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§ 1. Der Club ist die Visitenkarte.The Fall haben in den achtziger Jahren mit reflektiert, wie aus einer produzierenden eine konsumierende Gesellschaft wurde. Auf der Insel unter Thatcher und dem Festland. In einer ehemaligen Ostberliner Industriehalle, an der Kreuzung zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, residiert die Maria am Ostbahnhof. Links fließt die Spree in Richtung Havel, rechts liegt ein Baugrundstück. Stichwort Immobilien: 1997 wurde in Manchester die Haçienda, lange Jahre The Fall-Residenz, abgerissen. Die Trümmer wurden versteigert. Im ehemaligen Metropol, von 1984 bis 1991 angestammte Bühne der Band in Berlin und mittlerweile als Goya umgebaut, versucht sich die Neue Mitte so verzweifelt wie erfolglos an Glanz und Glamour. Smiths Songs seien surreal? Sie sind realistisch. § 2. Baue Erwartungshaltung auf.The Fall müssen nicht mehr als Vorband für U2 auftreten. Deren verstörte und aufgebrachte Fans die Band mit allen auf einem Konzert verfügbaren Wurfgeschossen traktierten. Das war vor Jahren. Jetzt können sie selber auf sich warten lassen. Eine Zeit, die ausgefüllt wird von Doc Schoko, Berliner Punkpoet, und The Nothings, die exzellenten Punk und Rockabilly spielen. Aus der Konserve kommen Outlaw-Klassiker der letzten Jahrzehnte: Country, Surf, Rock ’n’ Roll und Ska. Bis dann kurz vor Mitternacht das Moment Verstörung greift – Einsatz für Safy alias VJ Sniper, Videokünstler mit Wohnsitz in Tel Aviv und Berlin. Filmschnipsel und Techno regieren die nächste halbe Stunde und spalten das Publikum. Smith selbst ist großer Fan von Electronica aller Art, und das Kontrastprogramm wohl gewollt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt gehört zum Ritual die bange Frage, ob es denn überhaupt komplett stattfindet. The Fall haben auch schon Gigs in letzter Minute abgesagt. Übrigens nicht immer aufgrund der gern kolportierten Launen, Aus- und Unfälle Smiths, sondern schon mal aus Solidarität für Bands, die vor ihnen nicht vom Club ausgezahlt wurden. Seit 2001 spielen sie regelmäßig in der Maria. Befürchtungen von dieser Seite sind zum Glück grundlos. § 3. Eröffne. Halte die Spannung.Der neue Tag ist zehn Minuten jung, und Eleni Poulou, Keyboarderin und Mrs. Smith, Gitarrist Ben Pritchard, Bassist Steve Trafford und Schlagzeuger Spencer Birtwistle greifen zu den Instrumenten. Beginnen das Konzert mit Youwanner, Höhepunkt des aktuellen Albums Fall Heads Roll. Ihr Durchschnittsalter dürfte um die Dreißig liegen. Smith selbst, der nach einer angemessenen Kunstpause von zwei Minuten die Bühne betritt, könnte ihr Vater sein. Im März 49 Jahre alt geworden, wird er in den nächsten anderthalb Stunden neben der Rolle des Sängers die des Dirigenten ausfüllen. Dazu mehr unter § 5, 6 und 7. The Fall im Jahre 2006 sind, es sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, eine funktionierende Band. Eine Demokratie, wie ihr Steuermann Anfang Februar gegenüber der BBC klarstellte. § 4. „Good evening, we are The Fall.“Ein unverzichtbares Markenzeichen. Seit langem kündigt Smith die Band mit dem vieldeutigen Namen selbst an. Auf die Begrüßungsformel folgen zumeist Sätze, die Aufnahme in ein Aphorismenbuch verlangen: „Good evening, we are The Fall playing in front of a town without pity, about a city with no pity.“ Noch deutlicher: „Good evening, you know who we are - we are the most hated group in Britain. We do not suck cocks to make our living.“ Auf USA-Tournee: „Don't expect any left wing shit because at home we've got enough of it.“ Vor einem Dritte Welt-Solidaritätsgig: „Good evening, we are The Fall and we are from the first world.“ Seit kurzem: „Good Evening, we are The Fall over the long, long days.“ Exegeten, euer Einsatz bitte! § 5. Die Bühne ist kein Zirkuszelt.Zu den nicht wenigen Missverständnissen des Rock gehört die Vorstellung, auf der Bühne sei der ideale Ort für euphorisierte Akrobaten. The Fall sehen das anders. Eher sind sie stoische und konzentrierte Arbeiter. Die Rhythmusgruppe agiert exakt und eruptiv, Keyboarderin und Gitarrist spielen konzentriert und variabel zu gleichen Teilen. Sie lassen sich auch dann nicht stören, als Smith ihnen dabei in die Quere kommt. Er selber verzichtet vollständig auf die klassische Show. Wer den Fuß auf dem Verstärker sehen will, wer „Hello Berlin, it’s great to be here again“ hören möchte, muss an diesem Abend woanders hin. Wenn Smith einmal nichts zu tun hat, geht er an den äußersten Bühnenrand oder begibt sich gleich hinter die Verstärker. Übrigens kann dem Publikum von Zeit zu Zeit auch der Rücken zugewandt werden. Distanzierte Arroganz? Eher Ausdruck einer konsequenten Verweigerungshaltung, ohne die The Fall nicht da angelangt wären, wo sie heute stehen. § 6. Ein Mikrophon ist kein Mikrophon.Selbst Muttersprachler dürften ihre Mühen haben, Smiths Texte hundertprozentig nachzuvollziehen. Nicht was, sondern wie er es singt, ist daher umso wichtiger. Einst pflegte er seinen Gesang bei Gelegenheit durch ein Megaphon zu verstärken. Noch heute ist er nicht um Worte verlegen. Ein Mikrophon ist ihm nicht genug. Also benutzt er zwei davon. Gerne auch gleichzeitig. Verstellt scheinbar planlos die Ständer. Die Roadies kriegen ihr Geld schließlich auch nicht umsonst. Mit so einem Mikrophon lässt sich noch viel mehr anstellen. Zum Keyboardspielen benutzt, kann es einen Dauerton erzeugen. Oder aus der Basstrommel genommen und vor den Bassverstärker gelegt werden. Kalkuliertes Chaos? Spannung, Leute. Es ist Spannung, worum es an diesem Abend geht. § 7. Hier mixt der Chef noch selbst.Schon mal ein Konzert erlebt, auf dem die Musiker keine Aufforderungen Richtung Mischpult schicken, mal die Gitarre, den Bass oder das Schlagzeug in den Vordergrund zu rücken? „I need more …“ Dies wäre eines der wenigen gewesen. Smith bittet nicht, er handelt selbst. Dreht zwischen und während den Songs an den Verstärkern des Quintetts. Stellt einzelne Instrumente heraus oder zurück. Mixer auf The Fall-Konzerten muss ein harter Job sein, aber: Vertrauen in die Technik ist gut, Kontrolle besser. § 8. Work in progressThe Fall legen Wert darauf, als Band im Hier und Jetzt zu leben. Sie absolvieren keine Nostalgieauftritte. Nicht, dass ihre Konzerte keine Wiedererkennungseffekte ermöglichen. Trotzdem wäre es müßig und keine gute Idee, sich Titel der Jahre 1979 oder 1985 zu wünschen. Stattdessen lässt sich auf ihren Konzerten erleben, welche Überraschungen Rock ’n’ Roll bereithalten kann, so er nicht als formelhafte Pflichtübung verstanden wird. Smith fügt Songs wie Mountain Energei neue Textzeilen hinzu. Im Zusammenspiel lassen die Musiker bekannte Titel der letzten beiden Alben so klingen, als hörte man sie das erste Mal. Im Grunde sind The Fall eine Jazzband. Und erlauben von daher einen Einblick in ihre Werkstatt. Vier neue Stücke haben sie mit nach Berlin gebracht, von denen eines noch nicht einmal einen Namen trägt. New One steht lapidar auf der Setlist. Das brillante Systematic Abuse und The Boss lassen jetzt schon die Tage bis zum Studioalbum Nr. 26 zählen. Und kurz vor Schluss darf sogar noch einmal zurück geschaut werden. Wenn auch nicht auf 1979, sondern gleich auf 1969. Mit Merle Haggards White Line Fever, im Duett von Mr. Und Mrs. Smith gesungen. Lee Hazlewood und Nancy Sinatra hätten ihre helle Freude. § 9. Das retardierende Moment
Prinzipiell ist hier die Bühnengarderobe von untergeordneter Bedeutung. Trotzdem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Smith anfangs ein cremefarbenes Jackett trägt. Die meiste Zeit auf einem der vielstrapazierten Verstärker deponiert, wird es zum Ende des Gigs hin dramaturgische Bedeutung erlangen. Als er das erste Mal wieder zu ihm greift, geht plötzlich Sorge um im Publikum. Kalt kann Smith kaum sein. Will er tatsächlich gehen? Offensichtlich doch nicht, denn das Kleidungsstück landet plötzlich wieder auf der Anlage. Ein Spiel, das sich mehrmals wiederholt, bis Smith tatsächlich die Bühne verlässt. Poulou, Pritchard, Trafford und Birtwistle spielen erst mal weiter. § 10. Wenn alles gesagt ist.Ein Zugeständnis an den Rockzirkus machen The Fall dann doch noch. Eines, das ihnen gerne nachgesehen wird. Sie absolvieren eine Zugabe. Bo Diddley ist einer der wenigen erklärten Helden Smiths, und so beschließt Bo D das Konzert. Hommage der Band an den Bluesrebellen, dessen Riffs Rock ’n’ Roll erst mit ermöglichten. Und Finale eines Abends, nach dem The Fall in Großbuchstaben geschrieben werden sollten. Magie und Faszination – wenn auch geopferte Nerven und graue Haare mit Mitte zwanzig dazugehören. So Ben Pritchard, aber egal: „The Fall are making history. I have nightmares, but it's never boring. It's not Coldplay.“ Er winkt zum Abschied. |
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