Nein, kein Punk-Revival, keine Retro-Sensation: Punk war nie wirklich tot, jedenfalls nicht dann, wenn man Punk auf seine auf optische Brachialreize zielende Oberfläche reduziert. Grüne Iros und benietete Lederjacken wachsen in Deutschlands Fußgängerzonen immer wieder nach - aber wie war das eigentlich "damals", vor fünfundzwanzig (!!) Jahren? Wie wurde die aus England herüberschwappende Punkbewegung in Deutschland wahrgenommen? Wie wurde man vom Langhaarhippie zum geschorenen Jung-Punk? (Zitat Xao Seffcheque: "Und ich ließ mir die Haare schneiden. Und das war dann wirklich das Gefühl, es kommt Luft an meine Birne." /Verschwende Deine Jugend, S. 19) Wie war die allgemeine Stimmung im Deutschen Herbst, als in jedem Postamt ein Fahndungsplakat mit den sexy terrorists der RAF hing?
Das Buch ist nun schon fast ein Jahr auf dem Markt (VÖ 17.10.2001), die CD seit April 2002. Beides sind Bestseller, das Buch erreichte Platz 4 der amazon.de-Verkaufsrangliste und das bei Konkurrenten wie Harry Potter und Bridget Jones. Alle nur halbwegs relevanten Presseorgane Deutschlands (Zeit, Spiegel, SZ, FR, Intro, Spex, etc.pp.) brachten Rezensionen, teils euphorisch, teils kritisch, aber klar ist: Jürgen Teipel, der Autor oder besser Cutter von "Verschwende Deine Jugend" hat einen Nerv getroffen, den die Generation Golf nicht besitzt, aber sehr wohl diejenigen, die sich nicht zur Benetton- und Barbourfraktion zählten. Und das scheinen ganz schön viele zu sein, wie man am Erfolg von verwandten Veranstaltungen wie z.B der Ausstellung "Zurück zum Beton" in Düsseldorf sehen kann. Offenbar ist Deutschlands Kulturlandschaft jetzt reif für die längst fällige Würdigung und Wahrnehmung einer Bewegung, die so viel mehr war und doch nicht wurde als Sicherheitsnadeln im Ohr, Komasaufen und schnelle onetwothreefour!-Musik. In seinem Vorwort zu "Verschwende Deine Jugend" dankt Jürgen Teipel neben vielen anderen auch Christoph Schlingensief und Walter Moers, die dann leider doch keinen Platz im Buch fanden - die Erwähnung dieser Künstler bedeutet, dass deren Aktivitäten, sei es auf der Bühne oder im Comicbuch, ohne Punk heute so nicht möglich wären. Selbst von der Harald-Schmidt-Show wird mittlerweile in den Feuilletons behauptet, dass es sie ohne punk-attitude nicht geben würde.
Teipels Lesereise (im Frühjahr 2002, im November wird er wieder unterwegs sein) tat ein übriges, eine Diskussion anzustossen, an der erfreulicherweise auch die eigentlichen Protagonisten beteiligt sind - in vielen Musikzeitschriften gab es Interviews, (z.B. Intro 8/02: Martin Büsser im Gespräch mit Jürgen Teipel, Franz Bielmeier, Peter Hein, Frank Fenstermacher u.a.) die den "Betroffenen" ermöglichen, sich selbst zum Buch und öffentlichen Reaktionen zu äussern.
Teipel, Jahrgang 61, machte sich vor drei Jahren an die Arbeit: er interviewte die vergessenen und die populären Protagonisten der Punk- und New Wave-Bewegung in Deutschland und stellte die Interviewausschnitte unkommentiert, aber zu Kapiteln geordnet in einem schließlich 370 Seiten starken Buch zusammen. Die Idee der O-Ton-Historie ist nicht neu: schon 1993 erschien "From the Velvets to the Voidoids" von Clinton Heylin und 1996 "Please Kill Me" von Legs McNeil/Gillian McCain. Beide Titel bestehen hauptsächlich aus Interviewschnipseln mit Punkmusikern wie den Ramones, den New York Dolls, Blondie und unzähligen mehr, allerdings durch mehr erklärenden Text verbunden als in "Verschwende …". Teipel ordnet nur durch Chronologie und Überschriften, die teilweise Songtiteln entliehen sind wie "Zurück zum Beton" oder "Gold und Liebe". Wer sich über den Buchtitel "Doku-Roman" wundert: aus den sich häufig heftig widersprechenden Interviewauszügen entwickelt sich ganz von alleine ein wirrer, aber fesselnder - ja, Roman. Große Aufschneider wie Ben Becker oder Gabi Delgado stehen den geerdeten (und wirklich coolen) Peter Hein, Gudrun Gut oder Jäki Eldorado gegenüber. Stars und Talkshowlieblinge wie Campino, Blixa Bargeld und auch Nina Hagen (damals keineswegs von den "richtigen" Punks akzeptiert!) dokumentieren, dass auch ehemalige Bürgerschrecks zu anerkannten Vertretern deutscher Popkultur mutieren können. Bei allen Widersprüchlichkeiten der Interviewten untereinander werden dennoch die Gemeinsamkeiten deutlich: der Hass auf Hippies, der endlich ein Ventil fand; die Begeisterung für die neue Musik aus England und der Drang, selbst zu dieser "unfassbar neuen" (Artikelüberschrift Frankfurter Rundschau) Bewegung zu gehören. Nicht "No Future", sondern "No more Heroes" - das war der Punk(t).
