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12. Januar 2009
 

Romantik und Skeptizismus

   Blixa Bargeld
Foto: Ali Kepenek

Blixa Bargeld wird heute 50.
Ein Musentango mit Christina Mohr,
Marc Degens und Robert Mießner

Rückblick: Wir schreiben das Jahr 1985, vielleicht auch schon 1986. Jedenfalls befinden wir uns in Vor-Wendezeiten und eine Reise ins geteilte Berlin ist für minderjährige Schülerinnen aus dem Hessischen noch ein Erlebnis, das man einige Zeit später als »kultig« bezeichnen wird. Das Vogelsberger Jugendamt sponsert sogenannte Bildungsfahrten nach Westberlin, der zu berappende Beitrag ist lächerlich niedrig, als »Gegenleistung« muss man an Informationsveranstaltungen im Reichstag und der Gedenkstätte Plötzensee teilnehmen. Geschenkt, man tut alles gern, um billig nach Berlin zu kommen, der coolsten Stadt der Republik – damals zumindest. Die Insellage übt morbiden Reiz aus, Fernseh- und Zeitschriftenberichte versprechen den Besucherwessis eine wunderbar zerstörte Trümmerlandschaft, in der sich verheißungsvolle Läden befinden wie das SO36, das Ex'n'Pop, der Dschungel und vor allem das Risiko, die Bar, in der Nick Cave mit Blixa Bargeld abhängen soll. Für uns Schulmädchen ein Traum, an dessen Realisierung wir eine Woche lang verbissen arbeiten: Wir drücken uns wichtig in besagten Läden herum, versuchen beim Cocktailschlürfen lässig zu wirken – doch Blixa Bargeld und die Einstürzenden Neubauten sehen wir nicht. Dafür die Ärzte, aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll.

September 1987: Die Einstürzenden Neubauten spielen in Kassel, der nordhessischen »Metropole«, home of Documenta. Das Konzert findet in einem unterirdischen Club statt, einer stillgelegten Station der Kasseler Stadtbahn – kein Ort passender als dieser. Noch dazu heißt der Schuppen Kunstbunker. Mehr Eighties geht kaum noch. Sprich: Klaustrophobische Atmosphäre, niedrige Decken, enger Flur, die Band hinter Gittern am Ende des flachen Raums. Die Hosenbeine flattern vom ersten schmerzhaften Ton an, der Lärm drückt das Publikum an die Wand. Blixa Bargeld wirkt wie ein zerfleddertes Tier mit kurzer Lebenserwartung: So dünn, so krank, so herrlich kaputt sieht er aus. Und er schreit: FÜTTER MEIN EGO, FÜTTER MEIN EGO!!! Auf der Heimfahrt sprechen wir kein Wort. Die Ohren klingeln, die SEELE BRENNT!

Schwenk in die Neuzeit, 2008: Auf arte läuft eine Dokumentation über Blixa Bargeld. Es geht ihm sichtlich gut. Lachend sagt er beim Essen mit seiner Frau Erin Zhu, »Wer gut denken will, muss gut essen!« Ein Bonvivant ist er geworden, stolz auf das Erreichte, aber nie zufrieden: »Lethargie ist keine gute Voraussetzung, um Künstler zu sein«, ein weiteres Zitat aus besagter TV-Doku. Alles Gute zum 50., Herr Bargeld, oder »Großer«, wie Ihre Mutter Sie nennt.

Christina Mohr, satt.org-Musikredakteurin, lebt in Frankfurt am Main, arbeitet in einem Verlag und tut das alles hier aus Liebe.

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   Blixa Bargeld
Foto: Thomas Rabsch

Im November vergangenen Jahres habe ich im Puppentheater in Eriwan einen »Schöner Lesen«-Abend gestaltet und den Zuschauerraum eine Stunde vor Beginn ausschließlich mit ruhigeren Liedern der Einstürzenden Neubauten bespielt: »Neun Arme«, »Zerstörte Zelle«, »Kein Bestandteil sein«, »Fiat Lux«, »Bildbeschreibung«, »Total Eclipse Of The Sun«, »Dead Friends (Around The Corner)«, »Compressors In The Dark«, »Wo sind meine Schuhe«, »Tagelang Weiss« – und natürlich den in Armenien nahe liegenden Liedern »Armenia«, »Nagorny Karabach« und »Ein seltener Vogel«. Erfreut habe ich beobachtet, wie sich bereits vor der Veranstaltung eine Handvoll armenischer Besucher verschiedener Altersklassen in den Zuschauerraum des Puppentheaters gesetzt und den Liedern konzentriert zugehört haben.

