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Februar 2008
Christina Mohr
für satt.org

Morrissey:
Greatest Hits

(Decca)

Morrissey, Greatest Hits (Decca)
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GREATEST HITS TRACKLIST

Das "Greatest Hits"-Album markiert den Anfang der Zusammenarbeit zwischen dem Label Decca und Morrissey. Ein neues Studioalbum ist für Herbst 2008 geplant.
Das Album umfasst den Zeitraum von 1988 - 2008 und enthält mit "That's How The People Grow Up" und "All You Need Is Me" zwei brandneue Songs.

Stephen
Patrick
Morrissey:
Sing Our Lives

In Simon Reynolds fantastischem Buch „Bring the Noise“, das in Kürze auch in deutscher Übersetzung erscheinen wird, finden sich folgende Sätze über The Smiths und Morrissey:

Bring the Noise„The Smiths were important because of their extremism, their unbalanced view of the world, their partiality. Morrissey is a character in a pop era of nonentities, and characters are always lopsided, contrary, incomplete, the sum of words and bigotries. There's no such thing as a fully rounded character. Morrissey is 'half a person', his very being constituted around lack, maladjustment – this is the vantage point from which he launches his impossible demands on life, his denial of the reality principle. Satisfaction and adjustment could never enter The Smiths' picture, for this would breach their identity. This is why Morrissey can't 'develop' as an artist. How can he grow when his very being is constructed around the petulant refusal – 'I won't grow up'?“

Und auf Reynolds ungläubige Frage, „You're satisfied with your dissatisfaction?“ antwortet Morrissey: „Totally. I couldn't be happier. I don't want anything to interfere with this state of dissatisfaction.“

Warum zitieren wir dies alles? Weil sowohl der Smiths-Artikel als auch Reynolds' Interview mit Morrissey nicht etwa aus diesen Tagen stammen, sondern von 1987 und -88. Reynolds schreibt damals, die Faszination der Smiths bestünde aus „a weird mix of the reactionary and the progressive“ und genau dieser „weird mix“ charakterisiert Stephen Patrick Morrissey, Jahrgang 1959, seit jeher und bis heute. Im Grunde hat Morrissey seine öffentliche Persona nie wirklich verändert, hat seit Smiths-Tagen die Aura des Wilde'schen Dandy, kombiniert mit der Haltung eines noch immer an seiner verpfuschten Jugend leidenden, angeblich asexuellen highbrow-Zynikers kultiviert. Diese monolithische, alterslose Erscheinung macht ihn zum gottgleichen Anbetungsobjekt für Heerscharen verschiedenster Fantypen: für konservative Olde-England-Supporter genauso wie für nachdenkliche Nerds, jugendliche Hipster, romantisch veranlagte Frauen, die den in sich selbst eingekerkerten Prinz befreien wollen... für all diese Menschen hat Morrissey stets die richtigen Songs geschrieben – auch und gerade nach den Smiths-Zeiten, als er (endlich) auf niemandes Gefühle oder Einwände mehr Rücksicht nehmen mußte. Ist es so, wie Reynolds vor mehr als zwanzig Jahren schrieb, dass Morrissey sich als Künstler gar nicht entwickeln kann, respektive will? Steckt er fest in diesem „weird mix of the reactionary and the progressive“? Oder hält er die Versprechen, an die seine Die-Hard-Fans glauben (und denen Reynolds heute empfiehlt: „all fans need to grow out of Morrissey and start their lives.“)? Da heutzutage derart polarisierende Künstler wie Stephen Patrick Morrissey selten geworden sind, soll dieser Artikel möglichst viele Stimmen wiedergeben und keine weitere einsame Abarbeitung über einen Star sein. Oder – hallo, Zitathölle – an den Jungen aus dem Smiths-Song „Ask“ gemahnen: „Spending warm Summer days indoors / Writing frightening verse / To a buck-toothed girl in Luxembourg.“

Deswegen schickte ich vor zwei Wochen an einen kleinen Kreis von satt.org-SchreiberInnen folgende Mail:

