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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




September 2007
Christina Mohr
für satt.org

Short Cuts-Logo
September 2007, erste Hälfte:
Die «lauten» Platten


Da zwischen Mitte August und Anfang September drei Wochen lagen, gibt es dieses Mal (und nur dieses Mal!) zwei Short Cuts-Ausgaben, aufgeteilt in eine "leise" und eine "laute" Ausgabe …


Kommando Sonne-nmilch:
Jamaica (Buback)

Coverabbildung

1988 oder 1989, jedenfalls noch vor der Einswerdung der beiden Deutschlands, kam ich zum ersten Mal bewusst mit dem Werk Jens Rachuts in Berührung und zwar in Gestalt des mich bis heute tief beeindruckenden «Angst macht keinen Lärm». Rachuts damalige Band hiess Angeschissen und veröffentlichte «Angst» auf einer Splitsingle mit Das Moor (wie alles von Rachut bei Buback erschienen). Einige Zeit später, ich war inzwischen Studentin der Germanistik im schönen Gießen an der Lahn, erschien Rachut in der Kneipe, hinter deren Theke ich meine WG-Miete verdiente. Wie kam es dazu? Jens Rachut wurde schwer bewundert von der Gießener Band Boxhamsters, die ihn und seine neue Band Blumen am Arsch der Hölle zum berüchtigten Gießener Jugendzentrums-Weihnachtskonzert einluden. Um Rachuts Aufenthalt in der hessischen Kulturmetropole unvergesslich zu gestalten, brachten ihn die Boxhamsters mit in ihre Stammkneipe, also dort, wo ich Bier ausschenkte und für Geld den Gästen Zigaretten vorrauchte. Rachut verlangte einen Schnaps, den ich zwar jetzt einschenken sollte, aber bitte bis zum nächsten Tag aufheben sollte. Er würde ihn dann trinken. Ich (verständnislos): «Was?» Co (von den Boxhamsters, beschwichtigend): «Mach' das mal so, er wird sonst sauer. Er kommt bestimmt morgen!» Und so geschah es: ich goss einen Schnaps ein und stellte ihn in der Küche ab. Rachut kam wie angekündigt am nächsten Abend, um seinen gut abgehangenen Schnaps zu trinken. Erneut war ich beeindruckt vom letzten grossen Exzentriker des deutschsprachigen Punkrocks. In den vielen Jahren, die seit meiner Studentinnenzeit vergangen sind, war Rachut mit verschiedenen Bands (Dackelblut, Oma Hans) immer sowas wie letzte Bastion und Avantgarde in einem. Kommando Sonne-nmilch, die mit «Jamaica» gerade ihre zweite Platte rausbringen, haut dir genauso wie alle anderen Rachut-Bands dein verkacktes Leben um die Ohren und verbreitet trotzdem irgendwie Hoffnung. Beispiel: «Monotones Freizeittempo verbrüht im grossen Nichts / Einfachheitshalber unterbricht der Tod / Er schlendert oder hängt am leeren Gabentisch / Unter uns die Ratten und über uns wirds rot» (aus «Das Verhör»). Wem die Musik zu hart und die Texte zu drastisch sind, kann aber trotzdem Nutzen aus «Jamaica» ziehen, im Innencover ist ein sehr leckeres Krapfenrezept abgedruckt. Unterstützt wird Rachut von seinen bewährten Mitstreitern Stephan Mahler (Slime, Angeschissen), Andreas Ness (Oma Hans, Dackelblut) und Ronny (Kommando S.), produziert hat Tobias Levin.


