Musikbuchsommer 2009, Ausgabe II
Weiter geht’s mit den Buchempfehlungen der Musikredaktion, dieses Mal mit einem Buch über das Wacken Open Air, der Oral History "Grunge Is Dead", einem Reader über junge amerikanische Songwriter und unserem Spezialtipp zu Industrial Music (DVD) …
Andreas Schöwe: Wacken Roll
Wenn am ersten Augustwochenende das zwanzigste W:O:A (Wacken Open Air) über die Bühne(n) gegangen sein wird, werden sich wieder knapp 80.000 Metalheads auf den langen Weg in die holsteinische Provinz gemacht haben – ein Szenario, das sich die beiden Wacken-“Erfinder“ Thomas Jensen und Holger Hübner anno 1989 wohl nur in ihren kühnsten Träumen ausmalten. Als vor zwei Jahren Cho Sung-hyungs Dokumentarfilm „Full Metal Village“ in die Kinos kam, konnten sich auchNicht-Metaller von dem ganz besonderen Flair des Festivals im Dörfchen Wacken überzeugen – Chos Film zieht seinen Reiz vor allem aus dem Aufeinanderprallen beziehungsweise friedlichen Miteinander verschiedener Welten: der ländlichen Bevölkerung und der martialisch wirkenden Heavy-Gemeinde, Milchkühe hier, Teufelshörnchen dort. Das rechtzeitig zum zwanzigsten W:O:A-Jubiläum erschienene Buch von Metal-Journalist Andreas Schöwe (Metal Hammer, Rock It!) blickt hinter die Kulissen, stellt die Macher vor und skizziert im Jahr-für-Jahr-Abriss den Werdegang des Festivals, das in kurzer Zeit von der 500-Leute-Ackerparty zum größten Event der Metal-Welt anwuchs. Probleme werden nicht verschwiegen, mehrere Male stand das W:O:A kurz vor dem Aus, was durch beherzte Privatkredite und Ommas Sparbuchspenden wieder abgewendet werden konnte. Solch prekäre Zeiten sind längst vorbei, mittlerweile ist das W:O:A eine eingetragene lukrative Marke, zu der ein Label, eine Veranstaltungsagentur und die mehrmals im Jahr stattfindenden Wacken-Roadshows gehören. Im Buch kommen neben Veranstaltern und Dorfbewohnern auch diejenigen zu Wort, ohne die das W:O:A nicht existieren könnte: Fans und Bands. Wacken-Veteranen wie Doro Pesch und Onkel Tom sind des Lobes voll, auch internationale Größen wie Saxon, Motörhead und Iron Maiden treten immer wieder gern in Wacken auf. Was an dieser Stelle nicht verschwiegen werden soll: der große Erfolg des W:O:A begann 1996, dem Jahr, als die Böhsen Onkelz in Wacken spielten. Zum ersten Mal wurde die 10.000-Besuchergrenze gesprengt – über die Onkelz wird im Buch selbstverständlich wenig Kritisches geäußert, Stephan Weidner bekam ebenso wie viele andere Musiker sein eigenes Kapitelchen. Für die Wacken-Veranstalter war mit der Teilnahme der Frankfurter Jungs an einem „Rock gegen Rechts“-Festival in Sachen Vergangenheitsbewältigung alles erledigt. Tja, Metalheads galten noch nie als politisch sonderlich bewußt, im Guten wie im Schlechten – trotzdem: „Wacken Roll“ ist nicht nur für Metalfreaks und Festivalbesucher interessant, sondern bietet konkreten Anschauungsunterricht in Sachen Traumverwirklichung. Kleines Manko: viele viele Druck- und Rechtschreibfehler* und eine unheilvolle Vorliebe für das Wort „avancieren“...
*selbst eine Metal-Laiin wie ich weiss, dass Dimmu Borgir nicht „Dimmu Borgier“ heissen...
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Greg Prato: Grunge Is Dead. The Oral History of Seattle Rock Music
ECW Press
478 Seiten, $19.95
» ecwpress.com
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Grunge Is Dead. The Oral History of Seattle Rock Music
Als Anfang der 1990'er-Jahre mit Grunge eine musikalische, stilistische und geschlechterpolitische Umorientierung im Rock begann, brachen für traditionelle Metaller schwere Zeiten an. In „Wacken Roll“ beklagt so manche Metal-Ikone den zeitweiligen Verlust ihres Publikums und vor allem die geringe Wertschätzung seitens der Musikmedien, die sich dem neuen Sound aus Seattle mit Begeisterung widmeten. Bis heute erfreuen sich Bands wie Nirvana, Soundgarden, Alice in Chains und Pearl Jam weltweiter Beliebtheit, egal, ob sie noch existieren oder nicht. Weniger populäre, aber nicht minder interessante Grunge-Underground-Acts wie die Melvins, Mudhoney, Screaming Trees und Mother Love Bone stellten die Weichen für viele Bands, die heutzutage unter „Alternative“ firmieren. Musikjournalist Greg Prato (Billboard.com, Classic Rock magazine, All Music Guide) hat für seinen Oral History-Band „Grunge Is Dead“ mehr als 130 Interviews geführt, unter anderem mit Eddie Vedder, Mark Arm, Duff McKagan, Kathleen Hanna und vielen anderen. Leider recht kurz, aber immerhin wird auch auf die Bedeutung der Riot Grrrl-Bewegung verwiesen: Bands wie 7 Year Bitch, The Gits, Bratmobile und natürlich Bikini Kill, L7 und Hole erreichten zwar nur selten die großen Stadionbühnen wie ihre männlichen Kollegen und/oder Konkurrenten, aber wer weiß, ob Grunge dort überhaupt hingehörte. Dass Kurt Cobain mit Nirvanas rasantem Aufstieg starke Probleme hatte, die schlußendlich zu seinem Selbstmord führten, ist ja bekannt... Prato konzentriert sich nicht nur auf die Grunge-Hochphase zwischen 1987 und 1994, sondern bezieht auch die sechziger und siebziger Jahre mit ein, was „Grunge Is Dead“ zu einem umfassenden Kompendium der Seattle-Scene macht.
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Peter Nachtnebel (Hg.): For the Sake of the Song. Amerikas neue Songwriter
Ventil Verlag
234 Seiten, € 13,90
» ventil-verlag.de
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For the Sake of the Song. Amerikas neue Songwriter
Seit einigen Jahren ist ein regelrechter Songwriter-Boom aus den USA zu verzeichnen: gerne in verschiedene Folk-Sparten einsortiert (Nu-, Neo-, Alternative-, Country-, Anti-, Freak-, Queer-) oder schlicht als Americana bezeichnet, feiert das klassische Songwriting eine erstaunliche Renaissance. Anders als bei den Stars der sechziger Jahre wie Bob Dylan und Joan Baez steht bei den jungen Indie-Folkern weniger der Protest gegen oder für etwas im Vordergrund. Eher wird nach eigenen (musikalischen und inhaltlichen) Positionen gesucht, die zwar auf alten amerikanischen Mythen aufbauen, sich aber fernab der Traditionen im Jetzt behaupten können – und diese Positionen oft in der eigenen Innerlichkeit finden. Die individuellen Modelle sind vielfältig: von Devendra Banhart über Bright Eyes zu Cat Power, Nina Nastasia, Lambchop, Joanna Newsom, Smog, Bonnie „Prince“ Billy und Sufjan Stevens reicht das Spektrum und ist mit diesen KünstlerInnen noch lange nicht beendet. In Nachtnebels Buch werden die oben genannten KünstlerInnen in eigenen Kapiteln vorgestellt: Martin Büsser räumt mit dem Vorurteil auf, dass Conor Oberst ein trunksüchtiges, depressives „Wunderkind“ sei, Gunnar Klack vertieft sich in Devendra Banharts zum Teil fragwürdige Texte, Yvonne Kunz erläutert Joanna Newsoms Arbeitsweise. Auch unbekanntere MusikerInnen wie der transsexuelle Rae Spoon und Gillian Welch finden ihren Platz im Buch, wobei man sich nach der Lektüre von „Sake of the Song“ noch mehrere solcher Entdeckungen gewünscht hätte.
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Metal Machine Music. Nine Inch Nails and the Industrial Uprising
DVD, In-Akustik, 136 Minuten + Bonusmaterial, englisch, €18,99
Simon Ford: Wreckers of Civilisation. The Story of Coum Transmissions & Throbbing Gristle
Black Dog Publishing
300 Seiten, $29.95
» blackdogonline.com
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Nine Inch Nails – Wreckers of Civilisation
Auf die DVD „Metal Machine Music“ habe ich lange gewartet: allerdings in der irrigen Annahme, es handele sich dabei um eine Bild- und Tondokumentation über Industrial Music, in der es auch um Nine Inch Nails geht. Als ich dann endlich das Produkt in Händen hielt, wurde mir klar, dass es sich genau anders herum verhält: Industrial ist hier nur illustrierender Aufhänger, im Mittelpunkt stehen NIN respektive Trent Reznor. Die DVD beginnt mit einer kurzen, wenig erhellenden Einführung zu Industrial Music, in der Depeche Mode, Cabaret Voltaire und Gary Numan mehr Platz eingeräumt wird als z.B. Throbbing Gristle – es wird klar, dass die Produktionsfirma Chrome Dreams Elektro und Industrial entweder verwechselt oder zumindest ganz schön durcheinander bringt. Im weiteren Verlauf wird über Nine Inch Nails geredet, bis die Aufnahmegeräte qualmen: Musikjournalisten wie Tommy Udo, Jon Wiederhorn und Jared Louche und ehemalige NIN-Musiker wie Chris Vrenna und Richard Patrick parlieren über die Anfänge der Band, ihr Debütalbum „Pretty Hate Machine“ und die folgenden Platten. Dazu gibt es viele Live- und Videoausschnitte, auch von anderen Bands, z.B. Ministry und kurze Interviewschnipsel mit Mr. Reznor. Dass einem Nicht-Kenner von NIN Band und Mastermind Reznor seltsam fremd bleiben, überrascht nicht: Reznor ist an dieser Produktion nicht beteiligt und hat sie auch nicht autorisiert. Und da die interviewten Journalisten offenkundig große Fans der Band sind und mit leuchtenden Augen ihre NIN-Faszination erläutern, gibt es zudem wenig Kritik zu hören, auch nicht befriedigend geklärt wird die Frage, ob NIN überhaupt eine Industrial-Band sind oder einfach eine hart rockende US-Stadionband.... NIN-Fans werden das anders sehen, aber die breitenwirksame Mixtur aus Hardrock mit Elektrogewummer ist genauso wenig Industrial wie Marilyn Manson. Aber vielleicht irre ich mich ja. Am interessantesten fand ich an „Metal Machine Music“ das im Bonus-Material versteckte Interview mit Genesis P. Orridge bzw. Breyer P-Orridge, der/die liebevoll und ein bisschen tantenhaft die Geschichte von Throbbing Gristle und deren Arbeitsweise referiert. Sehr nett, man erwartet jeden Moment, dass GPO den Interviewer fragt, ob er noch ein Tässchen Tee möchte.
Und wer wirklich mehr beziehungsweise ganz viel über Throbbing Gristle und Industrial erfahren will, soll sich den dicken, noch nicht ins Deutsche übersetzten Wälzer „Wreckers of Civilisation“ zulegen: Simon Ford erzählt die ganze Geschichte TG´s von ihren Anfängen als hippieske Avantgarde-Künstlerkommune COUM Transmissions, die seit Ende der sechziger Jahre mit blut- und spermagetränkten Perfomances von sich reden machten bis zu ihrer Transformation als Band Throbbing Gristle. Hunderte von Fotos und eine umfassende Chronologie aller COUM- und TG-“actions“ machen „Wreckers of Civilisation“ zu einer unverzichtbaren Anschaffung. Leider endet das Buch Ende der neunziger Jahre, aber zumindest die Fans wissen ja, dass TG immer noch bzw. wieder aktiv sind, neue Platten machen und ab und zu sogar Konzerte geben.
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