Gefangen in schwarzen Ketten
Sorry, Rezensionen sind eigentlich nicht dazu da, um persönliche Geschichten
loszuwerden, sich selbst zu profilieren und dabei den Großkotz raushängen zu
lassen. Aber als das neue Veljanov-Album taufrisch auf meinen Schreibtisch
flatterte, fiel mir doch eine meiner Promi-Lieblingsgeschichten ein. Herr
Veljanov persönlich saß mir mal Anno Zwiebel in einem Bochumer Seniorencafe
gegenüber. Eine ganze Truppe illustrer Gäste war an dem Tag von der von mir
sehr geschätzten Plattenfirma CHROM-Records dort zum gemeinsamen
Kaffeeklatsch geladen worden. Alexander Veljanov und ich hatten beide
Apfelkuchen auf dem Teller liegen; wir löffelten brav und schweigsam vor uns
hin, betrachteten uns ängstlich und voller Demut. Ich war demütig, weil er
doch seinerzeit mit "Love me to the end" ein grandioses Liebeslied gesungen
hatte; er war wohl demütig, weil meine Band Stendal Blast als Enfant terrible
(oder horrible) der Szene galt und alle wußten, daß wir böse sind. Jedenfalls
geschah es, daß ich in einem Anflug von Einfall mit vollem Mund etwas zum
Besten gab; bereits beim ersten Wort spratzte ein kleines, aber nicht
winziges Stück durchweichten Apfelkuchens aus meiner Schnute. Ich sah es
fliegen, in einem hohen Bogen über den Tisch, direkt auf Alexander Veljanov
zu. Ich fürchtete, es würde auf seinem Seidenhemd landen; bestenfalls würde
er es nicht bemerken. Aber nein, weit gefehlt: Das Stückchen Kuchensabber
landete punktgenau auf seiner Gabel, die, bereits mit einem Stückchen Kuchen
gefüllt, Richtung Mund unterwegs war. Ich sah es landen. Mein Warnschrei
blieb mir im Halse stecken, denn Herr Veljanov aus Berlin versenkte im
gleichen Augenblick die Gabel in seinem Sängermund …
Tja, jetzt ist es raus. Ich habe dem Deine-Lakaien-Sänger auf die Gabel
gespuckt und er hat es gegessen. So spielt das Leben manchmal; ich hoffe
sehr, es hat ihm nicht geschadet.
Daß es ihn nicht davon abgehalten hat, ganz fantastische Musik zu machen, ist
allein durch sein neues Soloalbum "The sweet life" bewiesen. Ich möchte hier
die Welt nicht wieder in Gruftie-Musik und Nicht-Gruftie-Musik teilen; es
wäre absolut unpassend, die gefräßige Gruftie-Welt auch noch dahingehend zu
unterstützen, daß man bei diesem Album nun von "Dark Wave" oder "Gothic"
sprechen würde. Die sogenannte "schwarze Szene" (das meint aber nicht die
"Autonomen") vereinnahmt gerne alles, was ein bißchen schwermütig ist; das
gibt dann den sogennaten "Gruftie-Stempel" und aus ist es mit dem Wunsch des
Künstlers, anständig von seiner Musik existieren zu können. Alexander
Veljanov bietet auf seinem Album weit mehr als irgendwelche klischeehaften
Plattitüden; hier darf die rothaarige Krankenschwester genauso ins Schwärmen
geraten wie Mami und Papi, wenn sie mal wieder romantisch Knuddeln wollen.
Doch wenden wir uns mal den harten Fakten zu: Musikalisch ist dieses Album
letztendlich nur in die Kategorie "Uneinkategorisierbar" einzukategorisieren.
Es findet sich von der Ethno-Pop-Ballade "The sweet life" bis zum rockig
orientierten "Fly away" und zur Coverversion "Das Lied vom einsamen Mädchen"
im Derrik-Ambiente eine dicke Bandbreite an musikalischen Fähigkeiten;
zusammengehalten von Veljanovs unverkennbarer, melancholischer, schwerer,
äußerst angenehmer Stimme und wunderbar einfühlsam von Dave Young produziert,
der (und jetzt hauen wir mal auf die Kacke!) schon mit David Bowie, den
Pointer Sisters (wow wow wow!!) und John Cale zusammengearbeitet hat.
Alexander Veljanov behauptet sich mit seinem neuen Album zweifelsohne als
Unterhaltungskünstler der besonderen Art! Es dürfte ihm keineswegs um die
Neuerfindung der Popmusik gehen, auch nicht um ein epochales Kunstprodukt
oder die besondere Message - es geht ihm um die kleine melancholische
Abendgestaltung, um die Lust, ein bißchen traurig zu sein. Und er schenkt der
Welt eine Platte, während der man durchaus und voller Vergnügen das ein oder
andere Tränchen vergießen darf. Das befreit und reinigt die Augen!