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August 2004
Gerald Fiebig
für satt.org


Das Netzwerk ist das Werk

Beim Online-Label Retinascan ist das Internet das zentrale Musikinstrument

Während die großen Labels in der aktuellen Kontroverse um das illegale Kopieren von Musik mehr oder minder deutlich sagen, dass das Internet die Musikkonsumenten zu Verbrechern macht, zeigt das Beispiel von Retinascan, dass es manche Musikhörer auch zu Labels machen kann.


Retinascan-LogoBurkhard Kerlin aus Osnabrück startete sein One-Man-Label Retinascan im Jahr 2000 und vertreibt über diese rein internetbasierte Plattform v.a. experimentelle elektronische Musik aus Deutschland und den USA, wohin auch Verbindungen zu zahlreichen Labels bestehen. Auslösend war der Wunsch, Musik befreundeter Künstler öffentlich zugänglich zu machen, und zwar ohne den kommerziellen Druck, große Stückzahlen absetzen zu müssen. Internet und CD-Brenner machen’s möglich: Die Website und E-Mails an persönliche Kontakte, also Networking nicht nur im technischen, sondern auch im sozialen Sinn, sind der Marketingapparat des Labels, die Produktion erfolgt Stück für Stück on demand, also erst bei Eingang einer Bestellung, und reduziert "Kapitalbindung" und Lagerhaltung auf ein Mininum. Auch Downloads werden angeboten, aber meist trägt Retinascan der Tatsache Rechnung, dass künstlerisch ansprechende Verpackung (wie die handgebastelten Hüllen der "mala"-CD oder das aufwendige Fotokunstbooklet, das John Kannenbergs Album "gelidus" begleitet) und die Möglichkeit, auch ohne enorme Download-Bandbreiten ein abgeschlossenes größeres Werk in Händen zu halten, durchaus zu den Bedürfnissen von Musikfans gehören.

Bedürfnissen, die von der Tonträgerindustrie mit ihrer am Markt vorbei geplanten Preispolitik einfach nicht mehr erfüllt werden, weil sie nicht einsieht, dass für die Leute, die sie nur als Konsumenten, sprich als Käufer von Musik sieht, nicht der Konsum, sondern das Hören das Allerwichtigste ist. Musikfans wie Burkhard Kerlin sind daher für Musiker, denen es um Austausch mit interessierten Hörern geht, vielleicht die besten Labelmacher, weil sie dieselben Prioritäten setzen: Große Stückzahlen sind nicht das Thema, denn dass man nicht allen Leuten dieselbe Musik aufzwingen kann, müssen ja sogar die Industrielabels zähneknirschend am eigenen Umsatzrückgang erfahren. Man kann den Leuten die Musik nur anbieten, über die intensiven Netzwerke verlinkter Labelsites werden immer wieder welche den Weg zu spannender Musik finden. (Die Linkseite von www.retinascan.de bietet sich als Einstieg in diese spannende Szene übrigens unbedingt an.)

Während der Musikfan, der MP3s einer bekannten Industrieband im Netz sucht, einfach googeln kann, hat der unbekannte Musiker, der seine Arbeit nichtkommerziell im Netz präsentieren will, das Problem, dass ihn nie jemand googeln wird, weil eben keiner seinen Namen kennt. Diesem Problem begegnen Labels wie Retinascan durch ihren Plattformcharakter: sie bündeln Geistesverwandte zu Kraftfeldern, Gravitationszentren, die für bestimmte musikalische Tendenzen stehen und dem musikinteressierten Surfer gezieltere Entdeckungsreisen im Umfeld einer Community mit gemeinsamen Interessen ermöglicht. Dass experimentelle elektronische Musik, die u. a. mit Remixes, gefundenen und recycelten Sounds (im Anschluss an die Musique concrète) und im Überschneidungsbereich zu bildender Kunst auch mit Echtzeit-Klanginstallationen arbeitet, eine besonders starke Affinität zu dieser Art des musikalischen Austausches hat, überrascht nicht. Diese Musik, deren musikalisches Objekt sich immer schon als Datei konstituiert, ermöglicht die Schaffung unbegrenzter neuer Klänge aus vorgefundenem Material und die permanente Überarbeitung vorhandener Sounds durch den Künstler selbst und andere. Mit anderen Worten, die dieser Musikströmung eigene rhizomatische Vernetzung und die Erzeugung von Klangmassen und -strömen, die zum Remix mal eben um die halbe Welt geschoben werden und als etwas völlig Neues zurückströmen, damit auch die Frage nach Autorschaft und Werkgrenze ganz neu stellen, findet im weltweit vernetzten Computer ihr Instrument schlechthin, sodass ein Online-Label wie Retinascan nicht nur eine behelfsmäßige Vertriebslösung mangels besserer Angebote erscheint, sondern als etwas, das der Produktionsästhetik der Musik entspricht und die Kluft zwischen dem Werk und dessen Vermarktung einebnet, weil der Markt – wegen der zahlenmäßigen Kleinheit des weltweit verstreuten Nischenpublikums, von dem hier die Rede ist – eigentlich gar keiner ist. Akteure und Hörer sind tendenziell deckungsgleich, das beuyssche "Jeder ist ein Künstler" scheint hier beinahe realisiert, und "Music from Everyone" lautet denn auch das Labelmotto.

