März 2008, zweite Hälfte:
Das verschneite Osterfest hatte zumindest einen positiven Nebeneffekt: man konnte zuhause bleiben und sich schöne neue Platten anhören. Zum Beispiel von den B-52’s, Teitur, I-Fire, The Ruby Suns, Stephen Malkmus & The Jicks und dem Matana Roberts Quartet. Alle Alben hören sich natürlich auch nach Ostern noch genauso gut an.
The B-52's: Funplex
(Astralwerks/EMI)
Wäre mein Leben anders verlaufen, hätte ich die B-52's nie gehört? Ob sich diese Frage schon viele Menschen gestellt haben, kann man nur mutmaßen. Die Rezensentin beantwortet sie mit einem beherzten “ja”: ohne The B-52's hätte sie zum Beispiel nie gelernt, einen Hoola-Hoop-Reifen mehrere Minuten auf Taillenhöhe kreisen zu lassen (genau so lange, wie der Song “52 Girls” dauert), auch die zeitweilige modische Fixierung auf Sixtiesklamotten, -accessoires und -mobiliar hätte wohl nicht stattgefunden. Seit ihrer Gründung 1976 in Athens/Georgia waren die B-52's immer Teil der Popkultur und gleichzeitig ihre sezierenden Kommentatoren – also Pop und Metapop. Schon der Bandname, der auf die Bienenkorbfrisuren hipper Sixtiesladies und auf einen Langstreckenbomber der US Air Force rekurriert, zeugte von einer ganz besonderen Art von Humor. Die schrill-bunten Outfits der Band passten perfekt zur musikalischen Mixtur aus Rock'n'Roll, Wave, Funk und Punk. Kate und Cindys kaum voneinander unterscheidbare Stimmen konterkarierten das schnarrende Organ Fred Schneiders, dazu ertönten fräsend-schneidende Gitarrenriffs, die den B-52's-Sound von Anfang an unverwechselbar machten. Inhaltlich ging es bei den B-52's um jegliches nur vorstellbare Strandgut der Entertainmentkultur: um UFOs, Monster, B-Movies, Autos, Raketen und – nicht zuletzt – um ulkige Tiere. 1979 erschienen die epochale Single “Rock Lobster” und das erste Album. Damals bestanden The B-52's noch aus fünf Personen: den Geschwistern Cindy und Ricky Wilson, Keith Strickland, Kate Pierson und Fred Schneider. Als Ricky Wilson 1985 an AIDS starb, kehrte tiefe Trauer ins bis dato unbeschwerte B-52's-Universum ein. Nach einigen Jahren der Zurückgezogenheit gelang ihnen 1989 ein fulminantes Comeback mit “Cosmic Thing”, ihrem erfolgreichsten Album, auf dem sich Hits wie “Love Shack” und “Roam” befinden. 1994 landeten The B-52's endgültig im Pop-Olymp (oder Mainstream – je nach Sichtweise): als The BC-52's zeichneten sie für den Filmsong “Meet the Flintstones” verantwortlich. Trotz oder wegen des enormen Erfolgs lösten sich die B-52's im selben Jahr auf. Aber The B-52's verschwanden nicht komplett von der Bildfläche: 1998 erschien die Greatest-Hits-Platte “Time Capsule: Songs for a Future Generation”, auf der zwei neue Tracks zu hören waren, weitere Compilations folgten; die einzelnen Mitglieder veröffentlichten Soloalben oder traten als Gastsänger miti anderen Künstlern auf (Kate Pierson sang mit Iggy Pop “Candy” und mit REM “Shiny Happy People”), ausserdem gaben sie zumindest in den USA regelmässig Konzerte. Und jetzt, sechzehn Jahre nach der letzten regulären LP (“Good Stuff”) ein neues Album: “Funplex” heisst es und man war nicht wirklich darauf gefasst. Schon der erste Track “Pump” katapultiert die geneigten Hörer ohne Umschweife in den B-52's-Orbit, Signalwörter wie “jelly” oder “motor runnin'” sorgen für sofortigen Wiedererkennungswert. Nun können sogenannte Comebackalben ja schwer in die Hose gehen und Fremdschämgefühle hervorrufen – nicht so bei den B-52's. The B-52's anno 2008 klingen durchweg aufgeräumt und gut gelaunt: der Gitarrensound ist wie gewohnt schneidend, Keith Strickland sorgt am Schlagzeug für den zackigen Beat und das Zusammenspiel der weiblichen Sirenengesänge plus nöliger Fred-Schneider-Stimme funktioniert fabelhaft, als hätte die Band tatsächlich die Zeitmaschine erfunden, die in früheren Songs schon oft beschworen wurde. Noch immer sind ihre Songtexte Cut-ups aus dem Fundus der Konsumgesellschaft, in “Ultraviolet” heisst es “Caught in the splendor / and I'm lovin' it / I'm lovin' it”. Auch wenn Songs wie “Juliet of the Spirits” und “Eyes Wide Open” ein bisschen weichgespült klingen: also bitte, diese Leute sind knapp sechzigjährige Amerikaner! Wer sich zunächst nicht traut, das ganze Album anzuhören, sollte unbedingt den Titeltrack und “Love in the Year 3000” anwählen. Danach haben sich alle Bedenken im Funplex aufgelöst, garantiert. [Christina Mohr]
