Wettbewerb, außer Konkurrenz
Gangs of New York
Über ein Jahr habe ich diesen Film sehnsüchtig erwartet, wurde durch Appetithäppchen bei zwei Podiumsdiskussionen mit Michael Ballhaus zusätzlich angeheizt, und scheute nicht einmal davor, mir um 21 Uhr 30 die randvollgepakte Pressevorführung als sechsten Film des Tages (einen Rekord, den ich so schnell nicht brechen werde) anzuschauen. Auch die zehn Oscar-Nominierungen (Film, Regie, Buch, Kamera, Schnitt, Ausstattung, Song, Kostüme, Ton, Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis) und der Trailer ließen mich viel erwarten … und wie sollte es anders sein: ich wurde bitter enttäuscht!
"Gangs of New York", das langjährige Wunschprojekt Scorseses, das er im Gegensatz zu "The Last Temptation of Christ" mit einem monumentalen Budget, einem eigens in Cinecitta errichteten voll begehbaren Straßenzug und den Superstars DiCaprio, Diaz und Day-Lewis in langer Drehzeit realisieren konnte, wurde zunächst wegen des Anschlags auf das World Trade Center zurückgehalten. Plötzlich schien es nicht angemessen, beispielsweise New Yorker Feuerwehren zu zeigen, die mehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu bekämpfen als ausgebrochene Feuer. Und auch, wenn der 11. September mittlerweile mehr Einfluß auf die Filmlandschaft hat als je zuvor (man denke beispielsweise an "25th Hour"), war nun endlich die Zeit gekommen, die immensen Ausgaben wieder einzufahren.
Ob dies gelingen wird, ist mehr als fraglich, denn meines Erachtens "funktioniert" der Film in vielerlei Hinsicht nicht. Als weitere persönliche Beschäftigung mit der Vergangenheit Scorseses Heimatstadt New York mag der Film von Interesse sein, ein weitgehender Verzicht auf die in den letzten Filmen zu überbordenden religiösen Themen war sogar erfreulich, aber was Harvey Weinstein befürchtete, ist wahr geworden: Als Hollywood-Erlebnis vom Rang einer "Titanic" mag der Film nicht überzeugen. Die im Trailer angedeutete Dreiecksgeschichte zwischen den Hauptdarstellern wird kaum ausgeführt, insbesondere die Rolle von Cameron Diaz erscheint erschreckend klein, und der vielgelobte DiCaprio, der auch in Scorseses nächstem Film mitspielen soll, kann in der Rolle, die vor zwanzig Jahren noch Robert De Niro spielen sollte, nicht wirklich überzeugen.
Daniel Day-Lewis hingegen, der schon in Scorseses letztem Historienfilm "The Age of Innocence" eine beachtliche Leistung darbrachte, ist der große Lichtblick des Films. Die Intensität des Spiels und der Größenwahn einer Person, die vom eigenen Gerechtigkeitssinn derart überzeugt ist, daß offensichtliche Bösartigkeiten auch dem Zuschauer nachvollziehbar erscheinen, dafür hat der Film zumindest einen Oscar verdient. Die Geschichten über den verzweifelten Harvey Weinstein, der bat, seinen Star doch zumindest etwas ansehnlicher zu machen, woraufhin sich Day-Lewis noch eine Handvoll Pomade ins schmierige Haar strich, sorgen für einen fast legendär erscheinenden Einsatz des Ausnahmedarstellers, der seit "The Boxer" schon in den Ruhestand verschwunden zu sein schien.
Doch auch Day-Lewis kann den Film nicht retten, denn nicht nur fehlt die Hollywood-typische Liebesgeschichte, auch kann der Plot vom Jungen, der den Tod an seinem Vater rächen will, mit seinen Implikationen von Schuld und Sühne, über 168 Minuten schwerlich das Interesse des Zuschauers wachhalten. Nach der gekonnten Einführung und dem Wiederauftauchen des anonymen Waisenkindes Amsterdam zeigt sich schon schnell, daß sich mehr an den Sohn des Priesters erinnern, als diesem lieb sein kann. Doch statt langsamen Spannungsaufbau im Drehbuch gibt es nach ca. zwei Dritteln nur einen immens überraschenden ersten Höhepunkt des Films, nachdem sich das Ungetüm den Rest der Zeit weiterschleppt, um in einer Orgie der Gewalt mit jeder Menge Messerwetzereien aber vor allem Kanoneneinschlägen und Explosionen die Geschichte zu einem Anti-Climax der (im negativen Sinne) Meisterklasse führt. Nichts ist mehr zu spüren vom Hass, von der Eifersucht oder von den angedeuteten Gefühlen einer neuen Vaterfigur gegenüber, man hat das Gefühl, DiCaprio und Scorsese wollten es einfach nur noch hinter sich bringen. und als Zuschauer ist man ihnen dafür erschreckenderweise sogar ein wenig dankbar.
Dann gibt es noch einen Epilog, der mit unerträglich unrealistischen Computerbildern zunächst einen unsäglich pathetischen Kerzenzug á la "Pay it Forward" und dann eine Kurzgeschichte des Aufstiegs der Stadt bis zum Sommer 2001 nachzeichnet, bevor dann ein wohl auch eher aus Merchandise-Gründen gewählter U2-Song das enttäuschte Publikum verabschiedete.