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Oktober 2005
Robert Mießner
für satt.org


The Fall:
Fall Heads Roll

Sanctuary 2005

The Fall: Fall Heads Roll
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The Fall:
Fall Heads Roll

"Wenn Du es nicht wie eine Garage-Band bringen kannst, dann vergiß es. Es ist noch nie untersucht worden, wie ein simpler Rock’n Roll-Song komplexe Zusammenhänge transportieren kann. Hätte ich ein Literat werden wollen, ich wäre einer."
Mark E. Smith
Mark E. Smith
Foto: © George Hamp

Mark E. Smith hat sich früh entschieden. Gegen Mittelmaß im Allgemeinen und die Mittelklasse im Besonderen. Für Rock ohne Rockerpose und – auch wenn er es abstreiten würde – für Kunst außerhalb der Kaffeehäuser. Mitte der siebziger Jahre greift der Manchester Dockarbeiter in den Pausen zu Stift und Notizblock, um seine surrealen Visionen aufs Papier zu bringen. Liest sich durch die moderne Literatur und hört mit Freunden Velvet Underground, Captain Beefheart und Can – Punk vor Punk. Als 1976 die Sex Pistols in Manchester auftreten, brechen die Dämme. Smith und Co. tun, was jeder in diesen Tagen tut. Sie gründen eine Band, taufen sich anfangs programmatisch The Outsiders und treten im Mai 1977 erstmals als The Fall auf.
Vor einem Publikum, das zur Hälfte aus den Buzzcocks besteht.

Dreißig Jahre später ist Punk eine Erinnerung und Design. Und The Fall veröffentlichen eine Platte, die beweist, dass da noch mehr war und ist als drei Akkorde und ein Vorwand für schlechtes Benehmen. „Fall Heads Roll“ erscheint in einem für die Band mehr als gutem Jahr. Smith, Kapitän des kühnen Unternehmens, ist spät, aber verdient für preiswürdig befunden worden. Diesel würdigte ihn für sein Lebenswerk. Das Londoner MOJO-Magazin hat „The Complete John Peel Sessions 197August 2004“ zur Archivveröffentlichung des Jahres gekürt. Die BBC verwendet „Theme From Sparta F.C.“ in ihrem wöchentlichen „Football Focus". Wir können nur vermuten, worüber sich der Ausgezeichnete am meisten freut.

Fall-LPs bräuchten im Grunde keine Liner-Notes, hat BBC-DJ John Peel, langjähriger Förderer und Fan der Band, einmal geschrieben. Der vor knapp einem Jahr Verstorbene kann „Fall Heads Roll“ leider nicht mehr hören. Braucht das nach konservativer Schätzung 25. Studioalbum der Band überhaupt eine Besprechung? Es hat sie mehr als verdient. The Fall in allen ihren wechselnden Besetzungen waren immer dann am besten, wenn sie sich aktueller Trends bedienten, ohne ihnen völlig zu verfallen und sich stattdessen nahmen, was für ihre ureigensten Visionen von Belang war. Das Debüt „Live At The Witch Trials“ (1979) klang, wie Punk hätte klingen sollen. „Hex Enduction Hour“ (1982) und „This Nation’s Saving Grace“ (1985) definierten Post-Punk und Avantgarde-Wave. Als Techno und Rave Anfang der neunziger Jahre in aller Ohren waren, bewiesen „Shift-Work“ und „Code:Selfish", dass dabei das Gehirn nicht zwangsläufig abgeschaltet werden musste. Inmitten des jüngsten Booms der späten Siebziger ist „Fall Heads Roll“ auf der Höhe der Zeit. Und ihr doch wieder einen Schritt voraus. The Fall sind zurück bei den Stooges und Bo Diddley, ohne dabei wie eine Revivalcombo zu klingen. Weniger elektronisch als der Vorgänger „Country On The Click“ (2003) dominiert auf 14 Songs, viele von ihnen bereits live erprobt, die unheilige Dreieinigkeit von Gitarre, Bass und Schlagzeug. Zugleich rohe und atmosphärische Keyboards setzen Akzente – zu hören auf „Blindness“ und „Youwanner", den zentralen Stücken des Albums. Um so größer fällt die Überraschung aus, wenn der Härtetest für die Verstärker unterbrochen wird. „Midnight In Aspen/Aspen Reprise", vermutlich eine Hommage an Hunter S. Thompson, im Februar diesen Jahres freiwillig aus dem Leben gegangen, ist pure Melancholie in Würde. „Early Days Of Channel Führer“ zeigt Smith gar als Jazzsänger oder Chansonnier. Keinesfall abwegig - dass Rebellion im Rock’n Roll nicht erst 1977 begann, hat er von Anfang an klar gemacht. Die obligatorische Coverversion, The Move’s „I Can Hear The Grass Grow", stammt folgerichtig von 1967. Und wer sonst würde ein durch und durch nach Garage klingendes Album mit einer Reggae-Variation eröffnen?

Smith selbst ist dabei frei von Nostalgie. Genauso wenig hat der 48-jährige vor, sich auf seinem Status als Underground-Ikone auszuruhen. Für die Zukunft hat er angekündigt, eine sehr persönliche Platte aufnehmen zu wollen. Mit seinen derzeitigen Kollegen Ben Pritchard, Steven Trafford, Spencer Birtwistle und Ehefrau Elenor Smith kann er diesem Vorhaben gelassen entgegen sehen. "Ich habe immer noch genug zu sagen. Und ich werde es sagen.“ Wir wünschen es ihm. Und uns.