» www.theb52s.com
» myspace.com/theB52s
Teitur: The Singer
(Edel Records)
Es gibt sie, die Alben, bei denen die Skip-Taste oder die Plattennadel einen immer wie automatisiert zurück zu einem ganz bestimmten Song bringen. Weil der einfach so gut ist, dass er mindestens zwölf Mal am Tag gehört werden will. Bei „The Singer“, dem dritten weltweit vertriebenen Album von Teitur Lassen, der auf den Färöer Inseln aufgewachsen ist und heute in London lebt, ist es Titel Nummer fünf. „Catherine the Waitress“ ist der vertonte Flirt mit einer Kellnerin. Aber: Der Flirt findet nur im Kopf des lyrischen Ichs statt. Denn Catherine, die Kellnerin, hat den Songwriter noch nicht einmal wirklich registriert. „Catherine the waitress/ if you only knew where my heart is/ 'Is there anything you 'd like? '/ If I could only tell you/ You haven't even noticed me, but, oh, you are so good to me!” Doch eben dieser Flirt ist es, der Teitur Lassen in diesem melancholischen Stück in elf Akten genannt „The Singer“ zu einem fröhlich beschwingten Ohrwurm hinreißt, der sogar Chart-Potential hätte, wenn noch jemand Musikfernsehen sehen würde und die Plattenfirma genug Geld für einen passablen Videoclip zur Verfügung stellen könnte. „At the Hop“ untermalt von einem lässig flirtenden Vibraphon. Das ist hamma! Ähnliche Songs sind auf „The Singer“ nicht zu hören. Kein Wunder: Das Album wurde im Spätherbst 2007 auf dem Anwesen einer schwedischen Prinzessin aus dem 19. Jahrhundert aufgenommen. Einem Ort der Ruhe auf der windumpeitschten Insel Gotland vor der Küste Schwedens. Teitur Lassen in seinem myspace-Blog: “This album was made in tranquility and isolation. The result is a very natural and somehow nordic sounding record. A producer friend of mine told me this album is 'heart and mind' music more than 'body and soul' music and maybe he has a point.” Entstanden ist ein Album, das Teitur mit einem Musical oder mit einer Sammlung von Kurzgeschichten vergleicht. Und: Geschichten erzählen kann Teitur Lassen ganz wunderbar. Oft sind es tieftraurige Geschichten. So wie „Legendary Afterparty“. Ein Song über einen Abend mit dem Blues-Musiker Chris Whitley, kurz vor dessen Tod durch Krebs. „We bought a six-pack and headed to the Austin Motel./ Stars were aligned between heaven and hell./ The door was open, we sat on the floor./ You rolled those cigarettes like you'd been to war./ You told me how you met Andy Warhol when you arrived on the New York scene.” Einer von elf Songs, die mit Instrumenten wie Klarinette, Violine, Glockenspiel, Tuba und Vibraphon untermalt sind. Meist melancholisch und nachdenklich. Aber mindestens einmal auch fröhlich beschwingt! Live muss das ganz wunderbar sein, deshalb ist Teitur natürlich auch wieder im deutschsprachigen Raum unterwegs. [Thomas Backs]
Teitur Live:
25. März: Hamburg, Prinzenbar. 26. März: Münster, Gleis 22, 27. März: Heidelberg, Karlstorbahnhof. 28. März: München, Ampere, 30. März: Berlin, Roter Salon. 31. März: Bielefeld, Kamp. 1. April: Köln, Luxor (hieß zwischendurch mal Prime Club)
» Video zu „Girl I Don't Know“
» www.teitur.com
» myspace.com/teitur
» www.edel.com
I-Fire:
Vom Schatten ins Licht
(Soulfire)
