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Februar 2007
Robert Mießner
für satt.org

Sandalen in Rochdale
The Fall “Reformation Post TLC”


The Fall:
Reformation Post TLC

Sanctuary, Rough Trade 2007

The Fall: Reformation Post TLC
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In der Galerie skurriler Zeitgenossen nimmt die Spezies Plattensammler einen Ehrenplatz ein. Dort, wo bei ihren Mitmenschen die Sorgen um den Kontostand und die Ratenzahlungen drücken, dort darf in ihnen, die aus naheliegenden Gründen genauso existentiell bedrängt sind, ein Kind vermutet werden. Eines, das überlebt hat und mehrmals im Jahr Weihnachten und Geburtstag feiern möchte. Unter diesem an sich schon seltsamen Menschenschlag sticht der Fallfan beiderlei Geschlechts und jeden Alters noch einmal besonders heraus. Einerseits ist sein Leben ein Fest: Party ist tatsächlich mehrmals im Jahr, erscheinen doch in schöner Stetigkeit neue Alben, Reissues, Compilations und Livemitschnitte. Andererseits hat er es alles andere als leicht: Immer lebt er am Rande des Bankrotts. Immer muss mit dem Unerwarteten gerechnet werden. Dramen auf der Bühne, Abgänge, Zugänge. Die vielen Nerven, die dabei gerne geopfert werden. Das ganze Bier, das getrunken werden muss. Das Extraregal, das irgendwann fällig ist. Die vielen Namen, die gemerkt werden wollen.

Seit Juni vorigen Jahres dann gänzlich ungewohnte Gesichter. Drei junge Amerikaner, einer davon gar mit Bart und Hut. Eingesprungen für Ben Pritchard, Steve Trafford und Spencer Birtwistle, die nach einem kurzen, tumulthaften Konzert auf US-Tour die Heimreise auf die Insel antraten. Der Schreck war gigantisch, böse Erinnerungen wurden wach an den New York-Gig 1998, nach dem sich Mark E. Smith ohne Band, dafür aber in Arrest wiederfand. Nun wirkt es im Nachhinein wie ein Wink des Schicksals, dass sich die jüngste Auflösung und Auferstehung in 30 Jahren The Fall ausgerechnet in Phoenix / Arizona zutrug. The Fall veröffentlichen am 12. Februar ihr 26. Studioalbum, wir haben bewusst noch einmal nachgezählt. Ende März, schon mal mit dem Sparen beginnen, erscheint noch eine US-Version. Mit Livevideos aus New Yorks Hiro Ballroom.

Ein Album mit abenteuerlicher Geschichte: Begonnen mit der Besetzung, die uns Fall Heads Roll (2005) schenkte, zum guten Ende gebracht mit der neuen Band, die auf der Bühne, auf Sommerfestivals buchstäblich zueinander finden musste. Die Band, das sind mit Mark E. Smith und Elena Poulou: Tim Presley an der Gitarre, Rob Barbato und Dave “The Eagle” Spurr als Bassisten. Orpheo McCord bedient das Schlagzeug. Barbato, Presley und McCord, die amerikanische Fallfraktion, spielen zu Hause Psychedelic bei Darker My Love und The Hill. Davon wird noch zu reden sein. Spurr kommt aus Colne, der alten Baumwollkapitale Lancashires. MotherJohn, seine Band, verortet sich zwischen den MC5 und Velvet Underground und stellt mit Keiron Melling einen gelegentlichen Livedrummer. Unterstützt von Pete Greenway, Gitarrist bei The Fringe, Fallsupport in jüngeren Tagen, und Gary Bennett sind dem Sextett 63 Minuten gelungen, 63 Minuten, von denen keine einzige zuviel ist. Reformation Post TLC hat Soul und Rhythmus, Witz und Wärme. Für diese Platte gilt sie nicht, die oft gebrauchte These, The Fall seien eine kalt klingende Band. Das in den Medien gern kolportierte Bild Mark E. Smiths als dauernd durstiger, ketterauchender Zyniker; es bedarf einiger gründlicher Korrekturen. satt.org hat bis dato keine Song für Song-Review veröffentlicht. Es gab nie eine bessere Gelegenheit, als diese:

The Fall, Foto © Camille / Narnack RecordsThe Fall, Hiro Ballroom, New York City, 04. November 2006, v.l.n.r.: Tim Presley, Rob Barbato (dahinter), Orpheo McCord, Mark E. Smith, Dave "The Eagle" Spurr
Foto © Camille / Narnack Records

Over! Over!
Viel zu wenige Platten beginnen mit einem Gelächter. Um so besser, wenn es das laute Lachen Mark E. Smiths ist. Das vermeintliche Ende verlachend, das hier ein Neuanfang ist. Ein hämmerndes Piano zieht sich durch den Song, der zum Ende an Tempo gewinnt. Der Ton ist gesetzt, die Melodie findet später wieder Verwendung.

Reformation!
Ausrufezeichen Nummer drei. Es gehört schon einiger Mut dazu, einen Siebenminüter als zweiten Song zu nehmen. Assoziative Lyrics, Basslinien, die jeden Dubfanatiker von Rock ‘n’ Roll überzeugen würden, Gitarrensounds und Keyboards nicht von dieser Welt bauen einen hypnotischen, repetiven Song. Andere würden dies ans Ende der Platte stellen. Wir haben es aber nicht mit anderen zu tun.

Fall Sound
Wiedergänger aus den achtziger Jahren, Spätnachrichten, Leben, das sich nur noch in Chatlines abspielt: Zumutungen sind es, die uns die beste aller Welten schenkt. Fall Sound, Surf und Psychedelic, spielt in einer anderen Liga: Konzentriert, aber nicht verbissen, mit einem Rhythmus, der die Nervenzellen in Habachtstellung kommandiert.

White Line Fever
Wer sich in den verklärten Achtzigern und den frühen postmodernen Neunzigern zu Country bekannte, konnte sicher gehen, auf keiner Party den Blumentopf, pardon Hipnessbonus zu gewinnen. Mark E. Smith hat es trotzdem getan, zu Zeiten, als Johnny Cash noch als Truckermusik galt. White Line Fever, ein Song Merle Haggards, klingt gänzlich anders, als ihn die glücklichen Konzertgänger im Vorjahr hören durften. Leicht, die Stimmung und Philosophie des Highways einfangend. Alle singen im Chor.

Insult Song
Die Band wird vorgestellt. Als die Kinder Captain Beefhearts, dessen Stimmlage er aufgreift, beschreibt Smith seine amerikanischen Neuzugänge. Begleitet von sarkastischen Verbalinjurien, treten die Sandalenträger die Reise aus dem sonnigen Kalifornien ins verregnete Rochdale, den Nordwesten Englands, an. Die Musik Don Van Vliets ist eine der ewigwährenden Referenzen bei The Fall. Hier kommen sie dem Wüstenbewohner so nahe wie seit langem nicht mehr.

The Fall, Foto ©  Camille / Narnack RecordsDave "The Eagle" Spurr, Mark E. Smith, Elena Poulou
Foto © Camille / Narnack Records

My Door Is Never
Krautrock hin, Elektroavantgarde her: The Fall sind eine Rockband. Zwar keine für die Stadien, eher für die sympathischen, kleinen bis mittleren Klubs. Aber es darf, soll getanzt werden. Wild und ohne Rücksicht auf Verluste und Garderobe, deren Style, um dieses schöne Wort zu gebrauchen, bei den Konzerten von eher zweitrangiger Bedeutung ist. Im Titel ist kein Druckfehler versteckt.

Coach And Horses
Die Überraschung schlechthin, obwohl es sie schon immer gab, diese scheinbar aus dem Rahmen fallenden Fallsongs voller verhaltener Einsicht: Iceland, Get A Hotel, Rose, Janet, Johnny + James, nebenbei eines von PJ Harveys Lieblingsliedern aller Zeiten, und Early Days Of Channel Führer. Wie sie, kommt Coach And Horses im getragenen Tonfall daher, sparsam, mit einer Zurückhaltung, die mehr sagt als alle große Gesten. Gibt es so etwas wie den impressionistischen Gitarrenklang? Es gibt ihn, hier.