» www.buback.de



Hey Gravity!: Risen

Coverabbildung

Hey Gravity! entstanden aus den Trümmern der britischen Garagepunkband M.A.S.S., die von keinem geringeren als John Peel schwer abgefeiert wurden. M.A.S.S. sind mittlerweile Geschichte, auch John Peel weilt nicht mehr unter den Lebenden, doch Justine Berry, aufmüpfige Rrriot-Diva und Ex-M.A.S.S.-Sängerin lässt sich weder vom Tod noch sonstigem Unbill aufhalten. Ihre neue Band Hey Gravity!, die sie mit Gitarristin Anna Hall und einigen ehemaligen M.A.S.S.-Mitstreitern gegründet hat, klingt so wild und energiegeladen wie eine Horde Collegekids vor dem berüchtigten Spring Break. Der US-Collegeband-Link mag von Producer Jeff Saltzman herrühren, der in seinem Studio in San Francisco bereits The Killers und The Sounds unter die Arme griff, was sich auf den Gesamteindruck auswirkte – griffige, rockende Kurzhymnen für ein feierwütiges Publikum. Doch Hey Gravity! sind im Herzen durch und durch britisch, weshalb sie sich auf die Wurzeln des insulanen Punkrock berufen und mit beherzter attitude durch ihr Album fegen. Der Opener «Risen» ist ein polternder, nach vorne drängelnder Ohrwurm, den man in diesem Jahr nicht mehr aus dem Kopf bekommen wird – Justines Stimme erinnert an Keren O. von den Yeah Yeah Yeahs, was ja nicht die schlechteste Referenz ist. Die 12 folgenden Songs deklinieren das gesamte Punkrockerbe durch, Verschnaufpausen gibt es wenige, das eindringliche «Bird in A Cage» ist eine solche, auch «Scumbag», bei dem man förmlich tumbleweeds vorbeirollen sieht, expandiert den Hey Gravity!-Kosmos.

Anders als vergleichbare Bands wie The Gossip verwenden Hey Gravity! bis auf den deepen House-Bass bei «Inside Out», der mal kurz zu Blondie und «Heart of Glass» rüberwinkt, kaum Dance- oder Discoelemente. Die Tanzbarkeit der Hey Gravity!-Stücke speist sich aus purer Rockenergie mit deutlichen Bluesanleihen, die dem Sound eine dreckige Erdigkeit geben. In Frankreich kamen Justine Berry und ihre KollegInnen schon sehr gut an: sie erreichten Platz 12 der französischen Airplay-Charts – ein ähnlicher Erfolg ist in Deutschland zwar kaum wahrscheinlich, aber sehr wünschenswert!


» www.heygravity.com
» myspace.com/heygravity



M.I.A.: Kala
(XL/Beggars)

Coverabbildung

Als Maya Arulpagasam alias M.I.A. alias Missing in Action 2004 ihr Debütalbum „Arular“ veröffentlichte, war ihre Arbeit hauptsächlich durch herkunftsbedingte Konflikte dominiert – M.I.A. wurde vor 30 Jahren in Sri Lanka geboren, ihr Vater war Mitbegründer einer militanten Tamilengruppe. Die Mutter ging mit der kleinen Maya und ihren Geschwistern nach England, um sich in London niederzulassen, wohin bereits viele Sri-Lankesen lebten. Als Teenager in der Metropole London begeisterte sich Maya/M.I.A. für HipHop und Streetstyle, ohne jemals ihre Wurzeln vergessen zu können. Ihre Einflüsse und die auf sie einströmenden Cultureclashes kanalisierte sie mittels Musik: „Arular“, eine heftige Melange aus Grime, Dancehall, Rap und HipHop verband politische Statements mit dem Aufruf zum Tanz, was ihr viel Presseaufmerksamkeit bescherte. M.I.A. sieht sich als Kämpferin – aber sie will und kann ihren Aktionsradius nicht auf Sri Lanka/GB beschränken, sie äußerte sich häufig antiamerikanisch, zeigte ihren Unmut gegen die Politik George W. Bushs. Das brachte erwartbare Schwierigkeiten, erst nach zähem Ringen bekam sie ein begrenztes Einreisevisum für die USA, wo sie beim Lollapalooza in Chicago auftrat und Timbaland traf, der einen Track ihres neuen Albums produzierte („Come Around“). „Kala“, laut M.I.A. „not a break-up album, it's a wake up album“, verfolgt die mit „Arular“ begonnene Linie weiter, ist aber – im positiven Sinne – gefälliger geraten. „Kala“ operiert global, der Beat der ganzen Welt kommt hier zum Einsatz, eine riesige Block Party wird gefeiert, die sich von London über Trinidad, Australien, Japan bis in die schwer zu knackenden USA ausdehnt. Gleich am Anfang zitiert M.I.A. Jonathan Richmans „Roadrunner“, sie samplet The Clash's „Straight to Hell“ und „Where is my Mind“ von den Pixies – Pophistory galore, dazwischen immer wieder Bollywood-artige indian vibes und tribale Drums. M.I.As Gäste kommen aus vielen Ecken der Erde, The Wilcannia Mob, eine australische Aborigines-Gruppe, steuert die Didgeridoos zu „Mango Pickle Down River“ bei, der nigerianische Rapper African Boy ist beim kickenden „Hussel“ zu hören. Tracks wie „20 Dollar“ und „XR2“ spielen mit Elektro-Elementen und featuren die tiefsten Bässe, die man in diesem Jahr hören wird. „Jimmy“, der Radiohit der Platte, ist knallbunter Pop, der den Geist der Slits und der Wee Papa Girl Rappers atmet. M.I.A. bringt awareness auf die Straßen und Tanzflächen der ganzen Welt – und ist damit in diesem Jahr mit Björks Album „Volta“ auf einer Wellenlänge.