„Am 8.2. erscheint eine neue Morrissey-Greatest-Hits-CD. Bitte listet Eure drei Lieblingssongs von Moz auf - und wer mag, kann/darf/soll in ein paar Sätzen schreiben, was er oder sie an Morrissey mag oder nicht. Mir persönlich geht es so, dass ich seine Musik sehr liebe und bei "First of the Gang to Die" regelmäßig anfange zu heulen; andererseits macht es mich wahnsinnig wütend, wenn er sagt, 'dass man in Knightsbridge kein richtiges Englisch' mehr hört. Also: Zwiespalt hoch drei bei diesem Mann und mich würde interessieren, was Ihr von ihm haltet.“

Diese Aufgabe entfesselte nicht durchgängig hemmungslose Begeisterungsstürme, sondern zum Teil harsche Ablehnung. Thomas Stein brummelte per E-Mail, „Moridingsbums ist ein weinerlicher Narziss und das kannst du auch genau so schreiben.“ Ein Kollege, der ungenannt bleiben möchte, gestand, die Smiths und Morrissey nie gehört zu haben. Die Antworten derer, denen doch einiges zu Stephen Patrick Morrissey einfiel, gibt es hier:

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Jürgen Körber:
Zu Pat muss ich leider sagen, dass ich gar keine Lieblingslieder habe, da er und die Smiths irgendwie nie so richtig an mich gegangen sind. Vielleicht hab ich mich auch nur nicht richtig reingehört. Muss ich mal nachholen, ist ja schon 'ne Lücke. Daher kann ich Deine Emotionen zur besagten Musik auch nicht teilen, aber an dieser Stelle ruhig zugeben, dass zu meinen persönlichen Tearjerkern "Like a rollin' stone" - natürlich in der Version vom Meister – gehört.

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Konzert Ticket, 21.5.1983

Konzert Ticket, 21.5.1983
(Quelle: Steven G. / The Fall online)

Robert Mießner (junge Welt, satt.org)
...eigentlich ist es ja gemein. Ich bin mittlerweile strikt gegen die These, wonach The Fall nur in den 80ern gut waren. Und jetzt mache ich bei Mozz genau das. Problem ist, dass mir von den Smiths einfach mehr im Gedächtnis geblieben ist. Von seinen Soloplatten hat mir - ganz ehrlich - Southpaw Grammar sehr gut gefallen. Ich glaube, das ist die, die alle ernsten Fans weniger gut finden. Ich würde aber wahrscheinlich auch nach zehn Minuten von jedem Nick-Cave-Fan-Stammtisch verjagt werden.
Hier meine Top-Moz-3:
The Smiths, Handsome Devil (John Peel Session, Mai 1983)
Es soll Zeitgenossen geben, die die Smiths, Morrissey im besonderen, für Softies halten. Sie haben diese vier Songs, Handsome Devil speziell, noch nicht gehört. Von der allerersten Session Steven Patrick Morrisseys, Johnny Marrs, Andy Rourkes und Mike Joyces für Meister Peel. Im selben Monat gaben sie ihr siebentes Konzert. Im Vorprogramm für The Fall, 21. Mai 1983, Electric Ballroom, London.
The Smiths, A Rush And A Push And The Land Is Ours (Strangeways, Here We Come, 1987)
Der Fluch derer, die nix als Denken gelernt haben. Wer sich hier angesprochen fühlt, wer das begriffen hat, arbeitet bereits an der Korrektur des Fehlers: Menschen, die schwächer sind als Du und ich, nehmen sich vom Leben, was sie wollen. Für diese Zeile vom letzten Smiths-Album hat sich Morrissey eine Luxusausgabe Oscar Wilde und eine extrateure Zigarre verdient.
Morrissey, The Operation (Southpaw Grammar, 1995)
Das Album hat nicht den besten Ruf, der des Songs scheint unter Fans geradezu ruinös zu sein. The Operation ist knappe sieben Minuten lang, besteht hauptsächlich aus einem zweiminütigem Schlagzeugsolo und viel Gitarrengezerre. Am Text wurde gemäkelt. Jede/r sollte mal ein Album machen, dass entweder unterbewertet und / oder nicht radiotauglich ist. Allerdings halte ich auch Nick Cave & The Bad Seeds Nocturama für von Hardcorefans sträflichst vernachlässigt.

