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18. Mai 2020
Robert Mattheis
für satt.org
  Alexander Kluge, Russland-Kontainer
Alexander Kluge, Russland-Kontainer, Suhrkamp 2020. Gebunden, 444 Seiten, ISBN: 978-3-518-42892-4. Auch als eBook erhältlich.
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Die Bejahung des Anderen

Alexander Kluge bringt ein Buch mit bekannten und neuen Geschichten heraus, und Robert Mattheis bekommt gleich wieder einen euphorischen Anfall.

Als ich zufällig entdeckte, dass Alexander Kluge ein neues Buch herausgebracht hat, schrieb ich direkt an die Pressestelle des Suhrkamp Verlags, ob ich „Russland-Kontainer“ für satt.org rezensieren dürfe. Der Rest war Schweigen. Kein: „Eine wunderbare Idee“, kein: „Warum jammerst du nicht jemand anderen voll, du Loser?“ Okay, sagte ich mir. In der Coronakrise hat ein so prestigeträchtiger Verlag sicher Besseres zu tun, als sich um die E-Mail-Anfragen von irgendwelchen Spinnern zu kümmern.

Ich empfand keinen Groll. Wirklich nicht. Vielleicht empfand ich sogar ein bisschen Erleichterung. Vor allem begrüßte ich es, dass ich nicht wieder eine halbe Besprechung lang über mich selbst würde reden müssen, wie es heutzutage im Kulturjournalismus ja gang und gäbe ist. Erst mal erklären, wie beschwerlich die Anreise zu dem Theaterstück war. Dann ein bisschen die Inszenierung runtermachen. Abschließend von der tollen Theaterbar schwärmen.

So macht man seinen Job als Kritiker, wenn man als Profi ernst genommen werden will.

Alexander Kluge ist das genaue Gegenteil. Er ist wirklich die Freude am Sein, zum Sprechen gebracht. Er interessiert sich für sein Gegenüber. Er ist Feuer und Flamme für jeden Scheiß, ob Kolumbus, Kommunismus oder die Columbia-Katastrophe. Sein Gehirn freut sich über jede neue Synapse, und das macht Kluge zu einem Outlaw in unserer Welt, in der man eher dazu neigt, Gehirnmasse und Fettmasse gleichermaßen hasserfüllt zu betrachten.

Ich erinnere mich an die gemischten Gefühle, die es in mir auslöste, als ich Jürgen Habermas in einer Doku nuscheln sah, Kluge sei „der unzynische Denker katexochen“. Habermas, der angeblich ja an nichts so sehr glaubt wie an das offene Gespräch auf Augenhöhe (und auf Altgriechisch, oder in welcher Sprache seine Bücher geschrieben sind), ist überrascht, dass einer Miteinander nicht als Pokerpartie begreift. Dass es da einen gibt, der fest an geistiges Fairplay glaubt.

Man kann Kluge nur gratulieren, dass er in einer Zeit geboren wurde, in der man sich Großzügigkeit leisten konnte. Sogar als Intellektueller. Sogar als Autor.

Wie viele Geschichten hat Alexander Kluge inzwischen geschrieben? Wenn man sich die großen, dicken Bände anschaut, müssen es tausende sein.

Schon der Titel des neuen Geschichtensammelsuriums ist perfekt. Russland, ein Container. Was da alles drin steckt! Eine Wundertüte. All diese Quadratkilometer, diese Völkervielfalt, dieser Reichtum an Leid und Leidensbereitschaft. Und der Reichtum an Weltliteratur! Vor allem für uns Deutsche, die Anrainer, die zwar Westen sind, aber kein ganz von seiner Westlichkeit überzeugter Westen, ist dieser gewaltige russische Kontinent (Kontainer) von magischer Attraktivität. Wir lieben Dostojewskij, wir lieben Tolstoi (dessen Bücher Kluge zu Kurztexten schleift). Ich weiß nicht, ob jemand auch Gogol liebt, aber Vladimir Nabokov, der hat definitiv zahllose Verehrer hierzulande. Nabokov träumte zeitlebens, auch noch als skandalumwitterter und erfolgsverwöhnter Autor von „Lolita“, von der Weichheit und der Schönheit der russischen Sprache.

