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Die Quecksilberkarawane
Daniel Humair, Joachim Kühn und Tony Malaby setzen auf Vollkontakt. Ornette Coleman hat nie distanzierten Oberflächenjazz gespielt. Alle Beteilligten demnächst auf der Bühne.
Das Saxofon klopft an die Tür. Es ist ein Tenor und es ist nicht allein. In Windeseile wollen noch Perkussion und Piano hinein. Und ehe man die Getränke aus dem Kühlschrank holen kann, machen sie auch schon deutlich, dass sie den freieren, wilderen Jazz mitgebracht haben. Gerade mal anderthalb Minuten braucht es bis zum ersten Schlagzeugsolo. Es wird eine Minute dauern. Der da die Trommeln rührt, sie später auch fegt und die Becken kratzt, er heißt Daniel Humair und ist diesen Mai siebzig Jahre alt geworden. Aber was er da spielt, das klingt nicht verweht, das ist verwegen zum Quadrat. Humair hat mit Chet Baker, Kenny Dorham, Eric Dolphy, Jackie McLean und Oscar Pettiford gespielt. Die Aufzählung könnte noch länger werden. Seit den siebziger Jahren dann mit Joachim Kühn, der die schwarz-weißen Tasten bearbeitet und einer der wenigen Pianisten ist, mit denen Ornette Coleman zusammengearbeitet hat. Kühn, gebürtiger Leipziger, begann als Konzertpianist, tat sich mit Ernst-Ludwig Petrowsky, Heinz Becker, Wolfgang Henschel zusammen und brachte dann in den Sechzigern, mit dem Joachim Kühn Trio um den Bassisten Klaus Koch (1936 - 2000) und Schlagzeuger Reinhard Schwartz, die Unruhe in den DDR-Jazz (der Begriff ist umstritten). 1966 ging Kühn nach Westdeutschland, dann nach Paris. Free Jazz und Jazz Rock hat er gespielt, nächsten März kann der bekennende Ornette Coleman- und Bachverehrer seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiern. Der Mann am Tenor schließlich, er heißt Tony Malaby. Der Jüngste des Trios, er ist Jahrgang 1964, hat für Charlie Hadens Liberation Music Orchestra gearbeitet und war mit Mark Dresser, Kenny Wheeler, Tom Rainey, Marty Ehrlich und Paul Motian, auch diese Aufzählung könnte länger sein, zu hören. Das Album der Drei heißt »Full Contact«, dauert knapp über fünfzig Minuten, die wie im Überschall vergehen und ist dieses Jahr auf Bee Jazz Records erschienen.
LIVE: Joachim Kühn »Bach & Die Mathematik« mit dem Orchester der Stadt Jena
Joachim Kühn »Bach now« mit dem Kettwiger Bach Ensemble unter der Leitung
von Wolfgang Kläsener
- 12.10.08 Essen Philharmonie 18.00
Joachim Kühn solo
- 26.10.08 Azores/Portugal Festival
- 04.04.09 Potsdam
- 24.04.09 Germering Stadthalle
Joachim Kühn, Daniel Humair, Tony Malaby
- 07.11.08 Strasbourg /F Jazz d'Or
- 26.03.09 Grenoble/F Festival
Joachim Kühn & Rabih Abou Khalil
- 11.11.08 Prag/CS Strings of Autumn
Joachim Kühn Trio Berlin
Joachim Kühn Franco Allemand Band Joachim Kühn p; Regis Huby violin; Rudi Mahall bcl; Detlef Beier b;
Christophe Marguet dr
- 28.04.09 Basel/CH Festival
Joachim Kühn, Daniel Humair, Miroslav Vitous
- 30.06.09 Paris/F Salle Pleyell
Ornette Coleman tritt am 02. Oktober auf dem Enjoy Jazz Festival 2008 in der Heidelberger Stadthalle auf. |
Mit »Buried Head« (Tony Malaby) fängt es elegant-vertrackt an. Dem frühen Schlagzeugsolo folgt nach knapp einer Minute ein unbegleitetes, perlendes und pulsierendes Pianozwischenspiel. Dann »Jim Dine« (Daniel Humair, Joachim Kühn & Tony Malaby), ein Track, den das Saxofon mit elegischen, skizzenhaften Tönen von ganz tief bis ganz hoch einleitet. Winzigst und gewaltig sind diese Töne, bis dann Schlagwerk und Piano einsetzen, das Stück zu einer Hymne wird. »Full Contact« (Daniel Humair), der Titeltrack, setzt ähnlich lyrisch ein. Fast schon zerrende Töne liefert das Saxofon, das Piano klingt abgehackt, dann wieder swingend, bis nach fast vier Minuten Full Force die Losung des Moments ist. Das Schlagzeug übernimmt die Einleitung auf »Oasis« (Joachim Kühn), bei dem man in der Tat an eine Karawane denken kann, die nach langem Weg in der Wüste einen sicheren Hafen gefunden hat. Mit seinen reichlich zehn Minuten ist »Ghislenè« (Daniel Humair & Joachim Kühn) das längste Stück auf dem Album, vielleicht auch das charakteristischste. Zwischen robust und filigran pendelt es hin und her, es gibt Soli und Duette wie fulminantes Powerplay des ganzen Trios und wieder ein heftiges Schlagzeugsolo. »Salinas« gewährt dann etwas Muße, in die Piano und Perkussion freilich einige Unruhepunkte säen. »Effervescent Springbox« wird vom mit Besen gespielten Schlagzeug angetrieben und erinnert ganz entfernt an Bobby Hutchersons »Effi« (auf »Patterns«, Blue Note 1968), bis das Stück dann förmlich ausbricht. »Full Contact«, eine Platte, die niemals lau, an den richtigen Stellen aber laut und leise wird, endet mit »Sleeping Angels« und einer Art kammermusikalischen Marsch.