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Thomas Backs:
Mit der Musik von Morrissey und Marr bin ich aufgewachsen. "How soon is now?" war der erste Song, den ich im Radio gehört habe. Meine erste Platte von The Smiths war dann "The world won't listen", die ich damals rauf und runter gehört habe. Da war auch "Half a person" drauf und da ich damals auch "Half a person" war, habe ich den Song ständig gehört. Auf Vinyl natürlich! Im Jahr 1992 war ich bei meinem ersten Morrissey-Konzert in der Düsseldorfer Philipshalle mit meinem besten Freund Christof, den ich über unsere Liebe zur britischen Gitarrenmusik auf der Südtribüne beim BVB kennen gelernt habe. Danach waren wir 1999 oder so im E-Werk in Köln. Damals war Steven Patrick in Deutschland total vergessen und wir konnten unsere Karten ohne Probleme an der Abendkasse kaufen. War aber wunderbar, denn er hat Smiths-Sachen wie "Is it really so strange?" gesungen. Christof hat sich dann das West Ham Boys-Shirt geschnappt, das Morrissey ins Publikum geworfen hat. Das hütet er natürlich bis heute wie einen Schatz. Ist es ja auch! 2006 waren wir dann natürlich wieder in der Düsseldorfer Philipshalle. Da war es - anders als 1992 - brechend voll und ein ganz toller Abend. Das beste Morrissey-Konzert, bei dem ich persönlich war. 1995 war ich alleine in Dublin, im Point Depot am Liffey, als Morrissey vor David Bowie aufgetreten ist. Natürlich war ich einzig und alleine wegen Steven Patrick da. Steven hatte damals die "Southpaw Grammar" draußen, die in den Zeiten des großen Britpop-Hypes total gefloppt ist. Schade, denn es war eine ganz tolle Platte mit Songs wie "Reader meet Author" und "The Operation". Von der Best of gefällt mir "All you need is me" sehr gut, das habe ich schon oft auf Youtube angesehen, als Live-Auftritt aus dem US-Fernsehen.
Meine drei Lieblingssongs von Morrissey? Ganz schwierige Frage, ich versuche es mal mit Solo-Songs ohne die Smiths-Sachen, denn dann wäre es ganz unmöglich.
Also:
Irish Blood, English Heart: Was für ein Comeback! Ich konnte das damals gar nicht glauben, der Song ist bis heute bei mir auf heavy rotation und der beste Beweis dafür, dass Steven Patrick Morrissey kein Nazi oder Faschist ist.
Speedway: Von "Vauxhall and I". Der Song spricht für sich, da muss ich nichts mehr zu schreiben.
Sister I'm a poet: Alte B-Seite, an diesen Stellen hat er oft in guter, alter britischer Tradition seine besten Songs veröffentlicht. Genau wie Hairdresser on fire. Oder The never played symphonies.

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Klaus Walter (Der Ball ist rund/Hr3, Was ist Musik?/byte.fm)
Den Zwiespalt sehe/empfinde ich genauso, dazu die alberne Bigotterie mit Vespas in Rom und "Je suis Morrissey"-T-Shirt, also das kulturell wertvolle Alteuropa hochhalten gegen die minderwertigen Einwanderer aus Indien. Bigott ist allerdings auch der NME, wenn er Morrisseys Ausfälle an die große Glocke hängt. Dabei arbeitet der NME seit vielen Jahren an einer Rekonstruktion des (bis auf den Sänger von Bloc Party) 100% weißen Rock-Universums, ignoriert weitgehend alle anderen Stile und pflegt eine völlig unzeitgemäße Stil-Apartheid.

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Christina Mohr (Musikredaktion satt.org)
Lieblingssongs:
The Last of the Famous International Playboys: Wünsche mir eine Karaoke-CD, auf der dieses Stück drauf ist. Auf meinem 60. Geburtstag werde ich dann auf einem Kreuzfahrtdampfer dieses Lied schmettern, aber nicht, ohne vorher eine Flasche Champagner getrunken zu haben.
First of the Gang to Die: Der bereits erwähnte „Tearjerker“. Keinem Erwachsenen ausser Morrissey gelingt es, juvenilen Schmerz so treffsicher auszudrücken.
Everyday Is Like Sunday: Jede(r), der/die in einer Kleinstadt aufgewachsen ist, muss diesen Song lieben: „This is the coastal town / That they forgot to close down / Armageddon - come armageddon! / Come, armageddon! come!“



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