I-Fire ist eine neunköpfige Band aus Hamburg, die laut Pressemitteilung Power-Mitmach-Reggae mit deutschen Texten und Anleihen an HipHop macht. Mit „Vom Schatten ins Licht“ legen I-Fire ihr Debütalbum mit insgesamt zwölf Stücken plus Intro vor; die ersten Minuten erinnern zunächst leicht an wortreichen und aggressiv gereimten Rap aus Problemstadtteilen Frankfurts; glücklicherweise kommen die Jungs dann aber recht schnell zu feinen Reggae-Rhythmen, in die sich dann sogar erfreulich viele Bläser einschalten, so dass auch Ska-Liebhaber sich damit anfreunden können. Was dann allerdings doch nicht heißt, dass der Reggae allzu sehr powert, hier kann ich die Presseinfo nicht ganz nachvollziehen, insgesamt bleibt es doch sehr ruhig und entspannend. Auch die deutschen Texte sind durchaus witzig und konsumkritisch, und rufen eher zur Ruhe denn zur Eile auf. Allerdings hätte ihnen doch eine größere inhaltliche Abwechslung gut getan: die Aussage, dass der Genuss von Ganja eine feine und beruhigende Sache sein kann, aber von der Obrigkeit nicht gern gesehen wird, trägt nicht unbedingt ein ganzes Album. Sehr gut gelungen sind „Zwei Dinge“ und „Higher Level“, jeweils wirklich schöner und gut gespielter Reggae. Musikalisch haben I-Fire einiges drauf, es gibt ein kurzes Klavierintro bei „B-Town Boogie“ und Anklänge an Ennio Morricones Filmmusik bei „Fire Fire“, leider aber nur am Anfang. Da habe ich mir doch gewünscht, dass Variationen wie diese noch stärker in die kompletten Lieder eingehen, an den erforderlichen Fähigkeiten mangelt es der Band ganz offensichtlich nicht. Aber auf jeden Fall ein sehr vielversprechendes Erstwerk; wer Reggae mag, sollte reinhören, wer Reggae und HipHop mag erst recht. Ach ja, den titelgebenden Song „Vom Schatten ins Licht“ findet man nach einer halben Minute der Stille am Ende des letzten Tracks. Wer hat sich das eigentlich als Erster ausgedacht und warum? [Jürgen Körber]
» www.soulfire-artists.de
Stephen Malkmus & The Jicks:
Real Emotional Trash
(Domino/ Indigo)
Auch Männer können multitaskingfähig sein. Paralleles Lesen und Musik hören sollte zumindest möglich sein. Zum Erscheinen von „Real Emotional Trash“, dem zweiten Album, das Stephen Malkmus mit The Jicks eingespielt hat, bietet sich die Lektüre von „Love is a Mixtape“ des Rolling Stone-Redakteurs Rob Sheffield an, das satt.org bereits vorgestellt hat.
Sheffield erzählt aus seinem Leben mit seiner verstorbenen Frau Renée. Anhand von fünfzehn Mixtapes, die Renée für ihn gemacht hat. Ja, und Pavement spielen da eine ganz zentrale Rolle. Denn: Wie Millionen andere Indie-Popfans haben Rob und Renée sie geliebt. Für ihre traumhaften Gold Soundz, fetten Riffs und wunderbaren Lyrics, mit denen Malkmus & Co. unzählige Bands maßgeblich beeinflusst haben und den Soundtrack der frühen 1990er Jahre lieferten. Und Stephen Malkmus hat 2008 immer noch kein Range Life, er ist immer noch auf der Reise. Dabei fängt er mit Songs wie „Cold Son“ und „Gardenia“ traumhafte Melodien und Erinnerungen ein. An Menschen wie Renée. Vielleicht ja auch an Silke, Julia, Andrea, Anke und Sonja und all die anderen Pavement-Liebhaberinnen im deutschsprachigen Raum. Geholfen haben ihm bei „Real Emotional Trash“ The Jicks, die mit Janet Weiss (Sleater Kinney, Quasi) eine neue Schlagzeugerin gefunden haben, deren Backing Vocals viele der Songs zum Leuchten bringen. Zum Beispiel bei „Hopscotch Willy“, das nahtlos an den Opener „Dragonfly Pie“ anknüpft. Zwischendurch kann mit „Real Emotional Trash“ natürlich auch wieder gepflegt gebangt werden, so wie bei „Elmo Delmo“ und beim zehn Minuten langen Titeltrack, der Elemente von Fairport Conventions „A Sailor's Life“ und von „Happy Trails“ (Quicksilver Messenger Service) zitiert. Gepfeffert wird das Ganze mit Malkmus' Lyrics. Geschmacksprobe: “Who is that said the world is my oyster/ I feel like a nympho stuck in a cloister” (aus “Cold Son”). Das parallele Lesen und Hören bringt nicht nur viele Genüsse, sondern auch Erkenntnisse. „Yuppies smell teen spirit too“ ist eine davon. Und die Feststellung, dass jeder Pavement-Fan einen Menschen haben sollte, mit dem er/sie die Musik genießen kann. Einen Menschen wie Renée.
