Der erste Blick in den Saal lässt hoffen: lauter Ü-30er, keine Teenies. Die
Fehlfarben sind also keine Opfer des Achtziger-Jahre-Hypes geworden. Die
Leute, die hier sind, wollen die Band wirklich sehen, kennen ihre Stücke und
erwarten bestimmt keine NDW-Party mit Schmetterhits und Polonaise. Die
Centralstation füllt sich schnell, die Erwartungen sind hoch. Wird es
peinlich? Wird man sich hinterher wünschen, es hätte das Buch "Verschwende
Deine Jugend" nicht gegeben? Schließlich wurde damit eine Lawine
losgetreten, deren Auswirkungen noch nicht absehbar sind – und nicht alle
Leichen will man wiederaufstehen sehen.
Die Vorgruppe Angelika Express – drei junge Jungs aus Köln – wird zunächst
zurückhaltend, dann mit wachsender Begeisterung aufgenommen. Mein erster
Eindruck: "na toll, die wollen wohl eine Mischung aus den Strokes und
Tocotronic sein" geht nahtlos über in mein Fazit: "na toll! Die klingen ja
wie eine Mischung aus den Strokes und Tocotronic!" Druckvolle, kurze, knappe
Songs mit charmanten Referenzen an alte Helden, z.B. die Coverversion von
"Telephon" von Palais Schaumburg und ein Stück namens "Paul muss sterben"
(nicht etwa "Paul ist tot", das werden wir später noch hören).
Die legendären und einzigartigen Fehlfarben lassen ein wenig auf sich
warten. Allüren? Lampenfieber? Die Schlagzeugerin wird am
Merchandising-Stand gesehen, ein gutes Zeichen. 22:20, sieben Leute betreten
die Bühne und beginnen mit "Das Leben zum Buch" von der aktuellen Platte
"Knietief im Dispo", dem – ja, sozusagen – Comebackalbum vom Herbst 2002.
Den Musikern (allesamt ungefähr so auffallend wie eine Versammlung von
Buchhaltern, abgesehen von der Schlagzeugerin, aber die ist ja auch eine
Frau) merkt man die Unsicherheit an: das zweite Konzert der Tour in Hamburg
war wohl eher durchwachsen, angeblich flogen sogar Bierdosen.
Aber dann ertönt die Stimme Peter Heins: kraftvoll, zornig und
unverwechselbar. Schließ die Augen und Du bist zurück in 1980. Alles ist
wieder da. Deine Wut auf die Welt und Deine Eltern, Deine Unsicherheiten,
das unbestimmte Gefühl, dass nichts in Ordnung ist – aber auch die
Dankbarkeit für die Platte "Monarchie und Alltag".
Die Stücke wechseln ab zwischen neu und alt, ein paar sind von der zu
Unrecht wenig beachteten "Platte des Himmlischen Friedens" von 1989. Die
wirklich antike Perle "Lachleute und Nettmenschen" dürfte nach dem Erfolg
des Samplers "Verschwende Deine Jugend" (die Platte zum Buch, demnächst dann
der Film zum Buch und zur Platte, kein Ende in Sicht) auch Nicht-Kennern des
Fehlfarben-Schaffens vertraut sein.
Die Sachen von früher wie "Gott sei Dank nicht in England", "Paul ist tot"
und "Grauschleier" klingen weniger eckig und rauh, haben ein leicht
modernisiertes Klanggewand verpasst bekommen. Aber Hits zum Tanzen gibt es
nicht - Fehlfarben-Stücke eignen sich nicht für Livekonzert-Pogo,
vereinzelte Rufe aus dem Publikum nach "Punkrock" verhallen unkommentiert.
Wenn schon keine Punk-, dann eine Popband? Populär im Sinne von "wichtig"
ja, kommerziell und leicht konsumierbar sicher nicht. Auf die Fehlfarben
passt kein Etikett.
Je länger das Konzert dauert, desto mehr taut die Band auf – anfängliche
Wackligkeiten (verpasste Einsätze, Text vergessen) lösen sich in
offensichtliche Spielfreude auf.
Hein kokettiert ein bisschen: "Ihr seid zu viele, das bin ich nicht gewohnt.
Damit komm ich nicht klar", fühlt sich auf der Bühne aber doch ganz wohl.
Zum Glück ist der Sound in der Centralstation klar genug, um die Lyrics gut
verstehen zu können. Der bittere Gedanke drängt sich auf, dass die alten
Texte der Fehlfarben-Klassiker kein bisschen angestaubt sind oder nach
jugendlichem Sturm und Drang klingen. Nix hat sich geändert und früher war
es auch nicht besser.
Das Publikum weiß hoffentlich zu würdigen, dass hier und heute immerhin
(fast) die Originalbesetzung der Fehlfarben auf der Bühne steht: Frank
Fenstermacher (Der Plan, A Certain Frank), Thomas Schwebel, Uwe Jahnke,
Michael Kemner, Pyrolator; Saskia von Klitzing am Schlagzeug ist die einzige
Neubesetzung.
Inmitten seiner unauffälligen Band wirkt Hein wie eine Diva und kann die
rheinische Frohnatur nicht immer verbergen (ja, er macht lustige Ansagen!).
Mit Blick auf den Merchandising-Stand erklärt er die "Butterfahrt für
eröffnet", man kann dort zwar keine Heizdecken, aber immerhin Kaffeetassen
mit Club-der-schönen-Mütter-Aufdruck erstehen und einige Kostbarkeiten aus
dem Fehlfarben- und Atatak-Schatzkästchen. Okay – das gehört halt zum
Gesamtpaket Platte-Tour-Interviews-Medienpräsenz dazu. In 2003 ist es
schwer, die Nische zwischen Stardom und Außenseiterdasein zu finden. Auf der
Fehlfarben-Website wird ausdrücklich auf den Sendetermin von Fast Forward
auf Viva (26.2.) hingewiesen, die Band wird dort zu Gast sein.
Nach gut anderthalb Stunden ist das Konzert vorbei und die Band
offensichtlich erleichtert darüber, dass sie zumindest in Darmstadt gemocht
wurden. Es gibt sogar Zugaben – Fehlfarben also doch eine "richtige"
Popband? – beeindruckend und verstörend zugleich ist Peter Heins
A-Capella-Version des Clash-Songs "I'm so bored with the USA". Auch hier
trifft er genau ins Mark, am Tag von Donald Rumsfelds Rede vor den vereinten
Nationen.
"Es geht voran"? Das Credo der Fehlfarben 2003 lautet "Sieh nicht nach
vorn". Zu recht.