Kissogram: Nothing, Sir!
Kissogram: Nothing, Sir! (Louisville Records 2007)
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In den frühen achtziger Jahren liessen sich die Macher der Jugendgazette BRAVO etwas Besonderes einfallen: sie erfanden das „Kissogramm“, eine Abwandlung der schon früher etablierten Autogrammkarte, die ins Heft eingeklebt wurde. Das Kissogramm wurde vom Lippenabdruck begehrter Stars geziert und suggerierte Intimität, das Gefühl, Teen-Idolen wie Leif Garrett, John Travolta oder den Teens ganz nahe gekommen zu sein ….Ob Jonas Poppe und Sebastian Dassé selbst Kissogramme gesammelt haben, wage ich zu bezweifeln, dazu sind sie wahrscheinlich ein paar Jährchen zu jung. Aber man kann kaum einen besseren Bandnamen wählen, der Pop und Begehren so treffend ausdrückt wie „Kissogram“.
Kissogram gründeten sich im Sommer 1999, arbeiten seitdem mit einem Synthesizer, einer Drummachine, einem 8-Spur-Gerät, einem Stylophon und einem Mikrofon vom Flohmarkt. Auf dem Elektrolabel Blaou veröffentlichen sie ihre erste Single „If I Had Known This Before“, die sogar bei MTV lief. Richtige Popstars wurden Kissogram mit ihrem Hit „Cool Kids Can't Die“, einer rasanten Mixtur aus Punkrock und Elektronik. Ihr Album „The Secret Life of Captain Ferber“ wurde von niemand geringerem als Chilly Gonzalez produziert, sie gingen mit Peaches auf Europatour. Akzeptanz und Glam von allen Seiten, dann zogen sich Poppe und Dassé zurück, um an neuen Tracks zu arbeiten. Das neue Album „Nothing, Sir!“ präsentiert Kissogram als die möglicherweise einzige echte Berlin-Bohème-Band. Die 12 Tracks entziehen sich jeglicher popistischer Klassifizierbarkeit, klingen im positiven Sinne anachronistisch und nostalgisch. Das Cover-Artwork ist in schwarz-weiss gehalten, als Covergirl haben sie sich keine jungen Popheldin ausgesucht, sondern die Hollywood-Goddess Lauren Bacall. Das moderne elektronische Gewand ziert Songs, von denen einige auch Kurt Weill geschrieben haben könnte. Die Texte sind voller verrückter Geschichten und bizarrer Charaktere wie beim Kaffeehaus-Schwof „Blue August“, oder dem melancholischen Gutenachtlied „Ricky's Little World“. Der Opener „Car Crash Bop“ ist eine bitter-gruselige Story über Langeweile und Unfälle, dazu ertönt ein rasantes Synthiethema, das von abrupten Tempiwechseln unterbrochen wird. Kissogram lieben die Personifizierung/Subjektivierung des Unheils, so heisst es in „The Morning After“: „I'm the unpleasant feeling that something went wrong“. Im Spiegelbild-Song „I'm the Night Before“ singt Poppe: „I'm the Night before you die / I am the nicest sleep / I am the prettiest dream / that takes your last breath and lets you sigh.“ Aber Kissogram sind keine Gothic-Ghouls, ihre Songs umweht eventuell ein Hauch von Ennui, was besonders durch Poppes distanzierte Vocals ausgedrückt wird. Apropos Vocals: Auch wenn Jonas Poppe keine stimmlichen Gemeinsamkeiten zwischen sich und Jim Morrison feststellen will (siehe unten), wie soll man denn bitteschön den hüftschwingenden Song „Buzzard King“ verstehen, wenn nicht als Hommage an den „Lizard King“ Morrison? Aber vielleicht überinterpretiere ich hier …
Kissogram können auch sehr verliebt und romantisch klingen wie in dem entzückenden Liebeslied „She's an Apple Pie“, das durch Akustikgitarre und eingängige Melodie becirct. Überhaupt lässt sich eine beeindruckende stilistische Bandbreite auf „Nothing, Sir!“ ausmachen, Chanson, Flamenco, Disco und Electro gehen Hand in Hand. Bei „In the Wilderness“ erklingt ein Digi-Cembalo, „Manager in Love“ orientiert sich an Achtzigerjahre-Discofox. „Shuffle Along“ ist ein energetischer, mitreissender Blues-Shuffle, auf dessen Livedarbietung man sich jetzt schon freuen kann. Schlagzeug spielt übrigens Christoph Leich von den Sternen. „Nothing, Sir“ ist ein tolles, abwechslungsreiches, bohemian Pop-Album geworden, definitiv eine der schönen Überraschungen dieses Frühjahrs. Gäbe es in der BRAVO noch Kissogramme, das von Kissogram hinge an Pinnwänden vieler 30-Somethings, nicht nur in Berlin-Mitte. Ein paar Fragen warf „Nothing, Sir!“ doch auf, satt.org mailte an Jonas Poppe, der bereitwilig Antworten gab:
Kissogram auf Tour mit Ragazzi:
25.05.2007 D-Halle - Volksgarten 26.05.2007 A-Linz - Cembrankeller (ohne Ragazzi) 28.05.2007 D-München - Bavarian Pfingst Open Air 29.05.2007 D-Freiburg - Klub Kamikaze 30.05.2007 D-Stuttgart - Schocken 31.05.2007 D-Frankfurt – Cooky's 01.06.2007 D-Weinheim - Café Central
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CM: Was macht Lauren Bacall auf Eurem Cover?