The Usher
Einer der kurzen Songs auf einem an Epen nicht armen Album. Reformation Post TLC vermittelt über weite Strecken den Eindruck einer ungezwungenen, ja enthusiastischen Jamsession. Dieses Kleinod aus Jazz und Blues macht keine Ausnahme, steht da wie die Brücke zu dem, was noch kommen wird.

The Wright Stuff
Nicht von ungefähr wird Smith ein eigenwilliger Gesangstil nachgesagt. Er klang selten so klar wie auf diesem Album, doch reicht er, nicht das erste Mal übrigens, das Mikrophon weiter. An Elena Poulou, Ehefrau, Keyboarderin und kürzlich auch am Bass gesichtet. Ein charmanter Song über Ian Wright mit einem Verweis auf I’m A Celebrity, die britische Version von Big Brother. Smith war eingeladen, den Part John Lydons zu übernehmen. Überflüssig zu erwähnen, dass er abgelehnt hat.

Scenario
Over! Over! und Captain Beefheart revisited: Als es darum geht, wie alles begann, fährt die Kamera in der BBC-Dokumentation The Wonderful And Frightening World Of Mark E. Smith durch Manchester, während im Hintergrund Dali’s Car gespielt wird. Zu finden auf Trout Mask Replica, wie auch Veteran’s Day Poppy, dessen Refrain Smith in Scenario verwendet: “It doesn’t get me high / it only makes me cry.”. Erneut melancholisch im Ton, singt er von Kindheit, Mutter und Sohnesschuld. Ganz genau.

Das Boat
Reformation Post TLC ist, das sollte nicht vergessen werden, immer noch ein Fallalbum. Kein Wunder, dass der längste Song auch gleich die meisten Rätsel aufgibt. So soll es sein. Über zehn Minuten dauert Das Boat, eingeleitet von einer psychedelischen Gitarre, bevor submarine Elektronikgeräusche und minimale Rhythmik einsetzen. Andere würden dies auf einer B-Seite vergraben. Wir haben es aber nicht mit anderen zu tun.

The Bad Stuff
Man merkt ihn anfangs kaum, den Übergang zu dieser Klang- und Stimmcollage. Vertrackt und verschachtelt klingt der kurze, schnelle Track, der The Wright Stuff zitiert. Zeit, ein neues Genre zu erfinden und von Collagerock zu reden. Pardon, ein Wortspiel.

Systematic Abuse
Der wahrscheinlich dienstälteste Song des Albums, erstmals gespielt in Athen 2006, erwähnt eine von Smiths Lieblingsobsessionen: Songtexte auf dem Fernsehschirm. Ein Blick auf die dort versammelte Lebensweisheit überzeuge ihn immer wieder davon, dass der Ruhestand ein komplett unverantwortliches Unterfangen sei. Das rasante und lange Stück, ein ausgiebiger Rundumschlag, setzt den Schlusspunkt. Beinahe.

Outro
Zum Dessert gibt es Garage. Plant jemand da draußen, eine Compilation mit den kürzesten Songs aller Zeiten zu veröffentlichen? Es gibt noch kürzere als dieses Instrumental, aber mit 36 Sekunden hat es sich qualifiziert. Oder?

Die Kollegen vom britischen Wire haben, so steht zu lesen, Reformation Post TLC in Endlosschleife zu laufen. Eine weise Entscheidung, der wir uns nur zu gerne anschließen. Nicht ohne vorher noch einen Beitrag zur Typologie des Fallfans zu leisten: Zu einem hohen Prozentsatz handelt es sich um Atheisten. Atheisten freilich mit Freude am Bruch der eigenen Regeln, deshalb und aus voller Kehle:  …And on the sixth day God created Manchester. Cheers!

“Fall fans invented the Internet. They were on there in 1982.”.
Mark E. Smith, The Wire 151 / 1996

satt.org dankt: