Die Schweizer Formation Nucleus Torn verwob bereits auf ihrem Debütalbum “Nihil” (2006) Prog Rock, Metal, Folk und Neo-Klassik-Einflüsse, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Diesen Weg setzen die Musiker auf ihrem neuen Album „Knell“ konsequent fort. Die Kompositionen und Arrangements stehen eher in der Tradition klassischer Musik und haben mit Popmusik wenig gemein. Ronald Klein sprach mit dem NT-Kopf Fredy Schnyder über die „Ästhetik des Unkonventionellen“.
Ronald Klein: Euer aktuelles Album "Knell" besitzt einen sinfonischen Aufbau. Statt Songs gibt es Sätze. Die Instrumentierung ist für den klassischen Anspruch jedoch zu ungewöhnlich. Habt Ihr das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, denn sowohl beim Metal wie auch bei der Klassik handelt es sich ja um eher konservative Szenen, die Neuerungen sehr skeptisch beäugen.
Fredy Schnyder: Ich finde es interessant, den Aufbau des Albums mit dem einer Sinfonie zu vergleichen, wenn ich auch einige Einwände ins Spiel bringen möchte. Beispielsweise foutieren wir uns nicht um die tradierte Satzabfolge. Wir verwenden keine Sonatenhauptsatzform im ersten Satz und die Sätze zwei bis vier bestehen nicht aus Tänzen. Von daher ist zu betonen, dass Parallelen einzig zu jenen Sinfonien bestehen, bei welchen die herkömmliche Struktur bereits vollständig zerbrochen und in Einzelbestandteile atomisiert wurde.
Kommen wir deshalb zu den Vorzügen des Vergleichs: Er erlaubt es mir, auf meine Kompositionsarbeit zu sprechen zu kommen, die viel mehr mit klassischer Komposition und Orchestrierung als mit Songwriting zu tun hat. Meistens entstehen Nucleus Torn-Stücke aus Themen, die ich gezielt variiere und in verschiedenen Arrangements darbiete. Ich schreibe meine Stücke weder wie ein Singer/Songwriter, der Refrain und Strophe miteinander kombiniert, noch wie viele Black- oder Death-Metal-Bands, die einfach unzählige Riffs aneinanderhängen, die aber weder thematisch noch harmonisch einen roten Faden aufweisen. Ich hingegen möchte komplexe Strukturen schaffen, deren Teile eng miteinander verwandt sind. Die Instrumentierung mit klassischen akustischen Instrumenten einerseits und einer Metal-/Rockband andererseits dient dazu, möglichst breite Klangflächen und dynamische Bereiche abdecken zu können. Auf 'Knell' wollte ich mich in dieser Hinsicht nicht einschränken müssen und habe mich bewusst dazu entschieden, wie im Orchester eine große Auswahl an Klängen einzubeziehen. Ob die Instrumentierung aber für den "klassischen Anspruch" zu ungewöhnlich ist? Ich glaube eher, das Publikum im klassischen Sektor ist nicht offen für den Einbezug moderner Instrumente.
Zeitgenössische Kompositionen haben in jedem Fall einen schweren Stand (ob berechtigt aufgrund mangelhafter Qualität oder nicht sei dahingestellt), und eine Chance kriegen sie nur, wenn sie offensichtlich die Verbindungen zur klassischen, mittlerweile akademischen "Tradition" aufweisen. Das Label, die Etikette muss stimmen. Im Bereich Metal geht es mutatis mutandis um das Gleiche. Ob es mich kümmert, wenn unsere Musik in gewissen Hörerschichten auf Ablehnung und Unverständnis stöß? Nein, denn sonst würde ich Musik machen, die konform und auf ein bestimmtes Publikum zugeschnitten wäre.
Es gehört nicht zu meinen Charaktereigenschaften, eine mangelnde Gruppenanbindung als negativ zu empfinden. Wer ausgetrampelte Pfade verlässt, wird oft mit dornigem Gestrüpp konfrontiert, das macht das Leben als Künstler ein wenig interessanter.
RK: Sollte "Knell" live aufgeführt werden, eignet sich offensichtlich eher ein Konzertsaal als ein normaler Club. Skitliv spielten im Frühjahr in der Berliner Volksbühne und Mayhem werden im Oktober ebenfalls in dem alten Theater auftreten. Wie geht Ihr die Live-Umsetzung an?
FS: Nucleus Torn sind bisher nicht als Liveband in Erscheinung getreten. Wir sind keine Band im eigentlichen Sinne, die sich regelmäßig im Proberaum trifft und Stücke einstudiert, aber auch kein bloßes Studioprojekt. Ich benutze am liebsten das Wort Ensemble, um dieses Musikerkollektiv zu umschreiben.
