Juni 2008, dritter Teil:
Ich packe meinen Koffer und ich nehme mit – nicht nichts, wie es in Jens Friebes Lied heißt, sondern einen ganzen Stapel neuer CDs, die am Strand und beim Durch-die-Gegend-fahren aufmerksam gehört werden sollten ...
Joan as Police Woman:
To Survive (Pias/Rough Trade)
Martha Wainwright: I Know You're Married
But I've got Feelings Too (Cooperative)
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An besagtem Strand entstand die Idee, die neuen Platten von Joan As Police Woman und Martha Wainwright in einem Artikel zusammenzufassen – geradezu zwingend erschienen mir die Gemeinsamkeiten der beiden Künstlerinnen, die fast zeitgleich ihre jeweils zweiten Soloalben veröffentlichen. Joan Wasser alias Police Woman spielte in der Band von Marthas Bruder Rufus, der Gastvocals zu Joans neuer Platte beisteuerte („To America“). Martha und Joan arbeiten sich an familiärem und privatem Unglück ab: Martha hadert wie ihr Bruder mit ihrem nichtsnutzigen Vater Loudon, der die Familie verließ und seine Kinder schofelig behandelte; Joans Boyfriend Jeff Buckley ertrank 1997, seinen Tod betrauert sie noch heute. Die Mütter beider Sängerinnen erkrankten an Krebs, Joans Mutter starb im vergangenen Jahr, Marthas und Rufus' Mom überlebte – Stoff genug für eine Doppelbesprechung, wie ich fand. Auch die Unterschiede im musikalischen Ausdruck sind eine Analyse wert: so gibt Martha Wainwright gern die exaltierte Dramaqueen, die zwischen Hysterie, Hochmut und Herzschmerz pendelt, während Joans Songs fragiler, spröder, minimalistischer sind. Marthas prägnante Stimme, die in der Phrasierung der ihres Bruders durchaus ähnelt, paßt perfekt zu den bitter-ironischen Texten über Liebe oder das, was sie dafür gehalten hatte. Die titelgebende Zeile „I Know You're Married...“ entstammt dem Opener „Bleeding All Over You“, ein vordergründig poppiger Ohrwurm wie „You Cheated Me“ oder die muntere Coverversion von Pink Floyds „See Emily Play“. Martha Wainwright setzt auf ihrem zweiten Soloalbum mehr Instrumente und üppigere Arrangements ein als bei ihrem Debüt, das höchst spartanische Singer-/Songwriterballaden zur Gitarre bot... Gedanken wie diese notierte ich eifrig in die mitgeführte Kladde, auf dass ich das Geschreibsel zuhause überarbeiten und komplettieren könnte. Kaum daheim angekommen, ließ mich der Blick in die neue Spex erstarren: Jens Balzer hatte in einem großen, prominent angekündigten Artikel schlüssig formuliert, was ich zwischen Sonnenbrandbehandlung und EM-Spielplan-Ausfüllen nur sporadisch skizzieren konnte. So bleibt mir nur, mich im Großen und Ganzen Herrn Balzers Ausführungen zu Joan und Martha anzuschließen; er müßte mir nur nochmal erklären, weshalb er den beiden eine gewisse konservative Haltung unterstellt.... immerhin schreibt er, dass es in beiden Fällen „hübsche Musik“ zu hören gäbe, was meiner bescheidenen Ansicht nach eine gehörige, sogar ein wenig freche Untertreibung ist.
» www.joanaspolicewoman.com
» myspace.com/joanaspolicewoman
» www.marthawainwright.com
» myspace.com/marthawainwright
Carole King:
Tapestry – Legacy Edition
(Doppel-CD, SonyBMG)
1995, ein knappes Jahr nach Kurt Cobains Tod, spielten Courtney Love und Hole bei ihrem MTV-Unplugged-Auftritt „He Hit Me (And It Felt Like A Kiss)“, das Love mit den Worten „it's a sick song“ ankündigte. Geschrieben hatte dieses „kranke Lied“ Carole King, die mit dem Text eigentlich auf die Situation mißhandelter Hausfrauen hinweisen wollte, die die Schläge ihrer Männer als Aufmerksamkeit oder in aller Hoffnungslosigkeit als Liebe interpretieren. Phil Spectors zuckrig-plüschiges Arrangement sorgte dafür, dass Bitterkeit und Verzweiflung dieses Songs fast völlig verschwanden, Mißverständnisse waren vorprogrammiert, siehe Courtney Love. Wesentlich populärer als „He Hit Me“ wurden andere Songs der in New York geborenen und aufgewachsenen Komponistin Carole King, die bereits als Achtzehnjährige „Will You Still Love Me Tomorrow“ für die Shirelles schrieb – ihr erster Nummer-Eins-Hit. Viele weitere sollten folgen, zum Beispiel „The Locomotion“, „One Fine Day“ oder „Take Good Care of my Baby“. James Taylor überzeugte King, selbst auf die Bühne zu gehen, Klavier zu spielen und zu singen. Ihr erstes Soloalbum „Writer“ floppte, doch 1971 gelang ihr mit „Tapestry“ der ersehnte große Wurf: das Album wurde mit vier Grammys ausgezeichnet, weltweit wurden mehr als 24 Millionen Exemplare verkauft. Songs wie „I Feel the Earth Move“, „You've Got a Friend“ und „It's Too Late“ wurden zu Klassikern des Pop. Jetzt wird „Tapestry“ als luxuriöses Doppelalbum wiederveröffentlicht, auf CD 2 befinden sich bis dato unveröffentlichte Liveaufnahmen aller Originalsongs des Albums. Angemessene Würdigung einer großen Künstlerin, die Wegbereiterin für Singer-/Songwriterinnen wie Joan as Police Woman und Martha Wainwright war und ist.