Die theoretischen Wahlverwandten von Retinascan sind jedoch die Texte von Gilles Deleuze und Félix Guattari – deren Theoretisierung von Strömen, Rhizomen und Plateaus beschreibt nicht nur die Kompositionsweise der Musik, die auf Retinascan erscheint, sondern eben auch das sozial-technische Gefüge (Freundschaften per E-Mail), die "Menschmaschine", welche die Distribution der Musik vornimmt. Dass dieses Modell über die kleine Retinascan-Community hinaus Gültigkeit besitzt, zeigt sich am bekannteren Technolabel Mille Plateaux, auf das sich Burkhard Kerlin in einem Interview auch explizit bezieht: Labelchef Achim Szepanski gab 2003 zusammen mit Marcus S. Kleiner das Buch Soundcultures heraus, das die Affinität von deleuzianischer Philosophie und vernetzter Musikpraxis auf zahlreichen Ebenen herausarbeitet.

Als repräsentativ für die auf Retinascan erscheinende Musik kann unter den aktuellen Releases einmal John Kannenbergs bereits erwähntes Album "gelidus" gelten, eine sechsteilige Meditation über Vereisungsphänomene, die mittels modulierten Rauschens und massiver Klangblöcke, die sich im Spannungsfeld von Bassflächen und extrem hochfrequenten Tönen mit einem absoluten Minimum an Ausdrucksmitteln in erstaunlich intensive Klangräume hineinsteigert, bis man sich bei lautem Hören irgendwann in einer Lawine wiederzufinden meint. Doch auch das Mini-Album "An Instant Party Inter Pares" von Siemers, das in 20 Minuten volle 43 (!) Stücke präsentiert, ist geradezu programmatisch: für den kollaborativen Geist der elektronischen Community, insofern die meisten Stücke sich als Ausgangs-Samples für neue Stücke geradezu anbieten und z. T. auch schon so eingesetzt wurden (interessanterweise wurde dieser Ansatz durch den völlig analog arbeitenden Techno-DJ vorweggenommen, der aus einzelnen Platten im Mix ein neues Ganzes schafft). Aber auch für eine Kontinuität zwischen Punk und Electronica, die sich auf dem Album in Livemitschnitten aus Siemers’ musikalischer Vergangenheit in der Düsseldorfer Punk/New Wave-Szene offenbart. Dass diese experimenteller gepolt war, als man es heutigem Punkrock anhört, ist durch Jürgen Teipels Buch "Verschwende deine Jugend" ja wieder ins Bewusstsein gerückt worden, und offenbar ist es bei aller Unterschiedlichkeit der musikalischen Mittel der Geist der radikalen Infragestellung jener Werte, die "gute" Musik definieren, welcher die Punkrebellion gegen den Konsensrock und die elektronische Auflösung der Grenzen zwischen Musik und Geräusch kennzeichnet. Da ist es dann kein Stilbruch, dass mala auf ihrer ebenso betitelten Mini-CD bestimmte Manierismen von Metal- und Progrock auf die essenziellen Bestandteile reduzieren und diese improvisierend zu intensivst rockenden, emotionalen Stücken – weder Song noch Track, sondern permanentes Werden – entwickeln, die einerseits die Punktradition nicht verleugnen, aber in ihrem Streben nach Intensivierung durch Reduktion gar nicht so anders zu Werke gehen wie John Kannenberg mit seinem Laptop.