Großereignisse wie Neuveröffentlichungen von Bands wie Depeche Mode (oder REM oder U2, ähem) erfahren grundsätzlich eine andere Rezeption als neue Platten kleinerer Acts. Meistens kann man die Kritiker in drei Sparten aufteilen, a) die distanzlosen, affirmativen Gutfinder, die „Meilenstein!“ und „immer noch die Besten“ ausrufen; b) die Nörgler, die sich über Erfolg, Wohlstand, etc. der Künstler echauffieren und die Notwendigkeit einer neuen Platte heftig in Frage stellen und c) diejenigen, die's eh nicht interessiert und dann mit Fakten aufwarten (28. Studioalbum, 12 Zehntonner sind nötig, um das Equipment der Band zu transportieren o.ä.). Um die tatsächlich zu hörende Musik geht es selten und ich bin auch ein wenig ratlos, wie mit Depeche Mode umzugehen ist, die sich in den letzten Jahren zu so etwas wie den Rolling Stones der New-Wave-Elektro-Szene entwickelt haben: Gebeutelt, aber letztlich unkaputtbar; früher richtungsweisend, heute weniger wegen ihres Werks, sondern wegen ihres Noch-da-seins geliebt und bewundert und nur noch in Superlativen zu fassen. Komischerweise hält sich der Eindruck, DM seien eine „junge“ Band, obwohl es sie seit 25 (fünf-und-zwanzig) Jahren gibt, vielleicht hat das Laptop (früher: der Synthesizer) die Gitarre als Signum eines jungen, rebellischen und gefährlichen Lebensstils ersetzt. Der Altersdurchschnitt der DM-Konzertbesucher wird durch stetig nachwachsende Jung-Fans gesenkt, so dass auch hier sich eine familiäre Durchmischung ergibt wie – ja, bei den Stones.
Playing the Angel, in Fankreisen mittlerweile liebevoll PTA abgekürzt und codiert, wirkt nach den letzten beiden Platten Ultra (düster, das Phoenix-aus-der-Asche-Album nach Dave Gahans schweren Drogenproblemen) und der zu Unrecht etwas weniger liebgehabten Exciter (immerhin sind Hits wie Comatose und I Feel Loved drauf, die sichere Plätze auf den Playlists aller DM-Partys dieser Erde innehaben dürften) in der Tat so, als sei sie ohne Druck oder Drang entstanden, sondern aus guter Laune und Lust am Spielen – man könnte jetzt das alte, modrige Faß aufmachen, in welchem man die mehr oder weniger belegbare Weisheit findet, dass echte Kunst nur durch Leid entstehen kann. Martin Gore, Dave Gahan und Andrew „Fletch“ Fletcher beugen Nachfragen dieser Art geschickt vor, in dem sie den Satz „Pain and Suffering in Various Tempos“ hinten aufs Cover schreiben. Allerdings in Anführungszeichen … Der erste Track A Pain That I'm Used To beginnt mit alarmierenden Schab-Schleifgeräuschen, die unwillkürlich für Zahnschmerzen sorgen, aber dies bleibt die einzige „Störung". Der Rest des Albums präsentiert DM als lässige Profis und versierte Verwalter ihres eigenen Erbes – zu fast jedem Song findet sich ein Vorläufer oder Pendant aus vergangenen Schaffensphasen: John the Revelator knüpft an Personal Jesus an (nicht nur wegen der religiösen Konnotation,), Suffer Well, das erste von drei Dave-Gahan-Songs (er konnte sich nach –zig Jahren des Gore’schen Kompositionsmonopols durchsetzen, dass auch er eigene Songs beisteuern darf) will in einer Reihe mit Endachtziger-Hits wie Behind the Wheel gehört werden; The Sinner in Me erinnert vom ersten Ton an die Black-Celebration-Phase – düster und hypnotisch mit moderaten Industrialeinsprengseln, von Bristoler Triphoppern wie Massive Attack in den Neunziger Jahren weiter ausgeführt. Precious, die erste Single, ist so radiotauglich wie Enjoy the Silence; Nothing's Impossible, ein weiterer Gahan-Song, baut sich atmosphärisch auf und spielt eine der wichtigsten DM-Trumpfkarten lustvoll aus: Dave Gahans Stimme – wenn Mr. Gahan auch zuweilen gewaltig manieristisch und selbstverliebt klingt, aber gerade bei diesem Song wirkt er groß und ergreifend. Das von Martin Gore gesungene Damaged People zitiert Stripped (Abteilung nice to know but not necessary: Dave Gahan wollte keine Textzeilen singen wie diese: „We're damaged people / Drawn together / By subtleties that we are not aware of / Disturbed Souls / Playing out forever“ – nach seiner überstandenen Drogensucht war ihm das wohl zu negativ, deswegen singt Gore) und es finden sich viele weitere Bezüge dieser Art: an manchen Stellen von Playing the Angel klingen Depeche Mode wieder wie in den Achtziger Jahren, als Martin Gore zum Schluß von Everything Counts eine Spieluhr ertönen ließ. Wobei das Klingen nach sich selbst kein Kritikpunkt ist und sein kann; Depeche Mode haben sehr früh einen eigenen, unverwechselbaren Sound entwickelt, der sie nach Sekundenbruchteilen erkennbar macht, ein Wasserzeichen, das durch einen einzigen gespielten Ton dringt und Kritteleien wie „hört sich an wie immer“ obsolet macht. Playing the Angel ist detailverliebter als die Vorgängerplatten, die Band kramt auf ihrem eigenen Dachboden und findet gänzlich unverstaubte Spielsachen wieder – die große zusammenhaltende Klammer gibt es allerdings nicht, abgesehen von den obligatorischen Anton-Corbijn-Bandfotos (was werden DM tun, sollte sich Corbijn jemals als Fotograf zur Ruhe setzen? Sind andere Fotos als seine überhaupt denkbar?). Jedes Stück steht und fällt für sich allein, eine Art Mixtape aus bisher unveröffentlichen Songs.
Aber selbst wenn man nach intensivem Hören zu dem Schluß käme, Playing the Angel ist uninspiriert und so notwendig wie ein Greatest-Hits-Medley, würden Depeche Mode niemals durch Mißerfolg abgestraft werden – ihre unerschütterliche Fanschar erteilt ihnen den Freibrief, wirklich das tun und lassen zu können, was sie wollen. Und sei es eine langweilige Platte.