» www.caroleking.com
Hellsongs: Hymns In the Key of 666
(Despotz Records/bodog music)
Die Idee, Songs eines bestimmten Genres in einem kontrapunktischen Stil neu aufzunehmen, ist nicht neu: Vor einigen Jahren feierten die französischen Nouvelle Vague große Erfolge mit sanften Lounge- und Barjazz-Versionen von Punkrocksongs wie „Too Drunk Too Fuck“; in diesem Zusammenhang dürfen die krachledernen Countryfizierungen bekannter Hits nicht verschwiegen werden, mit denen The Boss Hoss noch heute Altstadtfestbesucher der ganzen Republik gangbangen. Das aus Göteborg stammende Trio Hellsongs hat sich eine Handvoll Heavy Metal-Kracher vorgenommen und diese in – siehe Nouvelle Vague – zarten Akustikarrangements mit Gitarre, Tambourin und Piano neu eingespielt, gesungen von Harriet Ohlson. Das Presseinfo nennt den so entstandenen Stil „Lounge Metal“, wobei von Metal einzig noch die martialischen Songtitel zeugen.
Das hat durchaus Charme und zum Teil ist es einfach wahnsinnig lustig, wenn Hairmetal-Hymnen wie Europes „Rock the Night“ und „We're Not Gonna Take It“ von Twisted Sister in flauschigem Lagerfeuersound erklingen oder der Supermacho-Rock von Metallica und Saxon mit verträumten Klavierintros versehen wird. Doch auf Albumlänge verflüchtigt sich der originelle Aha-Effekt ein wenig und schon wieder muß die aktuelle Spex bemüht werden (nein, satt.org hat keinen Vertrag mit diesem Heft): Mark Arm sagt im Interview, dass er die Behauptung, die Qualität eines Songs würde sich erst im „Unplugged“-Gewand offenbaren, für puren Bullshit hält. Ihm und seinen Kollegen von Mudhoney sei es immer um das physische Erleben des elektrischen Klangs gegangen, weshalb es auch keine Unplugged-Aufnahmen von Mudhoney gibt. Und tatsächlich weiß jeder Black Sabbath-Fan, dass die Melodie von „Paranoid“ großartig ist, ebenso wie „Thunderstruck“ geschrien und nicht geflüstert werden muß.
1. The Trooper (Original: Iron Maiden) 2. Symphony Of Destruction (Original:
Megadeth) 3. Rock The Night (Original: Europe) 4. Seasons In The Abyss (Original: Slayer) 5. We're Not Gonna Take It (Original: Twisted Sister) 6. Blackened (Original: Metallica) 7. Thunderstruck (Original: AC/DC) 8. Run To The Hills (Original: Iron Maiden) 9. Paranoid (Original: Black Sabbath) 10. Princess Of The Night (Original: Saxon)
Tourdaten: 14.04.2009 Stuttgart, Keller Klub; 24.04.2009 Weinheim, Cafe Central; 25.04.2009 Frankfurt a.M., Nachtleben; 26.04.2009 München, 59:1; 27.04.2009 Berlin, Frannz Club; 28.04.2009 Köln, Werkstatt; 29.04.2009 Bremen, Tower; 01.05.2009 Dortmund, Visions Party @ Suite 23; 02.05.2009 Ahlen, Schuhfabrik; 03.05.2009 Hamburg, Übel & Gefährlich
» www.hellsongs.com
» www.myspace.com/hellsongs
The Infadels: Universe in Reverse
(wall of sound/rough trade)
Als die Londoner Band Infadels vor gut zwei Jahren ihr Debüt „We are not the Infadels“ veröffentlichte, war die Begeisterung groß: die Mixtur aus knalligem Discopunk und hymnischem Britpop wirkte schlicht umwerfend, Hits wie „Can't Get Enough“ und „Love Like Semtex“ wurden nicht nur von den Fans geliebt, sondern auch bald von der Werbebranche zum Verkauf von Autos und anderen Gütern entdeckt. Live legten die fünf Musiker noch einen drauf und rockten in geschniegelten Anzügen das willfährige Publikum in Grund und Boden. Die Erwartungen an das schwierige zweite Album waren folgerichtig hoch, die Infadels wollten nichts falsch machen und engagierten den legendären Produzenten Youth (Killing Joke, The Verve und unzählige andere), der