Kluge leistet sich den Luxus, superintelligente Bücher zu schreiben. Bücher, in denen man blättert, um das leise Erschauern auf dem Rückgrat zu genießen. Grandiose Bücher, die nie aufhören zu inspirieren. Viele Texte sind natürlich auch Murks, beim näheren Zusehen. Das darf man nicht unter den Teppich kehren. Er ist nicht immer ein großer Stilist. Seine Projekte mit Helge Schneider zeigen, dass er alles andere als ein Humorist ist. Und doch. Man muss ihn vielleicht vorrangig auch als Adorno-Schüler sehen; wie er Adorno lebendig erhält, ihn beatmet, tatsächlich aus dem fast verkrampften Hypersensibilitätsanspruch Lebensmöglichkeiten ableitet. Aus dem Teddy macht er einen Bären. Dank einer geistigen Beweglichkeit und einer intellektuellen Kraft, die einzigartig sind. Auch seine Ausstellung im Münchner Literaturhaus, einem Ort, dessen Snobismus natürlich zum Kotzen ist, aber diese Ausstellung: Man stößt trotz des widerlichen, geisttötenden Ambientes, wo schon die Kellner so arrogant sind wie andernorts die Starlektoren, doch noch einmal auf einen Film, der einem die Haare aufstellt.

Die Presseleute bei Suhrkamp straften mich also mit Nichtachtung, und ich kaufte mir „Aurora“ von Robert Harris, einen Thriller, der so brillant ist wie nur was, das russische Pendant zum „Vaterland“. Und ich besorgte mir von Peter Pomerantsev „Nothing is True and Everything is Possible“ (Faber & Faber, 2017). Wow. Pomerantsev, Spezialist für Dokumentationen (was ihn mit Kluge verbindet, wie mir gerade auffällt), hat im Zuge seiner Arbeit für russische TV-Sender Kleinmafiosi kennengelernt, die ihr Hometown in Angst und Schrecken versetzen. Er hat Models begleitet, die danach streben, mit ihrem Leben und der schrecklichen Leere des Postsozialismus zurecht zu kommen, und doch am Ende von einem Hochhaus in New York springen, weil eine Sekte sie innerlich ausgehöhlt hat. Er beschreibt eine Wirklichkeit, die von ein paar größenwahnsinnigen Gangstern und Reality-Script-Doktoren am Roten Platz ausgedacht wird.

Das Beängstigende an diesem Buch ist, dass man nicht umhin kann, darin eine unheimliche und unklare, aber nicht von der Hand zu weisende Verwandtschaft zu unserer augenblicklichen Gesellschaftsverfassung zu spüren. Vielleicht ist bei uns nicht alles möglich, aber alles scheint mehr und mehr unwahr. Was wir vor ein paar Jahren noch für unumstößliche Grundsätze hielten, löst sich auf. Was tritt an dessen Stelle? Wirres Verschwörungsgerede von Rappern. Leute, die glauben, Bill Gates könnte uns per Impfstoff Chips unter die Haut spritzen. (Beinahe rührend, dass sie offenbar glauben, sie hätten noch Geheimnisse, die nicht über die elektronischen Medien zirkulieren!) Der Weltgeist Hegels steckt mitten in einer Schaffenskrise!

Ganz unterschwellig hatte Kluge mich auf einen Russland-Trip geschickt.

Ich schaute mir sogar den Film „Kursk“ an. Guter Film. Von Thomas Vinterberg inszeniert. Mit Peter Simonischek als Flottenadmiral, der versucht, eine Katastrophe zu verhindern. Was ihm von den alten Mächten im Kreml (Max von Sydow) untersagt wird.

Die Kursk ist auch ein Thema bei Alexander Kluge. Sie war es schon im grandiosen Geschichtenband „Die Lücke, die der Teufel lässt“, und sie ist es im „Russland-Kontainer“ wieder, wie ich feststellte, als plötzlich das Rezensionsexemplar in meinem Briefkasten ... stak. Suhrkamp hatte geliefert!

Was klar ist: Kluge ist das exakte Gegenteil eines Verschwörungstheoretikers. Er ist ein Aufklärungstheoretiker. Ob er auch das exakte Gegenteil eines Rappers ist, weiß ich nicht. In jedem Fall ist er ein surrealistischer Reporter. Zu seinen Vorbildern rechnet er Ovid, den römischen Dichter, der einst klagte, was auch immer er niederschreibe, verwandele sich in Hexameter, jeder Stoßseufzer gerate ihm zu Dichtung.

