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Oktober 2004
Thomas Vorwerk
für satt.org

American Splendor
USA 2003

American Splendor (R: Shari Springer Bergman & Robert Pulcini)

Buch
und Regie:
Shari Springer Bergman, Robert Pulcini

Kamera:
Terry Stacey

Schnitt:
Robert Pulcini

Musik:
Mark Suozzo

Set Design:
Thérèse DePrez

Darsteller:
Paul Giamatti (Harvey Pekar), Hope Davis (Joyce Brabner), Judah Friedlander (Toby Radloff), James Urbaniak (Robert Crumb), Maggie Moore (Alice Quinn), Earl Billings (Mr. Boats), Madlyn Sweeten (Danielle), Harvey Pekar (“echter“ Harvey), Joyce Brabner ("echte" Joyce), Toby Radloff ("echter" Toby), Danielle Batone ("echte" Danielle), Robert Pulcini (Bob, der Regisseur), Shari Springer Bergman (Interviewer), Donal Logue (Bühnendarsteller Harvey), Molly Shannon (Bühnen-
darstellerin Joyce)

101 Min.

Kinostart:
28. Oktober 2004

American Splendor

Die vielen Gesichter
des Harvey Pekar


American Splendor (R: Shari Springer Bergman & Robert Pulcini)
American Splendor (R: Shari Springer Bergman & Robert Pulcini)

Bis zu seinem kürzlich begonnenen Ruhestand arbeitete Harvey Pekar als Archivar in einem Krankenhaus in Cleveland. Doch seit einem Vierteljahrhundert ist er auch der Held einer eigenen Comicserie, denn nachdem der Jazz- und Comicfan auf einem Flohmarkt mal den bekannten Underground-Zeichner Robert Crumb traf und ihm seine Strichmännchen-Comics zeigte, war dieser begeistert und bebilderte danach einige von Harveys Geschichten. Mit der Unterstützung von Crumb fanden sich schnell auch andere Zeichner, und nach Underground-Größen der ersten Generation wie Spain Rodriguez zeichneten neben weniger bekannten Künstlern auch Independent-Comic-Stars wie Chester Brown, Drew Friedman, Dean Haspiel, Jim Woodring oder Joe Sacco für Harvey, wie gehabt erscheinen seine American Splendor-Heftchen (jetzt in kleinerem Format bei Dark Horse) und durch den beim vorletzten Sundance-Festival begeistert aufgenommenen American Splendor-Film ist Harvey nun fast ein Superstar - aber gleichzeitig immer noch ein kauziger, eigenbrötlerischer Pensionär.

Mit Terry Zwigoffs Dokumentarfilm über Crumb und der Adaption von Daniel Clowes Ghost World vom selben Regisseur hat sich gezeigt, daß das Thema Comic auf der Kinoleinwand nicht nur Erfolg haben kann, wenn es um Marvel-Superhelden oder ähnliches geht. Der Pulitzer Prize für Michael Chabons The Amazing Adventures of Kavalier & Clay hat für die Akzeptanz des Mediums etwa ebensoviel getan wie die selbe Auszeichnung für Art Spiegelmans Maus, und übergreifend tätige Künstler wie Kevin Smith oder J. Michael Straczynski locken womöglich auch mal Filmfreunde in Comicläden, wie es seit Tim Burtons Batman zumeist nur kolportiert wurde, aber selten geschah. (Und wenn, dann nicht zum Besten des Mediums, das in den 1980er durch den Sammler-Boom mit unvermeidbar nachfolgendem Absturz der Branche in seinen Grundfesten erschüttert wurde.)

Der Film American Splendor nutzt keinen bekannten Markennamen für ein (fast) sicheres Einspielergebnis, sondern nimmt eine kaum bekannte Comicserie um einen misanthropen Choleriker, und übersetzt sie kongenial in ein anderes Medium. Nicht nur ist die Besetzung von Paul Giamatti als Harvey Pekar einer jener wenigen Glücksgriffe, bei denen ein Schauspieler einer realen Persönlichkeit wirklich neues Leben einhauchen kann, American Splendor überzeugt vor allem durch seine Form, die der fragmentarischen Alltagspoesie des Comics vollends gerecht wird.