die zehn neuen Tracks auf Hochglanz polieren sollte. Das hat er getan und „Universe in Reverse“ wird garantiert ein Megaseller, so perfekt, hymnisch und arenentauglich bratzen die Songs aus den Boxen, garniert mit mehrstimmigem Chorgesang und Wall-of-sound-Arrangements. Stilistisch orientieren sich die Infadels an Achtzigerjahre-Chartpop, Glam- und Stadionrock zwischen späten Slade und The Cult und was soll man sagen? Der rotzige, überdrehte Partyfuror des Debüts ist einem ziemlich unsexy Nummer-Sicher-Jungsrock gewichen, The Infadels schlagen leider denselben Weg ein wie The Killers, Kaiser Chiefs und We Are Scientists. „Free Things for Poor People“, textlich ehrenwert sozialkritisch, ist nichts weiter als alberner Kirmespop, bei „Code 1“ gniedeln hochgepushte Gitarren, „A Million Pieces“ und „Chemical Girlfriend“ ersticken an pompösem Hall und sinnlosen, Dramatik vortäuschenden Breaks. Einzig die Single „Make Mistakes“ marschiert amtlich nach vorn und macht schmerzlich bewußt, was aus den Infadels hätte werden können.
» www.infadels.co.uk
» myspace.com/infadels
The Freeks
(Cargo Records)
Auf diese Platte haben viele sehnlich gewartet, sind The Freeks doch DIE Supergroup für Stonerrock-Fans. Seit 2006 spielen die neun (!) Musiker, die sonst unter anderem bei Kyuss, Fu Manchu und Monster Magnet zu finden sind, zusammen; bis vor kurzem existierte nur ein einziger Song, „The Go Go Get“, der es auch aufs Album geschafft hat. The Freeks zeigen sich auf dem gezeichneten Backcover als Freakshow-Exponate, haarige, sympathische Monster zwischen Riesenkater und Chewbacca aus Star Wars. Musikalisch huldigen sie ausgiebig dem Stoner- und Psychedelic-Rock, endlos flirrende Gitarrenriffs, Hawkwind-ähnliche Windmaschinen-Vocals und abgedrehte Songtitel wie „Descent of the Yellow Chrysalis“ oder „Basque in the Splendor“ sprechen für sich. Bei „Excuses“ trifft eine Mundharmonika auf eine sägende Gitarre, taumelnd finden sich die Instrumente zu einem verschleppten Walzer im Wüstensand zusammen; „Look Ahead“ beschwört die jingling-jangling-dangling Sixties herauf. Wer sich die beiden letzten Tracks „Invasion of the Earthworm (Uncle Jack's Last Freak Out)“ und „Dance of the Moth Queen“ direkt hintereinander und in voller Länge reinzieht, braucht in diesem Jahr keine weiteren Drogen mehr – sehr bärtig und langhaarig, das Ganze, aber lustig und bewußtseinserweiternd.
» www.thefreeks.com
» myspace.com/thewestcoastfreeks
The Oh-Sees: The Master's Bedroom is Worth Spending a Night in (Tomlab/Indigo)
Kollege René Hamann wohnte unlängst einem Konzert von Black Mountain mit den Oh-Sees als Vorgruppe bei. Hört man das Album „The Master's Bedroom is Worth Spending a Night in“, das in Deutschland bei Tomlab veröffentlicht wird, erscheint die Kritik an den Oh-Sees fast ein wenig harsch: Auf 15 Tracks präsentieren sich die vier MusikerInnen aus San Francisco als Garagenkinder im Geiste der B-52's und der Cramps, das Schlagzeug rumpelt, als säße der leibhaftige Nick Knox dahinter. Brigid Dawson und John Dwyer bieten coolste Gesangseinlagen, das musikalische Grundgerüst aus Gitarre, Bass und Schlagzeug wird selten, aber dafür eindrucksvoll von Mellotron und Orgel ergänzt. Songs wie „Grease 2“, „Ghost in the Trees“ und „Graveyard Drug Party“ dürften nicht nur Rockabilly-Tanzböden füllen – The Oh-Sees sind die Manifestation des ewigen Teenagers, der never ending Strand- und Surferparty. Trashig, laut, aufrührerisch und mit unfaßbar scheußlichem Cover :-)
» myspace.com/ohsees