Ovids Hauptwerk sind bekanntlich die „Metamorphosen“. Und solche schreibt auch Kluge. Er schreibt sie mit Bleistift in Kladden, und dann diktiert er sie in den Computer. Manchmal geht er etwas achtlos mit seinem Material um. Er selber erklärt in einer poetologischen Stellungnahme in seinem „Russland-Kontainer“, diese Materialansammlungen gestalte er dann und wann ganz bewusst wie riesige Flächen. Der Leser ist aufgefordert, sich ihnen einzuschreiben. Die Spuren seiner Suche, seines Denkens, seines Nachforschens auf ihnen zu hinterlassen.

Das mag jetzt etwas sehr nach literaturwissenschaftlichem Seminar klingen. Aber die schiere Breite und Tiefe der Materialmassen, die Kluge zusammenträgt, sind faszinierend. Aber hier und da könnte er ein wenig mehr nach Hexametern streben. Mein Gefühl. Aus dem gleichen Geist, aus dem manche murren, Bob Dylan könne nicht singen, könnte man auch sagen, Alexander Kluge könne nicht schreiben. Ein Sakrileg! Aber er macht es seinen Lesern nicht gerade einfach. Wenn es läuft, erzeugt er einen erzählerischen Sog, einen Alexander-Kluge-Sound. Wundervoll. Beispielsweise ein Text über Vögel, die sich toten Soldaten nähern, die Napoleons Russlandfeldzug bei Borodino produziert hat. Das ist großartige Literatur. Eine Art Kurzoper der Evolution. Aber manchmal wirken die Fleischbrocken doch etwas hingeklatscht. Lieblos abgeliefert. Könnte man da keine Steaks draus machen? Sie ein bisschen pfeffern und salzen, sie scharf anbraten, dann garen lassen?

Hier geht die Philosophie des Kairos, der Kluge anhängt, nämlich den rechten Augenblick abzupassen, um Großes zu vollbringen, genauso in die Hose wie dieser Satz, in dem ein Kairos in die Hose geht. Da entsteht dann leicht ein großer Quark.

Egal, Kluge glaubt an den Leser, vielleicht sogar an dessen Fähigkeit, stilistische Verbesserungen vorzunehmen. Auch das ist natürlich eine faszinierende Poetik!

Weil er viele Fotos aus seinen filmischen Arbeiten in das Buch aufgenommen hat: Kritik muss man auch an der lehrstückhaften Ästhetik üben, mit der Kluge dctp betreibt. Diese Text-Musik-Montagen wirken etwas altbacken. Auch da entsteht mitunter der Verdacht, dass dem Altmeister die Passgenauigkeit der Form manchmal eher schnuppe ist. Andererseits ist auch das Lehrstückhafte ein wohltuend abweichender Ansatz in einem Zeitalter permanenter Überproduktion von Dreck – entscheiden Sie selbst. Es gibt auch bei diesen Videogesprächen natürlich Sternstunden. En masse. Wenn beispielsweise mit dem Storytelling-Coach Uwe Walter über die Heldenreise fabuliert wird. Wenn der Übersoziologe Dirk Baecker über postheroisches Management assoziiert. Oder wenn Svetlana Alexandrowna Alexijewitsch von der „Frau des Montagearbeiters“ erzählt, der in Tschernobyl verheizt wurde. Das ist eine wahnsinnig anrührende Geschichte. Weil die „Bio-Roboter“, die damals von der sowjetischen Regierung benutzt wurden, um das havarierte Atomkraftwerk aufzuräumen, extremen Strahlungsdosen ausgesetzt waren, starben sie allesamt bald darauf einen schrecklichen Tod. Auch dieser Montagearbeiter wurde von der atomaren Strahlung in Mitleidenschaft gezogen. Und wie. Er wurde in ein Scheusal verwandelt, in ein Monster, mit riesig aufgeblähtem Kopf. Ein Anblick, den man gar nicht ertragen konnte. Trotzdem begab sich seine Frau jeden Abend zu ihm, um ihm erotisch zu Diensten zu sein. Was Alexijewitsch den erstaunten Ausruf entlockt: Wer, außer einer russischen Frau, wäre zu so einer Hingabe fähig?

Hingabe an den Augenblick, Hingabe an das Wissen, Hingabe auch an eine nicht zu bewältigende Aufgabe, das Erzählen der Gegenwart, der Welt, des Kosmos — meine Damen und Herren: der eine und einzige ALEXANDER KLUGE!