Der Mann, ohne den wir diese Musik wahrscheinlich nicht hören, zumindest aber nicht mit dem naheliegendsten Namen versehen könnten, Ornette Coleman, er nun ist weit über siebzig (ausführlich: Die fröhliche Wissenschaft, satt.org, November 2006). 1960 erschien »Free Jazz«, das Album mit dem berühmten Jackson-Pollock-Gemälde, nach dem ein ganzer Stil, eine Haltung und ja, Lebenspraxis benannt werden sollten. Was jetzt wie später Ruhm klingt, hat Coleman damals nicht reich gemacht. Heute würde man seine damalige Lage als prekär bezeichnen. Wer knapp bei Kasse ist, dem bleibt nur Kühnheit. Und so investierte Coleman 1962 2.000 Dollar und mietete für den 21. Dezember 1962 die New Yorker Town Hall. Pepsch Muska vom Wiener Magazin jazzlive erzählte er 1995, was dann drei Tage vor Weihnachten geschah: Die Stadt versank im Chaos. Ein Schneesturm tobte, U-Bahn und Taxifahrer streikten. Zeitungen gab es auch keine mehr. Der Mensch, der das Konzert aufnahm, beging Selbstmord. Will man da noch weiter machen? Ob Ornette Coleman, mittlerweile Grammy-Preisträger, sich die Frage gestellt hat, weiß nur er. Wir wissen, er hat es einfach getan. Und das Konzert, das unter so widrigen Umständen dann doch noch stattfand, es ist ebenfalls in diesem Jahr von ESP-Disk', einem der Label, die Independent waren, bevor es den Begriff überhaupt gab, neu aufgelegt worden.
Auf »Town Hall, 1962« ist Coleman, sein Saxofon ist ein Alt, einmal nicht mit Charlie Haden, Don Cherry, Ed Blackwell oder Billy Higgins zu hören. Sondern mit David Izenzon am Bass und Charles Moffett am Schlagzeug. Hinzu kommt für einen Track ein Streichquartett mit Selwart Clark und Nathan Goldstein (Violinen), Julian Barber (Viola) und Kermit Moore (Cello). Den Anfang macht das Coleman-Trio. Neun Minuten lang ist »Doughnut«, und gleich ist er da, der Coleman-Ton, der quecksilbrige Sound, das Springen zwischen einfachen, eingängigen Motiven und abstrakten. Nach vier Minuten liefern sich Moffett und Izenzon ein Zwiegespräch, man darf es auch Duell nennen, das jeden Dubstep-Fan zu Freudensprüngen verleiten könnte. Der gestrichene Bass Izenzons leitet »Sadness« ein, eine Ballade, die als der Beitrag des Free Jazz zur Herbst- und Wintermusik gelten darf. Die nächsten acht Minuten gehören ausschließlich den Streichern. »Dedication To Poets And Writers« ist, es sei vorsichtshalber gesagt, nicht die Sorte Streichquartett, die man auf Staatsempfängen zu hören kriegt, würde sich aber gut als Intro-Tape für ein The-Fall-Konzert machen. Langjährige satt.org-Leser wissen, dass das ein deutliches Kompliment ist. Bei »The Ark« übernehmen wieder Coleman, Izenzon und Moffett. Und zwischen Avantgarderauschen und Swingfetzen wird es ganz irre. Der Bass klingt irgendwann wie ein Insektenschwarm. Nichts für Freunde rascher Häppchen, »The Ark« dauert über zwanzig Minuten. Die Stockholmer »Golden Circle«-Aufnahmen (Blue Note 1965), die das Trio drei Jahre später im skandinavischen Winter machen sollte, seien übrigens genauso empfohlen. In der Quecksilberkarawane ist immer Platz.
» www.joachimkuehn.com
» www.ornettecoleman.com