(A propos Armenien. Einen der unvergesslichsten Kino-Momente meines Lebens hatte ich, als ich bei der Filmvorführung von Michael Manns Klassiker »Heat« mit Robert De Niro und Al Pacino den Anfang von »Armenia« hörte (ohne ihn sofort zuordnen zu können). Das war noch irritierender, als der plötzliche (sehr gekonnte) Einsatz des Rammstein-Lieds in David Lynch Meisterwerk »Lost Highway« oder das offenkundige »Oval«-Sample in der Parfümwerbung von - ich glaube es war - Laura Biagiotti, die vor einigen Jahren im Fernsehen ständig zu sehen war.)

Knapp zwei Wochen später haben wir alle3 eine Begeisterungs-Show im NBI Club in Berlin veranstaltet und vor dem Vorstellungsbeginn erneut Einstürzende Neubauten gespielt, die gleiche Auswahl wie in Armenien mit zwei zusätzlichen Titeln (»Vanadium-I-Ching« und »Merle (Die Elektrik)«. Nach wenigen Minuten ersetzte der Tontechniker unser Neubauten-Vorprogramm durch eine eigene Musikauswahl, und der NBI-Inhaber wies mehrfach darauf hin, dass wir nach unserer Show bloß nicht Einstürzende Neubauten auflegen sollten. Das hatten wir auch gar nicht vor: Eigentlich wollten wir das DJ-Set mit Nicos Version von »The End« beginnen...

Sollte ich jemals das Vorhaben in die Tat umsetzen und auf satt.org ein »pop.log« herausgeben, eine Anthologie, in der Woche für Woche ein avancierter deutschsprachiger Liedtext der letzten Jahre vorgestellt wird, dann würde das »pop.log« mit Lyrik von Blixa Bargeld beginnen. Heute würde ich für die erste Folge »Tagelang Weiss« (von »Grundstück« aus dem Jahre 2005) auswählen:

»[...]
Ich geh zurueck zur alten stelle
bis ich es alles wieder weiss
und ich bleibe bis zum morgengrauen
zwielicht daemmerung
Ich geh nicht mehr weg von dieser stelle
bis ich es fuer immer weiss
unter der milchhaut
fuer immer weiss
immer weiss
weiss«.

Was will ich damit sagen? Zweierlei: Blixa Bargeld schreibt wunderbare, originelle und stimmige Dichtung, und die Einstürzende Neubauten produzieren auch heute noch faszinierende und verstörende Musik.

Marc Degens, Schriftsteller und satt.org-Herausgeber, lebt in Eriwan, Armenien. Im Februar erscheint sein Aufsatzband »Abweichen. Über Bücher, Comics, Musik« im Literaturverlag Erata.

◊ ◊ ◊

Blixa Bargeld, ich habe mit ihnen Thomas Müntzers Geburtstag gefeiert. Doch der Reihe nach. Am Anfang war eine gehörige Irritation. Einstürzende Neubauten – so nennt man doch keine Band. Wie hört sich das denn an? Blixa Bargeld – so heißt doch kein Popstar. Popstars heißen Louise oder Billy, dachte ich mir in meinem prärebellischen Jugendschädel. Ende November 1987, ich hatte begonnen, die Schulbücher seltener zur Hand zu nehmen, müssen mich Popstars allmählich gelangweilt haben. Ostberlin versank im Nebel, während im Parocktikum die zweite Seite von »Fünf auf der nach oben offenen Richterskala« lief. Eine Musik wie aus der Kältekammer, faszinierend und schockierend zugleich. Dass Trouser Press die Platte als »imaginären Soundtrack für einen marxistischen Vampirfilm« bezeichnet, zaubert mir heute das schönste Lächeln ins Gesicht. Es war, als hätte jemand an den Stellschrauben gedreht. »Kein Bestandteil sein«. Und schon gar keiner werden. Das war das Programm, das umgesetzt werden musste. Nennen Sie sich in der erwähnten arte-Doku nicht einen »Strategiegeber«?