» www.miauk.com
» myspace.com/mia



Architecture in Helsinki:
Places Like This
(V2/Cooperative)

Coverabbildung

Mit ihrem 2005'er-Album «In Case We Die» avancierte das australische Kollektiv Architecture in Helsinki zur Speerspitze sogenannter «Twee»-Bands, die aus -zig Stilen mit -zig Instrumenten und -zig Musikern einen fröhlichen, durchgedrehten Mix aus Indiepop, Folk und Soft-Psychedelic fabrizierten. Auch David Byrne zeigte sich begeistert von der Band und stattete ihnen einen unangekündigten Backstagebesuch nach einem ihrer Konzerte in New York City ab. Ob dieses Ereignis den Ausschlag dafür gab, dass Bandleader Cameron Bird im vergangenen Jahr seine Heimatstadt Melbourne verliess, um nach New York zu ziehen, kann nur vermutet werden – Fakt ist, dass Bird inzwischen mitten in Brooklyn lebt und seine neue hood mit Einwanderern aus Puerto Rico, der Dominikanischen Republik und Jamaika starke Eindrücke bei ihm hinterliess, die sich auf dem neuen Album deutlich zeigen. Noch immer besteht der AiH-Sound aus vielerlei Ingredienzien, neu ist der Einsatz von latin grooves und knackigem urban funk, wie ihn einst der Tom Tom Club erfand. Mit den Einflüssen aus dem Big Apple in Kopf und Ohr begann Bird, die neuen Stücke für «Places Like This» auszutüfteln. Das Ergebnis ist deutlich druckvoller, kräftiger und songorientierter als «In Case We Die», ohne dessen Verspieltheit eingebüsst zu haben. Die Single «Heart It Races» ist ein funky Dancehit, der Synthetik und karibische Steeldrums beherzt zusammenbringt und eine hypnotische Sogwirkung entwickelt. Die B-52's kommen als Vorbilder bei «Hold Music» ins Spiel, hier wird überbordend fröhlicher Play-Funk zelebriert, der wunderbar mit dem wirrköpfigen Kirmesschlager «Underwater» kontrastiert. Bei «Debbie» (angeblich keine Hommage an Debbie Harry) gibt's Discofunk mit Falsettstimme, Trompeten und Rapeinlage. «Lazy (Lazy)» nimmt Tempo und Druck ein wenig heraus, der schaukelnde, tänzelnde Rhythmus und das wilde «hu-hu-hu»-Geschrei am Ende kommen dem happy Folkpop der Architecture-Anfangstage noch am nächsten. «Places Like This»präsentiert Architecture in Helsinki als Band mit enormen Expansionsdrang, aber zum Glück ohne jegliche Anzeichen des Erwachsenwerdens.


