September 2007, erste Hälfte:
Die «ruhigen» Platten
Da zwischen Mitte August und Anfang September drei Wochen lagen, gibt es dieses Mal (und nur dieses Mal!) zwei Short Cuts-Ausgaben, aufgeteilt in eine "leise" und eine "laute" Ausgabe. Hier kommen die kontemplativen Platten für den September: Richard Hawley, Gravenhurst, Okkervil River und Farryl Purkiss …
Richard Hawley:
Lady's Bridge
(Mute/EMI)
Richard Hawley, 1967 in Sheffield geboren, hat schon so einige Höhen und Tiefen des Popbusiness miterlebt. In den frühen neunziger Jahren war er Teil der Band The Longpigs, die sich nach einer kräftezehrenden US-Tournee auflöste, weil diese ausser Drogenexzessen keinen weiteren Glamour mit sich brachte. Trotz des Scheiterns der Band wurde Jarvis Cocker 1997 auf Hawley aufmerksam und bat ihn, Pulp bei der «This is Hardcore»-Tour als Livegitarrist zu begleiten. Erneut physisch und psychisch zerrüttet, wollte Hawley nach dieser Tournee seine musikalische Laufbahn endgültig beenden, doch Jarvis Cocker und Produzent Steve Mackey konnten ihn zu Demoaufnahmen überreden, aus denen 2000 ein Minialbum entstand, 2001 veröffentlichte er sein erstes «grosses» Soloalbum «Late Night Final». «Coles's Corner» von 2006 brachte Hawley in Großbritannien eine goldene Platte sowie eine Mercury-Prize-Nominierung ein – den dann die Arctic Monkeys gewannen. Selbst verblüfft, riefen die Monkeys auf der Bühne nach der Polizei, «Hawley sei seines Preises beraubt» worden. Auch wenn es bis hierher den Anschein hat, Hawley sei einer dieser tragischen, chronisch unterschätzten und übersehenen Künstler, sieht es doch ganz danach aus, als würde ihm mit seinem neuen Album «Lady's Bridge» der große Durchbruch gelingen. Mit dunkel-knarziger Stimme, die zwischen Lee Hazlewood und Scott Walker changiert, croont er in Molltonlage Singer-/Songwriterballaden, die überwiegend von einer reduzierten, klassischen Rock'n'Roll-Instrumentierung (Gitarre, Bass, gestrichenes Schlagzeug) getragen werden. Geigen, Celli, Piano und Vibraphon akzentuieren die Stücke, die mal pompös arrangiert sind wie Pulp es während ihrer Hochzeiten liebten, mal spartanisch und zurückhaltend wie Edwyn-Collins-Songs daher kommen.
Während der Aufnahmen zu «Lady's Bridge» verstarb Hawleys Vater, ein im Garn gefärbter Teddyboy, zu dem er zeitlebens ein gutes Verhältnis hatte. Obwohl sich beide versicherten, dass Krankheit und Tod die Platte nicht beeinflussen sollten, ist das Album dennoch verständlicherweise sehr melancholisch geraten. Auf dem Cover posiert er im Remember-Elvis-Goldlaméanzug und wirkt trauriger als Roy Orbison es je war. Der Titelsong, «The Sun Refused to Shine» und «Our Darkness» sind sanfte, aber opulente Miniopern, die den nahenden Herbst vorwegnehmen. Hawley kann aber auch anders: «Serious» und «I'm Looking for Someone to Find Me» sind lebhafte, rockabilly-beeinflusste Pop-Perlen, an der Orange-Juice-Fans ihre Freude haben werden. Und mit «Tonight the Streets Are Ours», in dem Hawley mit der ASBO (Anti Social Behaviour Order) der britischen Regierung abrechnet, ist sogar ein regelrecht revolutionärer Song an Bord. (Text erschien zuerst bei titel-forum.de)
» www.mute.com
» richardhawley.co.uk
» myspace.com/richardhawley
Gravenhurst:
The Western World
(Warp/Rough Trade)