  Flyer zum Konzert am 21. Dezember 1989
Flyer zum Konzert am 21. Dezember 1989, VEB Elektrokohle, [Quelle]

Uli M Schüppels Dokumentarfilm über das erste Konzert der Einstürzenden Neubauten in Ostberlin, »Von Wegen – 21.12.89« (AT), kommt 2009 ins Kino. Mehr in Bälde.



November 1989: Wir kommen Thomas Müntzers Geburtstag immer näher. Ich saß in dem Bus, der mich in meinen Ausbildungsbetrieb bringen sollte und sah einen frühen Fahrgast BILD lesen. So habe ich vom Mauerfall erfahren. Von meinem Begrüßungsgeld kaufte ich mir »Haus der Lüge«. Im Dezember dann spielten die Einstürzenden Neubauten im Wilhelm-Pieck-Saal des VEB Elektrokohle. Eine der Seitenstraßen, über die ich zwei Stunden später betäubt den Heimweg antreten sollte, hieß und heißt Vulkanstraße. Aber bevor es zum ultimativen Ausbruch kam, gab es eine kurze Rede. Von Heiner Müller. Nein, ich hatte damals noch nichts von ihm gelesen. Müller sagte: »Wir feiern heute drei Geburtstage. Der erste Geburtstag ist der von Josef Wissarionowitsch Stalin (Buhrufe aus dem Publikum). Die Neubauten, die er uns beschert hat, stürzen jetzt ein (Applaus). Dann gibt es noch den von Thomas Müntzer (Applaus). Der ist viel älter als Stalin. Mit dem wär’s uns wahrscheinlich besser gegangen, aber der ist schon länger tot. Und dann gibt es, und das ist im Moment das Aktuellste, Muftis Geburtstag. Der Schlagzeuger der Einstürzenden Neubauten (noch mehr Applaus), der vorgestern Geburtstag hatte, mit dem wir vielleicht unsere Neubauten irgendwie noch abstützen können. Und das wollen wir jetzt erleben.« Der Rest war Beben. Warum der Druck des Hexenkessels nicht einen wirklichen Riss ins Gebäude geschlagen hat, ist mir immer noch ein Rätsel. Draußen sah es dann zuerst banal und bald schal aus. Statt Thomas Müntzer kam die Allianz für Deutschland. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist eine Demonstration nach den Wahlen vom 18. März 1990. Auf dem Alexanderplatz ein Lautsprecherwagen, der »Kollaps« spielt. Die Kohlwähler (alle über 30 standen unter Generalverdacht) sahen sehr verschüchtert aus, als sie hören mussten: »Horden / die neue Goldene Horde / diesmal ohne Dschingis Khan / wir zerstören die Städte / nächtliches Wandern macht uns blind«.

Dass Sie lange schon großartige Liebeslieder schrieben, hätte ich damals eher nicht gesagt. Aber es ist wahr. »Schwarz« ist so eins. Und es ist bereits von 1981. Aus dem selben Jahr »Draußen ist feindlich«. »Vanadium-I-Ching« ist eigentlich auch ein Liebeslied. Genauso wie »Letztes Biest (am Himmel)«, dann natürlich »Der Kuss«, »Zebulon« und »12305(te) Nacht«. Ganz und gar außergewöhnlich ist »Grundstück« von »Perpetuum Mobile«. Nicht fehlen darf »Ich warte« mit dem schön verfremdeten Nietzsche-Zitat: »Das Leben ist kein Irrtum, kein Irrtum und Musik« auf »Alles wieder offen«. Texte zwischen Romantik und Skeptizismus. Zwei, die man eigentlich nicht zusammen vermutet, die aber unbedingt zueinander wollen. Herzlichen Glückwunsch, Blixa Bargeld! Und leeren sie gleich noch eins auf Daniil Charms.

Robert Mießner, freier Autor, lebt seit über zehn Jahren im selben Haus in Berlin, kämpft immer noch gegen Windmühlen und kontrolliert seit September 2007 zweimal, ob sein Diktiergerät funktioniert.



» neubauten.org
» blixa-bargeld.com
» fromthearchives.com