendungen von Runen ins Gedächtnis zurück: Einerseits wurden sie zu magischen Zwecken gebraucht, andererseits, für eine kurze historische Zeitspanne, auch für Alltagskommunikation. Heute erscheinen sie vorwiegend im fantasy-literarischen oder auch im schwermetallischen Kontext [s. in diesem Zusammenhang auch das typographische Kompendium Fraktur mon amour von Judith Schalansky, Anm. d. Red.]. Graeff setzt sich hier bewusst zwischen alle Stühle. Inhaltlich nimmt er in seinem Band keinen Bezug auf die Runen. Das ist schade, weil auf diese Weise eine Neubesetzung des Themas möglich gewesen wäre. Semiotisch leuchtet der Bezug auf die Runen ein; der poetische Charakter von Graeffs Schreiben wird für den Titel Pate gestanden haben.
Es handelt sich um ein Spiel mit der historischen und zugleich esoterischen Bedeutung von Runen.
Sie sind dann nicht mehr Schriftzeichen einer regional und historisch lokalisierbaren Kultur, auch nicht Symbolträger einer esoterischen Archaik, sondern Medium der poetischen Hermetik, die versucht, komplexe Erfahrungen auf Reisen und im Alltag auf einen Buchenstab (!) zu komprimieren. Man kann sich das wie eine Plakette vorstellen, auf der ein Schriftzeichen, ein Ideogramm wie im Chinesischen, abgedruckt ist. – Hier könnte Graeff ansetzen und noch einen Schritt weiter in Richtung Speichermedium gehen, d. h. die Runen hinter sich lassen und eine Silikonplatine, einen Speicherchip anstreben. Das wäre dann vielleicht so etwas wie Lyrik im Science Fiction-Gewand.
Vielleicht sollte der Leser die Prosaminiaturen nicht so sehr als Inhalt, denn als Gedankenimpulsgeber verstehen?