Nick Talbot ist Gravenhurst und kommt aus Bristol, der Stadt im Südwesten Englands, der Bands wie The Pop Group, Massive Attack und Portishead entstammen, die alle auf ihre Weise den „sound of Bristol“ definieren. War Gravenhurst/Talbot bis vor kurzem noch scheinbar dazu verdammt, der ewige Support-Act für berühmtere Kollegen wie zum Beispiel Belle & Sebastian und Sufjan Stevens, dürfte sich das mit seinem Album „The Western World“, das seinen Titel einem Buch von William S. Burroughs entlehnt, garantiert ändern. SPEX kürte „The Western World“ zur aktuellen „Platte der Ausgabe“, was ja – bedingt durch den neuen Erscheinungsturnus der SPEX – jetzt Pokalbesitz für volle zwei Monate bedeutet. Gravenhursts neues Album, sein viertes beim verdienten Warp-Label und sein insgesamt fünftes, schöpft Inspiration aus britischem Folk der sechziger bis siebziger Jahre und zieht direkte Linien in die ältere und neuere Gegenwart: zu Mazzy Star, Stereo Lab und ja, Sonic Youth, denen er mit noisigen Gitarrenwänden huldigt. Folk und Sonic Youth? Bei Gravenhurst klingt die Kombination aus jangelnden Sixtiesreminiszenzen und teenage Punkrock so schlüssig, als gäbe es weder Stil- noch generation gaps. Der Titeltrack interpretiert Country & Western nach britischer Manier und ist eins der rhythmischeren Stücke: vorherrschend ist ein kontemplatives Midtempo, zu dem Gravenhursts sanfte, klare Stimme herzergreifend gut passt. „The Western Lands“ ist inhaltlich ein echtes Singer/Songwriteralbum mit Texten über Liebe, Tod, Angst, Romantik und Irrsin. „She Dances“ ist Sandy Denny gewidmet, der britischen Folksängerin (Fairport Convention), die 1978 an einer Gehirnblutung starb, die sie sich bei einem Treppensturz zugezogen hatte. Gravenhurst hat einen Hang zu morbiden Geschichten, der sich auch in seinen Liebesliedern wie „Farewell, Farewell“ niederschlägt, die nicht von Glück und Frohsinn künden. Das verträumt-schwebende „Hourglass“ thematisiert über sanftem Gitarrensound und ganz zarten Percussions die Vergänglichkeit des Lebens und macht – trotz aller inhärenten Traurigkeit – Mut.
» www.gravenhurstmusic.com
Okkervil River:
The Stage Names
(Jagjaguar/Cargo)
Sieht ganz so aus, als müsste sich Lou Reed eine neue Lieblingsband suchen: Okkervil River aus Austin, Texas, die sich einst nach einer Kurzgeschichte der russischen Autorin Tatyana Tolstaya, einer Nichte des grossen Tolstoi benannten, verlassen mit ihrem neuen Album „The Stage Names“ die gewohnt dunklen Gewässer und brechen zu neuen Ufern auf (jetzt ist es aber gut mit der Wasser-Metaphorik). Vor gar nicht allzu langer Zeit bezeichnete Reed Okkervil River während einer MTV-Awards-Übertragung als eine der „besten Indiebands“, doch damals stand die sechsköpfige Band um Sänger und Texter Will Sheff vorwiegend für Melancholie und Düsternis. Ob Reed mit den frischeren, beinah fröhlichen Songs von Okkervil River zurecht kommt, wissen wir nicht, können ihm aber den Genuss von „The Stage Names“ nur empfehlen. Als Überbau der Platte dient der Themenkomplex Film – Hollywood – Traumfabrik, wobei „The Stage Names“ kein wirkliches Konzeptalbum ist, denn jeder Song kann für sich alleine stehen und überzeugen. Inhaltlich geht es albumübergreifend um verblühende Stars, gescheiterte Karrieren, verblasste Träume, Menschen im Hotel ( … schon lange nicht mehr dem besten). „Our Life is not a Movie or Maybe“ heisst der theatralische, überschäumende, pianogetriebene Einstiegssong, Sheff singt, „It's just a bad movie, where there's no crying – handing the keys to me in this Red Lion, where the lock that you locked in the suite says there's no prying.