Ein Beispiel für eine sowohl stilistische als auch inhaltliche Eigenart des Comics, die kongenial in das andere Medium umgesetzt wurde, bezieht sich auf die extrem nüchterne Liebesgeschichte zwischen Harvey und seiner dritten Frau Joyce Brabner. Joyce, die Harvey über seine Comics kennengelernt hatte, nimmt mit dem Künstler Kontakt auf, weil sie eine Ausgabe trotz ihres Jobs in einem Comicladen verpasst hat. Nach einigen Briefen und Telefonaten besucht sie Harvey schließlich in Cleveland, und während der Bahnreise versucht sie sich vorzustellen, welcher der zahlreichen gezeichneten Harveys dem "echten" Harvey wohl am ehesten gerecht wird, denn über die Jahre wurde Harvey, der Comic-Protagonist, von diversen Zeichnern mit noch mehr Zeichenstilen fixiert.

Die vielen Gesichter des Harvey Pekar

Diese auch im Film zentrale Stelle führt zu einer Vielzahl von Film-Harveys. Da haben wir nicht nur Paul Giametti und den echten Harvey Pekar, der in Interviews zu seinem Leben Auskunft gibt, aber auch mal den dokumentarischen Anstrich durch eigens inszenierte Passagen (wie seine für Uneingeweihte "dokumentarisch" erscheinende Pensionierungsfeier) durchkreuzt, da gibt es auch den früheren Harvey, wie er in den 1980er-Archivaufnahmen aus der David Letterman-Show auftaucht. Es gibt gezeichnete Harveys, teilweise in Comic-Panels, teilweise in reale Umgebungen einmontiert, hin und wieder sogar animiert. Es gibt den Off-Kommentar des "echten" Harveys ebenso wie des "gespielten". Und es gibt sogar jene Szene, wo die "gespielten" Harvey und Joyce im Theater eine dramatisierte Version Harveys Leben mit dem ersten Kuss der zwei betrachten - ob dies eine extra für den Film rekontruierte Fassung ist, entzieht sich meiner Kenntnis, es erscheint aber wahrscheinlich.

American Splendor (R: Shari Springer Bergman & Robert Pulcini)
American Splendor (R: Shari Springer Bergman & Robert Pulcini)

Ähnlich wie Harvey ergeht es auch den anderen Hauptdarstellern, die "echte" Joyce und Pflegetochter Danielle tauchen im Film ebenso auf wie Toby Radloff, ein etwas vertrottelter (Krankenhaus-)Kollege Harveys, der seinerzeit mit seinem "certified Nerd"-Gütesiegel in MTV-Sendungen auftauchte (aus denen wir ebenfalls Ausschnitte sehen).

Natürlich profitiert der Film davon, daß das Autoren-/Regisseur-Team Bergman/Pulcini ähnlich wie Pekar/Brabner zusammen lebt und arbeitet (durch diese Besonderheit wurde ihnen das Projekt überhaupt erst zugetragen), doch während die beiden zuvor ausschließlich im Dokumentarbereich tätig waren, überzeugt American Splendor eben auch als erster Spielfilm der beiden. Die Schauspieler sind allesamt grandios, aber auch in der Umsetzung von Harveys Lebensgeschichte gelingt Bergman/Pulcini, den Erwartungen eines Spielfilm-Publikums entgegen zu kommen, ohne das Originalmaterial zu verfälschen. Die Liebesgeschichte zwischen Harvey und Joyce etwa erinnert an Filme von Woody Allen, und wenn dann noch Versatzstücke wie die berühmten Split Screens aus Pillow Talk eingearbeitet werden, ist das natürlich auch deshalb spektakulär, weil die Split Screen, wie man sie beispielsweise auch in Ang Lees The Hulk oft sah, eine der überzeugendsten Annäherungen des Mediums Film an comicspezifische Erzählparameter darstellt.

Und generell kann man eigentlich zusammenfassen, daß American Splendor bisher die überzeugendste Comic-Verfilmung überhaupt ist - und daß es dabei eben nicht um Helden in Pyjamas geht, gibt wieder neue Hoffnung für die Akzeptanz von Comics als Kunstform.