JP: Sie schaut in die Zukunft.
CM: Die Vocals klingen manchmal ein bisschen nach Jim Morrison - ist das Absicht?
JP: Früher haben alle gesagt, die Stimme erinnere sie an Jonathan Richman, dann war es Lou Reed, dann Mark E.Smith und jetzt Jim Morrison. Dabei hat sich meine Stimme in den Jahren gar nicht verändert. Da das alles tolle Leute waren/sind, versuche ich mal, das als Kompliment zu werten.
Absicht ist das selbstverständlich nicht.
CM: Eure Texte sind zuweilen ziemlich düster („Car Crash Bop“), dann wieder süss und romantisch („She's an Apple Pie“) - wie entstehen die Lyrics?
JP: Tja, wie entstehen die Lyrics …schwierige Frage. In meinem Kopf verbindet sich Reales mit Irrealem, das Schöne kämpft mit dem Schlechten. Gewesenes verknüpft sich mit Gewünschtem. Dazu kommt ein wenig Ironie, ein wenig Zitat, ein paar Gefühle und ein bißchen Schwachsinn.
CM: Habt Ihr musikalische Vorbilder?
JP: Nein. Aber sagen wir mal: Bach, Chopin, Velvet Underground, die Beatles, Bob Dylan, Richard Dyer-Bennet, Olavi Virta, Antonios Dalgas …es gab und gibt sehr viele Musiker, die wir mögen.
CM: Stilistisch kann man Euch nicht wirklich einordnen, man kann Kurt-Weill- und Zwanzigerjahre-Elemente in Eurer Musik ausmachen - wie wichtig ist Berlin als kreativer Ort für Euch?
JP: Berlin ist für uns wichtig als unsere Heimatsstadt und Wohnstätte. Ich kenne in meiner Wohngegend jeden Hinterhof und jeden Pflasterstein, die Frau M. mit dem Putzfimmel, den indianischen Schneider, Frau W. mit der Logorrhoe (Schwatzsucht), ich habe mich auch an den ständigen Wandel der Straßen, Clubs, Leute gewöhnt. Ich hasse meine Wohngegend, aber ich wohne gerne hier. Das fließt natürlich in die Musik/die Texte mit hinein, das ist kaum
zu beeinflussen.
Aber ansonsten hat "Nothing, Sir" nichts mit Berlin zu tun. Es gibt seit langem nichts neues mehr hier. Wir sind mit unseren Gedanken schon seit Jahren in anderen Ländern und anderen Zeiten.
CM: Seht Ihr Euch als Teil einer (Berliner) Bohème - wenn ja, was heisst das? (Hat der Begriff Boheme überhaupt eine Bedeutung für Euch?)
JP: Wenn Bohème heißt, dass wir für unsere Musik und von unserer Musik leben, selbst wenn wir pleite sind, dass wir uns niemals anbiedern und niemals Musik aus rein kommerziellem Interesse machen, dass wir Hörgewohnheiten sprengen wollen, dass wir gerne herumhängen, uns gerne betrinken, dass wir uns lieber langweilen, als als Angestellte zu arbeiten, sind wir vielleicht Teil einer Berliner Bohème. Das Bohèmeleben kann man sich in Berlin natürlich besser leisten als in einer Stadt wie München. Ansonsten weiß ich jedoch nicht, wer in Berlin alles dazugehören soll und will. Den Begriff Bohème finde ich gar nicht so schlecht, obwohl er wieder den alten Beigeschmack eines arroganten Snobismus zurückbekommt. Wir gelangen ja langsam in eine Zeit, in der jeder als Schmarotzer deklassiert wird, der sich weigert, sich kaputtzuarbeiten.
CM: Ich hatte kürzlich mit einem Freund die (ungelöste) Diskussion, ob es einen Unterschied zwischen "elektrischer" und "elektronischer" Musik gibt - könnt Ihr helfen? Und was macht Ihr? Elektrisch, elektronisch, nichts von beidem …?
JP: Ich glaube, den Begriff "elektrische Musik" gibt es so nicht. Elektrisch ist ja jede Band, die nicht unplugged spielt. Elektronische Musik ist jedenfalls immer mit elektronischen Instrumenten (Synthesizer, Drumcomputer usw.) oder mit Computern verbunden.
Unsere Musik ist also elektronisch, aber nur zum Teil, da wir ja auch Gitarren, Klavier und andere nichtelektronische Instrumente benutzen.Wir machen also Semi-elektronische Musik.
CM: Ihr dürft Euch einen Mitmusiker aussuchen - mit wem würdet Ihr gern mal zusammen ins Studio (tot oder lebendig)?
JP: Keine Ahnung …Sagen wir Glenn Gould. Oder Hank Williams.
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