Die Frage ist nun, ob die Musik von Nucleus Torn überhaupt live umgesetzt werden könnte. Ich bin überzeugt, dass es möglich wäre, aber nur unter Einbeziehung von drei Gastmusikern (insgesamt somit zehn Musikern), sowie einem professionellen Tontechniker. Ich sehe da schwarze finanzielle Wolken am Horizont, aus denen ein Gewitter losbricht, sobald man sich den zeitlichen und logistischen Aufwand für Proben und Konzerte vor Augen hält. Von daher denke ich nicht, dass Nucleus Torn je die integrale Umsetzung ihrer Musik im Konzert anstreben.
Unsere Herangehensweise an die Arrangements unterscheidet sich stark von regulären Bands. Dies bedeutet, dass in der Verminderung der Mittel Lösungen gesucht werden müssten. Tatsächlich haben wir mehrmals als akustisches Quartett geprobt (Gesang, Querflöte, Cello, Klassische Gitarre/Piano/Dulcimer) und wollten uns für Konzerte vorbereiten. Unsere Pläne wurden durchkreuzt, weil ein Mitglied zur Zeit weit weg von den anderen wohnt und wir rein zeitlich keine Möglichkeiten zum Proben haben. Das kann sich wieder ändern, und Konzertangebote liegen ausreichend vor. Sollten Nucleus Torn je die Bühnen der Welt betreten, würde ich in jedem Fall das Ambiente eines Konzertsaals oder Theaters vorziehen. Zumindest sollte das Publikum die Musik im Sitzen genießen können. Ob dies möglich sein wird, muss sich zeigen.
RK: Du hast den Begriff „Ensemble“ für NT verwendet, was auf den ersten Blick ungewöhnlich scheint, aber verdeutlicht, dass Euch das enge Metal-Korsett nicht passt. Wer gehört derzeit zum Ensemble und wie ist jeweils Euer künstlerischer Background?
FS: Zu Nucleus Torn gehören sieben Personen (die Auflistung findet man auf der Website, den CDs oder auf Promo-Sheets), die primär durch freundschaftliche Bande miteinander verknüpft sind. Einen gemeinsamen künstlerischen Background haben wir nicht. Von Singer/Songwriter-Musik und Chanson (z.B. Maria, unsere Sängerin), Pop und Jazz (Schlagzeuger Christoph) bis zu Rock und Metal in verschiedensten Farben (Sänger Patrick), wird eine grosse Palette aktueller Musikströmungen abgedeckt. Die weiteren Musiker sind primär klassisch ausgebildet, interessieren sich, zumindest in meinem Fall, für alle möglichen Arten von Musik und Ausdrucksformen.
RK: Die Ästhetik Nucleus Torns’ zeigt eine Nähe zu den unkonventionellen Bands der 90er: In the Woods... oder Ulver zum Beispiel.
FS: Meinst Du die musikalische, klangliche oder die optische Ästhetik, oder sowohl als auch? Um eines vorwegzunehmen: Einflüsse hat's in allen drei Hinsichten gegeben, wenn auch nicht allzu große.
RK: Nennen wir es die „Ästhetik des Unkonventionellen“. Oben genannte Bands, aber auch Tiamat, und stellenweise auch Moonspell, neben sicherlich vielen anderen, haben das Metal-Portfolio ungemein erweitert. Nach einer progressiven Blütezeit ist Metal zum großen Teil jedoch wieder dort, wo er sich in den 80ern befand. Deswegen sticht Euer Album so hervor, weil es einen Traditionsbruch darstellt. Es ist weniger Unterhaltungsmusik als vielmehr E-Musik. Wobei diese Unterscheidungen ohnehin diskussionswürdig ist. Kunst muss nicht weiter klassifiziert werden.
FS: Ah, danke für das Kompliment. Ich sehe es ähnlich wie Du, die aktuellen reaktionären Tendenzen im Metal langweilen mich. Ich bin aber froh darum, dass „Knell“ beim Erscheinen nicht alleine auf weiter Flur war, sondern umgeben von großartigen Alben wie „Grave Human Genuine“ von Dark Suns oder „Watershed“ von Opeth. Man wird sich aber wohl damit abfinden müssen, dass die „Ästhetik des Unkonventionellen“ weiterhin nur von einer relativ geringen Anzahl Bands angestrebt werden wird. Leider wird das Unkonventionelle eher früher als später zum Klischee, wenn sich der Künstler nicht neu erfindet. Schau nur mal die Parodie seiner selbst an, die der Black Metal heutzutage ist...
Es gibt aber auch Bands, die den Schritt schaffen, z.B. Anathema, die im Prog Rocksektor nicht erst seit ihren Tourneen mit Porcupine Tree zu Recht sehr angesehen sind, ebenso The Gathering. Aber den Mainstream werden beide Gruppen wohl kaum je ansprechen, weil sie dafür nach wie vor zu wenig stromlinienförmig musizieren – zum Glück!
