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Die Heebie-Jeebies im CBGB's Bücher über Punk füllen mittlerweile ganze Bibliotheken, kaum ein Blickwinkel, aus dem die Geschichte, Entwicklung und Auswirkung von Punk nicht schon beleuchtet wurde. Trotzdem oder gerade deswegen scheint das Buch des amerikanischen Journalisten Steven Lee Beeber, der laut eigenem Bekunden “betrauert, dass keiner der Beatles jüdisch war, dafür Barry Manilow und Neil Sedaka es waren”, umso kühner und sinnfälliger. Beeber geht den jüdischen Wurzeln des New Yorker Punk und der Szene um den legendären Club in der Bowery, dem CBGB's nach und kommt zu dem Ergebnis bzw. zur Bestätigung seiner These, dass es – krass ausgedrückt – ohne den Holocaust keinen NY-Punk gegeben hätte. In New York auf Menschen jüdischer Herkunft zu stossen, ist nicht schwer, schliesslich ist NYC seit jeher traditionelle Einwandererstadt, der große Apfel gilt ausserdem als die “europäischste” aller amerikanischen Städte, ein tolerantes Sammelbecken für Künstler, Kreative, Freaks und Drop-Outs. Beeber hebt auf das Außenseitertum ab: Juden wissen was es heißt, ausgegrenzt oder für Unheil verantwortlich gemacht zu werden. Die Musiker der ersten Punk-Stunde sind die Nachfolgegeneration der im Dritten Reich verfolgten Juden, also die Kinder der Überlebenden – ein schweres Erbe. Für Beeber ist es typisch jüdisch, sich mittels schrägem Humor zu verteidigen und die Flucht nach vorn anzutreten, wie Komiker Lenny Bruce es tat und so zum Vorbild für unzählige Juden im Pop- und Showgeschäft wurde. Punk ist für Beeber die musikalische und stilistische Verdichtung von Humor und Außenseiterhaltung. Dass der berühmte jüdische Humor für Nicht-Juden zuweilen unbegreiflich und absurd wirkt, verdeutlicht Beeber am Beispiel der Prä-Punkband The Dictators – schon der Bandname ist ironisch und affirmativ zugleich, eine Tendenz, die bereits beim “netten jüdischen Jungen” Lou Reed und seinem ins Haar rasierten Eisernen Kreuz zu sehen war und später bei den Ramones zu comichaft-überzogenen Auswüchsen führen wird. Beeber definiert ferner den “unmännlichen Mann” als typisch jüdisch – als Beispiel wird Joey Ramone, aufgewachsen als Jeffrey Hyman im traditionell jüdischen New Yorker Stadtteil Queens, angeführt: Joey ist ein kränklicher, absurd großer und schlaksiger Jugendlicher, ohne Muskeln und so unmännlich, wie man sich nur vorstellen kann. Sein Gegenpart wird der irisch-katholische Johnny Ramone, angebliches Ku-Klux-Klan-Mitglied, ein zur Brutalität neigender Supermacho, der all das verkörpert, was Jeffrey/Joey nicht ist – gemeinsam werden sie Songs wie “Blitzkrieg Bop” schreiben, in denen Zeilen vorkommen wie “I'm a Nazi, Schatzi”: Affirmation, Ironie? Wie bei den Dictators alles zugleich, man darf natürlich nicht vergessen, dass die Ramones neben ihrer familiär-religiösen Prägung vor allem Teenager waren: Abgrenzung von den Eltern/Alten erzielt man bevorzugt durch das Gutfinden dessen, was zu Hause verboten und verteufelt ist – die jüdischen Wurzeln Joey und Tommy Ramones verleihen der juvenilen Protesthaltung die besondere, zynische Note. Doch nicht nur die Ramones stammen aus jüdischen Familien, Beebers Buch versammelt beinah die gesamte New Yorker Punkszene: Suicides Alan Vega und Marty Rev – jüdisch. Jonathan Richman: jüdisch. Richard Hell: jüdisch. Blondie-Gitarrist und Mitschöpfer der Kunstfigur und “Schicksengöttin” Debbie Harry: jüdisch. Patti Smiths Freund und musikalischer Mitstreiter Lenny Kaye: jüdisch. CBGBs-Gründer Hilly Kristal: jüdisch. Die wichtigsten Vertreter der New Yorker Comicszene: alle jüdisch. Auch wenn manche Begründungen, warum welche Eigenschaften typisch jüdisch sind, ein wenig konstruiert scheinen, gelingt es Steven Lee Beeber, einen faszinierend neuen und schlüssigen Ansatz zur Entstehung des New Yorker Punk zu definieren. Beeber bleibt überdies nicht in den Siebzigern stecken: er widmet dem Avantgarde-Jazzer John Zorn und seinem Label Tzadik ein ganzes Kapitel und stellt moderne jüdische Punkmusiker vor. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe stammt vom Literaturwissenschaftler Peter Waldmann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Rheinland-Pfalz. Zum Weitergucken: Christoph Drehers ZDF-Dokumentation “The House of the Rising Punk” über das CBGB's (von 2002). Interviews mit Richard Hell, Tom Verlaine, Lenny Kaye, Patti Smith, Alan Vega, Dee Dee Ramone, Jayne County, Thurston Moore und Legs McNeil – Drehers Schwerpunkt liegt zwar nicht auf dem jüdischen Background der Akteure/innen, aber die Dokumentation liefert andere interessante Details über New York Punk, außerdem gibt's viel historisches Bildmaterial. ◊ ◊ ◊
Kurz und knapp:
Kokettes Mädchen und mondäner Vamp Dieser Titel ist zwar schon vor zwei Jahren erschienen, liest sich aber gerade jetzt als Ergänzung zur aktuellen Debatte um modernen Feminismus nochmal so schön: Monika Portenlänger sichtete in der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer Notendrucke der 20er und 30er Jahre und untersuchte das Bild der Frau in zeitgenössischen Schlagern und den entsprechenden Darstellungen auf Film- und Theaterplakaten, Zeitschriften- und Buchumschlägen und auf Plattenhüllen. Sie definiert verschiedene Frauentypen: unter anderen das kokette Fräulein, die sportlich-burschikose Garconne, die “Exotin”, den Vamp und belegt diese Phänotypen anhand vieler Liedtexte, die zum Teil in voller Länge abgedruckt sind. Man schwankt beim Lesen zwischen blankem Entsetzen und hysterischem Gelächter : die “wilden Zwanziger” fanden allenfalls in pulsierenden Großstädten wie Berlin, Wien oder München statt, in der Provinz herrschte noch lange das Bild vom sittsamen Mädel vor. Dennoch: in der Populärkultur (Schlager, Film, Variete und Mode) zeichnen sich gesellschaftlicher Wandel und Neudefinition althergebrachter Rollenmodelle besonders deutlich ab. Ob selbst Künstlerin oder im Lied besungene Geliebte: Frauen wurden zu Projektionsflächen der Moderne, Frauen verkörperten (nicht nur modisch) Fortschritt und Kultur. Dass der Zweite Weltkrieg weibliche Emanzipation und den aufblühenden Feminismus unterbrach, mag inzwischen eine Binse sein, wird aber anhand dieser Publikation einmal mehr und frappierend vor Augen geführt. ◊ ◊ ◊
Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm Vor vier Jahren veröffentlichte Tim Renner, ehemaliger CEO von Universal Deutschland und mittlerweile Geschäftsführer von Motor, im Campus Verlag ein Buch, das für gewaltigen Wirbel in der Musikindustrie sorgte. Renners Abrechnung mit verschlafenen Plattenfirmen-Managern, die die Digitalisierung von Musik und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust des physischen Tonträgers zunächst ignorierten und dann völlig falsch einschätzten, offenbarte, was viele “User” (vormals Musikkäufer) schon ahnten: die Zukunft des Pop wird anders ablaufen, als sich die Großunternehmen das früher einmal gedacht hatten. Schlug nun die Stunde der Independents? Liegt der Wettbewerbsvorteil in minischlanken Strukturen oder läuft doch alles auf brotlose Selbstausbeutung hinaus? In den vergangenen vier Jahren hat sich der Wind gleich mehrfach gedreht, und es war Zeit für eine aktualisierte Neuausgabe von “Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm.” Im neuen Vorwort gibt Renner zu, dass er sich 2004 ausgerechnet in Bezug auf Entwicklungen im WWW geirrt habe – was er heute dazu zu sagen hat, kann man in der jetzt bei Rogner & Bernhard erschienenen Neuausgabe nachlesen. ◊ ◊ ◊
Rocklexikon In Zeiten von wikipedia und auf Mausklick jederzeit verfügbarer Informationen das legendäre zweibändige ro ro ro-Rocklexikon zu aktualisieren und neu zu veröffentlichen, darf verlegerischer Mut genannt werden: Vor 35 Jahren erschien das Rocklexikon zum ersten Mal und erfreute sich seither einiger Neuauflagen, stets herausgegeben vom mittlerweile 72-jährigen Rockjournalismus-Urgestein Siegfried Schmidt-Joost. Für die aktuelle Ausgabe holte sich Schmidt-Joost Unterstützung von Jüngeren, die Journalisten und Buchautoren Wolf Kampmann und Bernward Halbscheffel ersetzen Schmidt-Joosts langjährigen Partner Barry Graves, der 1994 starb. Das Rocklexikon hat einerseits archivierende und museale Funktion (sprich: inhaltliche Schwerpunkte sind sogenannte Rockklassiker, Acts wie Elton John werden über mehrere Seiten besprochen) beinhaltet aber auch ausreichend aktuelle Künstler, so dass es dem Anspruch, ein stilübergreifendes Kompendium populärer Musik zu sein, gerecht wird. Könnte man mal vorschlagen, wenn die Schulbibliothek neu bestückt werden soll. ◊ ◊ ◊
Wer schrieb Beethovens Zehnte? Was bedeutet eigentlich der Spruch “It ain't over 'til the fat lady sings”? Warum ist ausgerechnet der “Donauwalzer” von Johan Strauß so berühmt und nicht irgendein anderer Walzer? Wieso wird Bachs Fuge g-Moll BWV 542 “Kaffeewasserfuge” genannt? Der Musikwissenschaftler und Rundfunkjournalist Harald Asel parliert derart witzig und detailreich aus dem Reich der klassischen Musik, dass Banausen wie ich sich fragen, weshalb man britische Post-Post-Punkbands für so viel cooler hält als den letzten gossip über Komponisten neuer Musik. Asel schont die Heroen der Hochkultur nicht: wer hat wo und bei wem geklaut, welches Plagiat gilt allenthalben als Meisterwerk, welche Komponisten litten an peinlichen Geschlechtskrankheiten, usw. Lehrreich und hochinteressant – na, und vielleicht sollte ich mir doch mal die 500 wichtigsten Wiener Walzer auf 50 CDs im Schmuckschuber zulegen... ◊ ◊ ◊
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