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März 2003
Christina Mohr
für satt.org


Fehlfarben:
Knietief im Dispo

Studio K7/Zomba 2002

Fehlfarben: Knietief im Dispo

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Knietief in Darmstadt

Fehlfarben in Darmstadt, Centralstation 5.2.03


Fehlfarben: Die BandDer erste Blick in den Saal lässt hoffen: lauter Ü-30er, keine Teenies. Die Fehlfarben sind also keine Opfer des Achtziger-Jahre-Hypes geworden. Die Leute, die hier sind, wollen die Band wirklich sehen, kennen ihre Stücke und erwarten bestimmt keine NDW-Party mit Schmetterhits und Polonaise. Die Centralstation füllt sich schnell, die Erwartungen sind hoch. Wird es peinlich? Wird man sich hinterher wünschen, es hätte das Buch "Verschwende Deine Jugend" nicht gegeben? Schließlich wurde damit eine Lawine losgetreten, deren Auswirkungen noch nicht absehbar sind – und nicht alle Leichen will man wiederaufstehen sehen.
Die Vorgruppe Angelika Express – drei junge Jungs aus Köln – wird zunächst zurückhaltend, dann mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Mein erster Eindruck: "na toll, die wollen wohl eine Mischung aus den Strokes und Tocotronic sein" geht nahtlos über in mein Fazit: "na toll! Die klingen ja wie eine Mischung aus den Strokes und Tocotronic!" Druckvolle, kurze, knappe Songs mit charmanten Referenzen an alte Helden, z.B. die Coverversion von "Telephon" von Palais Schaumburg und ein Stück namens "Paul muss sterben" (nicht etwa "Paul ist tot", das werden wir später noch hören).
Die legendären und einzigartigen Fehlfarben lassen ein wenig auf sich warten. Allüren? Lampenfieber? Die Schlagzeugerin wird am Merchandising-Stand gesehen, ein gutes Zeichen. 22:20, sieben Leute betreten die Bühne und beginnen mit "Das Leben zum Buch" von der aktuellen Platte "Knietief im Dispo", dem – ja, sozusagen – Comebackalbum vom Herbst 2002. Den Musikern (allesamt ungefähr so auffallend wie eine Versammlung von Buchhaltern, abgesehen von der Schlagzeugerin, aber die ist ja auch eine Frau) merkt man die Unsicherheit an: das zweite Konzert der Tour in Hamburg war wohl eher durchwachsen, angeblich flogen sogar Bierdosen.
Aber dann ertönt die Stimme Peter Heins: kraftvoll, zornig und unverwechselbar. Schließ die Augen und Du bist zurück in 1980. Alles ist wieder da. Deine Wut auf die Welt und Deine Eltern, Deine Unsicherheiten, das unbestimmte Gefühl, dass nichts in Ordnung ist – aber auch die Dankbarkeit für die Platte "Monarchie und Alltag".
Die Stücke wechseln ab zwischen neu und alt, ein paar sind von der zu Unrecht wenig beachteten "Platte des Himmlischen Friedens" von 1989. Die wirklich antike Perle "Lachleute und Nettmenschen" dürfte nach dem Erfolg des Samplers "Verschwende Deine Jugend" (die Platte zum Buch, demnächst dann der Film zum Buch und zur Platte, kein Ende in Sicht) auch Nicht-Kennern des Fehlfarben-Schaffens vertraut sein.
Die Sachen von früher wie "Gott sei Dank nicht in England", "Paul ist tot" und "Grauschleier" klingen weniger eckig und rauh, haben ein leicht modernisiertes Klanggewand verpasst bekommen. Aber Hits zum Tanzen gibt es nicht - Fehlfarben-Stücke eignen sich nicht für Livekonzert-Pogo, vereinzelte Rufe aus dem Publikum nach "Punkrock" verhallen unkommentiert. Wenn schon keine Punk-, dann eine Popband? Populär im Sinne von "wichtig" ja, kommerziell und leicht konsumierbar sicher nicht. Auf die Fehlfarben passt kein Etikett.

Je länger das Konzert dauert, desto mehr taut die Band auf – anfängliche Wackligkeiten (verpasste Einsätze, Text vergessen) lösen sich in offensichtliche Spielfreude auf.
Hein kokettiert ein bisschen: "Ihr seid zu viele, das bin ich nicht gewohnt. Damit komm ich nicht klar", fühlt sich auf der Bühne aber doch ganz wohl. Zum Glück ist der Sound in der Centralstation klar genug, um die Lyrics gut verstehen zu können. Der bittere Gedanke drängt sich auf, dass die alten Texte der Fehlfarben-Klassiker kein bisschen angestaubt sind oder nach jugendlichem Sturm und Drang klingen. Nix hat sich geändert und früher war es auch nicht besser.
Das Publikum weiß hoffentlich zu würdigen, dass hier und heute immerhin (fast) die Originalbesetzung der Fehlfarben auf der Bühne steht: Frank Fenstermacher (Der Plan, A Certain Frank), Thomas Schwebel, Uwe Jahnke, Michael Kemner, Pyrolator; Saskia von Klitzing am Schlagzeug ist die einzige Neubesetzung.
Inmitten seiner unauffälligen Band wirkt Hein wie eine Diva und kann die rheinische Frohnatur nicht immer verbergen (ja, er macht lustige Ansagen!). Mit Blick auf den Merchandising-Stand erklärt er die "Butterfahrt für eröffnet", man kann dort zwar keine Heizdecken, aber immerhin Kaffeetassen mit Club-der-schönen-Mütter-Aufdruck erstehen und einige Kostbarkeiten aus dem Fehlfarben- und Atatak-Schatzkästchen. Okay – das gehört halt zum Gesamtpaket Platte-Tour-Interviews-Medienpräsenz dazu. In 2003 ist es schwer, die Nische zwischen Stardom und Außenseiterdasein zu finden. Auf der Fehlfarben-Website wird ausdrücklich auf den Sendetermin von Fast Forward auf Viva (26.2.) hingewiesen, die Band wird dort zu Gast sein.

Nach gut anderthalb Stunden ist das Konzert vorbei und die Band offensichtlich erleichtert darüber, dass sie zumindest in Darmstadt gemocht wurden. Es gibt sogar Zugaben – Fehlfarben also doch eine "richtige" Popband? – beeindruckend und verstörend zugleich ist Peter Heins A-Capella-Version des Clash-Songs "I'm so bored with the USA". Auch hier trifft er genau ins Mark, am Tag von Donald Rumsfelds Rede vor den vereinten Nationen.
"Es geht voran"? Das Credo der Fehlfarben 2003 lautet "Sieh nicht nach vorn". Zu recht.