RK: Es gibt von Heiner Müller die Überlegung, dass jegliche Kunst, die mit gegebenen Kategorien der Ästhetik beschreibbar ist, parasitär wirkt. Und bei Nucleus Torn fällt mir auf, die die Musikrezensenten ins Schwimmen kommen, wenn sie versuchen, Schubladen zu finden, wo Ihr einpasst.
FS: Ein Phänomen, das ich immer wieder mit einem dezent schadenfreudigen Lächeln zur Kenntnis nehme...
RK: Wie betrachtet ihr die Gewichtung Text / Musik?
FS: Die Musik steht im Vordergrund, weil ich mich in erster Linie als Komponisten erachte und bei einem Album von mir prinzipiell das Ausdrucksmedium Klang erwartet wird. Dennoch würde ich die Texte nie vernachlässigen, denn sie sind ein wichtiges Element im oben angesprochenen Gesamtkunstwerk. Bei 'Knell' wurde ihnen eine wichtige Rolle zu Teil, da ich viele Textpassagen, welche die Inhalte von Nihil’ weiter trugen, bereits vor der Musik geschrieben hatte. Die konzeptionelle Grundstruktur von 'Knell' wurde deshalb nur zum Teil auf musikalischen Fragmenten aufgebaut, sondern auf einem textlichen Grundgerüst.
Ich müsste jetzt lange überlegen, ob ich die perfekte, gleichberechtigte Fusion von Musik und Text überhaupt kenne. Spontan kamen mir nur Talk Talks 'Spirit of Eden' und Scott Walkers 'The Drift' in den Sinn; beides Alben, bei denen der Gesang bestens verständlich ist und der Musik fast übergeordnet wurde. Auch aus der klassischen Musik kenne ich kaum entsprechende Beispiele (wie wäre es mit Schütz' 'Konzert in Form einer deutschen Begräbnismesse'?), es liegt wohl in der Natur der Komponisten, der Musik den Vorrang zu geben. Aus diesem Grund gab es in der Renaissance auch Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche, die polyphone Gestaltung der liturgischen Musik zu verhindern und zum einstimmigen, rein instrumentalen gregorianischen Chorgesang zurückzukehren.
RK: Euer letztes Album heißt "Nihil". Welche Konnotation trägt der Titel? Nietzsche wurde ja auch der Nihilismus unterstellt, dabei behauptete er immer, dass es lediglich leichter sei, etwas zu verneinen anstatt es zu bejahen. Nietzsche war auf der Suche...
FS: Ob das Album eine nihilistische Aussage hat, kann am leichtesten aufgrund der Musik beantwortet werden. Meines Erachtens strahlt 'Nihil' keineswegs Nihilismus aus, im absoluten Gegenteil. Auf irgendeine Art und Weise wird in jedem Abschnitt des Albums versucht, möglichst viel Inhalt und Sinn zu finden, nicht nur in Bezug auf die künstlerische Aussage, sondern auch in emotionaler oder existenzieller Hinsicht, wenn so etwas durch Kunst überhaupt möglich ist. Das Nietzsche-Zitat gefällt mir außerordentlich gut. Seine Philosophie hat keinen Einfluss auf meine Kunst ausgeübt, aber die von Dir angesprochene Suche ist einer der wesentlichsten Bestandteile des künstlerischen Inhalts von Nucleus Torn, und das auf ganz verschiedenen Ebenen.
RK: Diese Suche spiegelt sich auch in den Texten des neuen Albums wider. Da erscheinen z.B. Motive des 16./17. Jahrhunderts durch. Das puritanische Moment "The World is a Carcass", aber auch Milton oder die Frühromantik scheinen nicht fern.
FS: Nucleus Torn hat eine modernistische/postmodernistische Komponente, die auf 'Knell' stark zum Vorschein gekommen ist. Das Album ist teilweise fragmentiert, bruchstückhaft, gar collagenhaft. Motive können aus allen Epochen und Kunstformen entnommen werden, wenn sie es erlauben, eine intensive Wirkung zu entfalten. Als Beispiel aus der Poesie wäre das grandiose Gedicht 'The Waste Land' von T.S. Eliot zu nennen, das mich seit Jahren begeistert. Zurück zu 'Knell'. Die Texte beinhalten mehr an Weltverachtung und Misanthropie, als angenehm ist. Allerdings weiß ich nicht, ob die barocke Überzeugung, dass dem irdischen Jammertal die Herrlichkeit Gottes folgt, von meiner Musik ausgestrahlt wird. Ist es nicht eher die Orientierungslosigkeit der Moderne, die zu erkennen ist? Romantisch ist das Album insofern, da es ein Gesamtkunstwerk sein soll und, prätentiös ausgedrückt, sich mit der Suche nach der Seele befasst. Der Melancholie von Miltons 'Il penseroso' (ein Blueprint für die romantische Poesie) und Wordsworths Naturträumereien versuche ich aber auszuweichen, denn damit beschäftigen sich schon genügend pubertierende Black-Metaller und Neofolker.
Herzlichen Dank für das Gespräch!