Als wichtigste Handlungsorte werden Hamburg und Berlin, aber in erster Linie Düsseldorf und der Ratinger Hof (Kneipe, in der viele Konzerte stattfanden) definiert. Es dauerte eine ganze Weile, bis die einzelnen Szenen von einander Notiz nahmen - und das lief nicht ganz reibungslos. Obwohl sich die Interviewten heute über die abenteuerlichen Schilderungen von Prügeleien oder wahrhaften Saalschlachten wundern (als große Schläger waren der KFC oder die Krupps verschrien), kann der gewalttätige Aspekt nicht ausser acht gelassen werden. Offenbar war die allgemeine Verunsicherung über so viel Neues stark genug, dass die falsche Hose für den Ausgang eines Konzerts oder Kneipenabends durchaus entscheidend sein konnte.
Im Zusammenhang mit Punk wird gerne der Begriff des Scheiterns ins Spiel gebracht, ein besonders häufig erwähnter angeblich Gescheiterter ist Peter Hein, (Ex-)Fehlfarben-Sänger. Der hatte nach der ersten Fehlfarben-LP "Monarchie und Alltag" und einer anschließenden Tournee keine Lust mehr und ging zurück zu RankXerox, wo er heute noch arbeitet. Seine - guten - Gründe erläutert er im Buch und in verschiedenen Interviews. Diese radikale und kompromisslose Haltung verkörpert den Punk at Heart mehr als die Toten Hosen, die man in Sinne von Punk wohl eher als "gescheitert" bezeichnen kann. Okay, sie brachten Punkrock in Bierzelte und Fußballstadien, aber wollte Punk dort überhaupt hin? Ist das nicht der krasseste denkbare Widerspruch - Punk als Mainstream, in ein- und derselben Plattensammlung mit den Böhsen Onkelz oder Pur?
Dass Punk keine homogene Musikrichtung war, sondern als Label für vieles diente, was 1979 in keine Schublade passte, zeigt die "Verschwende …"-CD, die übrigens auch ohne Buch geplant war. Frank Fenstermacher vom Label AtaTak (früher bei Der Plan) trug sich schon länger mit der Idee, nun war der Zeitpunkt ideal. Die CD vereint so unterschiedliche Bands wie Der Plan und Die Krupps, den KFC und Malaria!, Andreas Dorau und DAF - unter welchem anderen Oberbegriff als Punk könnten diese sonst zusammenpassen?
49 Stücke finden auf den zwei CDs Platz (unter Nummer 25 auf CD 1 erklingt die Stimme von Horst Herold: "Wir kriegen sie alle" - Endlos-Auslaufrille auf der ersten Abwärts-LP), man kann mehrere Strömungen erkennen: die Anti-Hippie-Punkbands erster Stunde wie Mittagspause, Male, S.Y.P.H., deren Songtitel allein schon klarmachen, dass nun Schluss ist mit Love & Peace - Innenstadtfront, Zurück zum Beton, Industriemädchen. Dann die Avantgarde-Experimentalisten wie Einstürzende Neubauten, Mania D., Malaria!; die Verspielten wie Andreas Dorau (von ihm stammt der einzige AtaTak-Smash-Hit "Fred vom Jupiter", der auch auf NDW-Fetenhits-CDs vertreten ist) und Der PLAN; die EBM-Vorläufer DAF und Krupps und die Bierdosenfraktion wird vertreten durch den KFC und ZK.
Ich bin sicher, dass allen HörerInnen und LeserInnen eine Geschichte über die eigene verschwendete Jugend einfallen wird; ich persönlich warte zum Beispiel immer noch auf die Krupps-Maxi-Single "Wahre Arbeit, wahrer Lohn", die ich vor 20 Jahren im Elektroladen unserer Vogelsberg-Kleinstadt bestellt hatte. Sie kam nie an, weil zwischenzeitlich der "Eigelstein"-Vertrieb Pleite gemacht hatte. Auch das war Punk. Und für all die kleinen und grossen Erinnerungen im Zusammenhang mit PUNK gehört Jürgen Teipel ganz fett gedankt - und nicht zuletzt bringen uns CD- und Buchcover-Artwork zwei Farben wieder, die Punk einst in alle Netzhäute brannte:
Neongelb und Neonpink .
P.S.: Fehlfarben gibt es wieder. Mit Peter Hein.