» architectureinhelsinki.com



Animal Collective:
Strawberry Jam
(Domino/Rough Trade)

Coverabbildung

Vergesst den Kaffeesatz! Die Zukunft offenbart sich in der Erdbeermarmelade! Animal Collective aus Baltimore/Maryland, von Martin Büsser als «beste Band der Welt» bezeichnet, haben ihr achtes Album «Strawberry Jam» genannt, weil die glänzende, schwabbelnde, stückige Masse die Band an Aliens erinnert. Wo ist die Verbindung? Das tierische Kollektiv hat sich vor und während der Aufnahmen zu «Strawberry Jam» eingehend mit Science Fiction befasst, viele Bücher gelesen und vor allem Filme angeschaut, so dass futuristische und phantastische Elemente in die Platte eingegangen sind. Wobei erwähnt sein sollte, dass Animal Collective-Alben bisher immer futuristisch und phantastisch klangen, ob mit oder ohne vorher geguckte UFO-Filme. Die Collective-Mitglieder Panda Bear, Avey Tare, Deacon und Geologist lieben die Entgrenzung, setzen bei ihren legendären Auftritten und auf den Platten die Gesetze von Zeit und Raum ausser Kraft und geben dem Begriff «Session» eine völlig neue Bedeutung. Trotz Tiernamen und Psychedelik sind Animal Collective keine durchgedrehten Hippies, sondern Musiker, die genau wissen, was sie tun und was sie wollen, vor allem, wie ihre Stücke klingen sollen. Die Songs sind bei allem Improvisationscharakter durchkomponiert und strukturiert, «Strawberry Jam» wirkt konzentrierter und stringenter als seine Vorgänger. Elektronik spielt eine grössere Rolle, was die Musik des Kollektivs aber nicht weniger organisch klingen lässt. Ein Animal Collective-Song lebt, atmet, isst und trinkt und seine Entwicklung lässt sich ebenso wenig vorhersagen wie die eines dreijährigen Kindes.
Die Rhythmik ist komplex und verwirrend, Tracks wie «Fireworks», die Single «Peacebone» oder «for Reverend Green» entwickeln aus versplitterten Einzelteilen nach wenigen Sekunden soghafte Wirkung, verspielt und manchmal ein bisschen gespenstisch werden die Geister der Beach Boys, der Byrds und anderer amerikanischer Archetypen beschworen und durch die nächtliche Wüste gejagt. Mit «Cuckoo Cuckoo» und «Derek» klingt der marmeladige Space-Trip beinah ruhig aus und hinterlässt uns verwirrt und glücklich.


» myspace.com/animalcollectivetheband
» Animal Collective bei YouTube



Menomena:
Friend and Foe
(Barsuk/CitySlang)

Coverabbildung

Menomena sind Brent Knopf, Danny Seim und Justin Harris aus Portland, Oregon und können durchaus als Seelenverwandte des Animal Collective durchgehen – auch Menomenas Musik lässt sich nicht in gängige Rock- oder Popschemata pressen, die Band orientiert sich eher am opulenten, durchgeknallten Prog-Rock der siebziger Jahre als an angesagten Trends. Doch was beim Animal Collective in atemberaubender Schönheit gipfelt, macht bei Menomena nervös und hibbelig: die Arrangements bersten vor Ideen, hinter jedem kleinen Detail blinken zehn andere auf; es ist schwierig, aufmerksam zu bleiben, nicht am Überangebot an Sounds und Melodiefetzen zu scheitern. Obwohl sich in all der Kleinteiligkeit einige Perlen verstecken, man muss sie nur finden. Am besten jeden Tag nur ein oder zwei Songs anhören und danach zur Beruhigung ein grosses Bier trinken. Das sagenhafte Cover (zum Aufklappen, aus Monsternasen und -augen kommen neue kleine Monster, Kätzchen, Sprechblasen …) ist vom Comic-Künstler Craig Thompson, der wie Menomena auch zur Detailverliebtheit neigt – aber Bilder angucken strengt ja nicht so an.

Menomena live in Deutschland 2007: Sep 19 Hamburg- Übel & Gefahrlich, Sep 20 Berlin- Postbahnhof (CitySlang und Coop-Festival im Rahmen der PopKomm mit Stars, Architecture in Helsinki, The Go! Team, Malajube, Los Campesinos, Caribou), Sep 21 Heidelberg- Karlstorbahnhof, Sep 22 Münster- Gleis 22, Oct 04 Köln- Stadtgarten, Oct 05 Nürnberg- Muz, Oct 06 München - Orangehouse


» www.menomena.com