[Thomas Backs]
» www.stephenmalkmus.com
» www.dominorecords.com
The Ruby Suns: Sea Lion
(Memphis Industries)
Nicht nur die New Yorker Band Vampire Weekend sorgt derzeit für Neubelebung und Neudefinition des schwer in Verruf geratenen Genres „Weltmusik“. Auch The Ruby Suns, das vielköpfige, in Neuseeland ansässige Musikerkollektiv um den in Kalifornien geborenen Globetrotter Ryan McPhun, entdeckt auf seinem neuen Album „Sea Lion“ die Reize südafrikanischer Palmweinmusik, thailändischer Tempelglöckchen, mexikanischer Mariachis und spanischen Flamencos, um nur einige Einflüsse zu nennen. Das Debüt der Ruby Suns erschien in Deutschland vor gut einem Jahr und bot eine charmant-versponnene Melange aus Sixties-Psychedelia, Beach Boys-Harmonien und hippieesker Selfmade-Attitüde. Seitdem ist einiges passiert im Hause McPhun/Ruby Suns: Ryan McPhun unterstützte The Brunettes tatkräftig bei den Aufnahmen zu ihrem Album „Structure and Cosmetics“, er ging auf große Reisen (bei denen er stets ein Aufnahmegerät mit sich führte, siehe Tempelglöckchen); zu unguter Letzt verlor die Band auf einer Amerikatournee bei einem Motelbrand das komplette Equipment. Dieses traumatische Erlebnis führte nicht zur kreativen Blockade, im Gegenteil, The Ruby Suns liehen sich ein paar neue Instrumente aus, hörten sich die seltsamen Geräusche an, die Ryan McPhun aus der großen weiten Welt mitgebracht hatte und begannen mit der Arbeit an „Sea Lion“. Die grundsätzliche Sonnigkeit des Debüts inklusive Beach Boys-Affinität wurde beibehalten und um kosmopolitische Details ergänzt. So erklingt „Tane Mahuta“ komplett in Maori-Sprache, das verträumte „Remember“ und „Ole Rinka“ bezaubern mit entrückten Sphärengesängen, bei „Adventure Tour“ schrammeln folkige Gitarren und Banjos fröhlich vor sich hin. Trotz aller Detailverliebt- und -besessenheit der Ruby Suns (Hier ein wenig Kindergeschrei! Dort ein Sample aus „Be my Baby“! Dann noch ein paar Kneipengespräche aus Chicago!) steht der Song, die Melodie mittlerweile stärker im Mittelpunkt als noch auf dem ersten Album. Manchmal entwickelt ein Song regelrecht epische Dimensionen: „Morning Sun“ beginnt mit sakralem Chorgesang, zwitschernde Vögel und glucksende Walgesänge lassen Wellnessfarm-Atmosphäre entstehen – bis sich auf einmal ein höchst urbaner, tanzbarer Synthiebeat herausschält, ganz so, als wollten The Ruby Suns nur mal zeigen, dass sie das auch können. [Christina Mohr]
» myspace.com/ryanmcphunandtherubysuns
Matana Roberts Quartet:
The Chicago Project
(Central Control)
Die Altsaxophonistin Matana Roberts lebt und arbeitet in New York, ihre musikalischen und biografischen Wurzeln befinden sich aber in der „Windy City“ am Lake Michigan, Chicago. Roberts, die unter anderem schon mit Eugene Chadbourne und Ravi Coltrane spielte und 2006 beim renommierten Jazzfestival in Moers auftrat, legt mit „The Chicago Project“ eine beeindruckend wilde, inspirierte Hommage an ihre Heimatstadt vor. Mit ihren Mitmusikern Frank Rosaly (Drums), Jeff Parker (Gitarre), Josh Abrams (Bass) und Vijay Iyer (Piano) lotet sie den Variantenreichtum des modernen Jazz aus, ihr dynamisch-ungezähmtes Spiel schlägt Bögen vom traditionellen Chicago-Sound bis zu afrikanischen, spirituell-mystisch gefärbten Einflüssen. Wilde Free Jazz/No-Wave-Eruptionen, die an James White und die Contortions erinnern, wechseln sich mit ruhigen, klassischen Passagen ab; auch Be-Bop und Cool Jazz wehen durch das Album und machen eine zeitliche Einordnung des Albums unmöglich, stünde nicht ganz klein „2007“ im Booklet. Der Track „Birdhouse I“ zum Beispiel ist eine wilde, improvisierte Unterhaltung zweier Saxophone, Matana Roberts lässt ihrem kongenialen „Gesprächspartner“ genügend Raum für sein charakteristisches eigenes Spiel, wie sie ohnehin die Musik zwar dominiert, ihre Kollegen aber niemals in die Ecke drängt - „The Chicago Project“ lebt vom Zusammenspiel, vom Vibrieren, Flüstern, Schreien, Zucken aller Instrumente. Produziert wurde „The Chicago Project“ von Tortoise-Mastermind John McEntire. [Christina Mohr]
» www.matanaroberts.com