“ Poetisch kunstvolle Zeilen wie diese verweisen darauf, dass das Wort bei Okkervil River eine ganz besondere Rolle spielt – die im Booklet abgedruckten Texte wirken mehr wie Kurzgeschichten, nicht wie „übliche“ Poplyrics. Die Musik birgt zusätzliche Überraschungen, vor allem, wenn man das sehr traurige letzte Album „Black Sheep Boy“ von 2005 als Massstab nimmt: „Unless it Kicks“ ist vitaler Folkrock mit ausgelassenem Gefiedel am Schluss, „A Hand to Take Hold of the Scene“ beginnt ruppig und rumpelnd wie ein Violent-Femmes-Song, aus dem sich ein mitreissender, eingängiger Popsong schält, der die Sonne aufgehen liesse, spräche der Text nicht von Einsamkeit und Angst: „When all fires are fanned, when we're shucking our plans, when we're too weak to stand on our two feet – is there a hand to take hold of the scene?“ „Plus Ones“ behandelt numerische Popkulturmythen und stellt unerbittlich fest, dass niemand „your 97th tear“ rollen sehen will, auch „the 100th luftballoon“ interessiert keinen Menschen und von Pussycat will längst niemand mehr wissen, „what's new“ ist, nachdem ihre Krallen gezogen worden sind – sehr zynisch zwar, aber textlich und musikalisch brillant. Okkervil River gelingt es, depressive Blockaden aufzubrechen und künstlerisch zu nutzen, der schwelgerische Einsatz von Mandolinen, Xylophonen, Maracas und Tambourin lässt Luft und Licht an die anspruchsvollen Kompositionen und legt Spuren zu grossen Vorbildern: Im letzten Song „John Allyn Smith Sails“ wird „Sloop John B.“ von den Beach Boys zitiert - „I want to go home“ ist der letzte Satz auf diesem wunderbaren, bisher besten Album von Okkervil River.
» www.okkervilriver.com
Farryl Purkiss
(Sheer Suon)
Farryl Purkiss kommt aus Umhlanga Rocks, einem Badeort in Südafrika. Der passionierte Surfer finanzierte die Aufnahmen für seine erste EP mit Model-Fotoaufnahmen und spätestens jetzt wird uns klar: wir haben es mit einem Menschen zu tun, mit dem es das Leben und die Umstände bisher sehr gut meinten. Wir zählen nochmal zusammen: südafrikanische Küste, Surfen, gutaussehender, begabter junger Mann – aber wir befinden uns in keiner Seifenoper, sondern auf Farryl Purkiss' neuem Album, das schlicht seinen Namen trägt und ihn schon bald in die Herzen und Ohren jener bringen wird, die Jack Johnson eigentlich gut finden, sich aber nicht trauen, das zuzugeben, weil dieser unter Kitsch- und Mainstreamverdacht steht. Farryl Purkiss «darf» man noch gut finden, weil er noch nicht so sehr bekannt ist - seine akustischen Balladen perlen unaufdringlich-eindringlich, verraten den grossen Romantiker («Please Stay» oder «Speechless/ for Venus»), aber auch den grüblerischen Melancholiker («Times Like These», «Ducking and Diving») und verbreiten den Charme des noch Unfertigen, Skizzenhaften. Grösstenteils sind nur seine zartbitterschokoladige Stimme und die sanft gezupfte Gitarre zu hören, dezenter Gebrauch von Celli und Geigen rundet die Songs ab. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Farryl Purkiss keine grosse Karriere machen wird, doch bis jetzt hat er sich eine angenehme Bescheidenheit bewahrt - in «Rain» singt er: «Life's been good to me, yes, Life's been good to me.» Ist doch mal was anderes als immer dieses Jammern und Klagen …
» www.farrylpurkiss.com