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November 2004
Thomas Vorwerk
für satt.org

Die fetten Jahre sind vorbei
D/AU 2004

Filmplakat

Regie:
Hans Weingartner

Buch:
Katharina Held, Hans Weingartner

Kamera:
Matthias Schellenberg, Daniela Knapp

Schnitt:
Dirk Oetelshoven, Andreas Wodraschke

Musik:
Andreas Wodraschke

Darsteller:
Daniel Brühl (Jan), Julia Jentsch (Jule), Stipe Erceg (Peter), Burghart Klaußner (Hardenberg), Claudio Caiolo (Paolo), Bernhard Bettermann (Jules Chef), Peer Martiny (Villenbesitzer), Petra Zieser (Villenbesitzerin), Oliver Bröcker (Aggresiver Globalisierungsgegner), Hans Zischler (Vermieter)

126 Min.

Kinostart:
25. November 2004

Die fetten Jahre sind vorbei


Hans Weingartners Debütfilm Das weiße Rauschen war zwar nicht perfekt, aber auf jeden Fall vielversprechend - und mit diesem in Cannes gelaufenen Nachfolger löst er die Versprechen ein.

Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene

Jule (Julia Jentsch) arbeitet als Kellnerin in einem Nobelrestaurant - um ihre Schuldenlast abzubauen. Nebenbei demonstriert sie zwar auch mal gegen die Ausbeutung von Kindern und anderen Arbeitern in der dritten Welt, aber ausgebeutet wird sie genauso, und was soll man an diesem System schon ändern?

Jules Freund Peter (Stipe Erceg), der sie nach der Räumungsklage auch mal bei sich aufnimmt, unternimmt nachts immerhin etwas, um an den Gittern des Systems zu rütteln. Gemeinsam mit seinem idealistischen, manchmal aber auch etwas radikalen Mitbewohner Jan (Daniel Brühl) bricht er in vorher ausgekundschafteten Villen ein (Peter hat dort mal die Alarmanlagen installiert), man verstellt die Möbel oder versteckt die Stereoanlage im Kühlschrank - und hinterlässt eine Nachricht: "Die fetten Jahre sind vorbei". Oder wahlweise: "Sie haben zuviel Geld - Die Erziehungsberechtigten".

Als Peter den geplanten Paar-Urlaub in Barcelona alleine antreten muss und Jan Jule beim Renovieren der alten Wohnung hilft, knistert es zwischen den beiden, und schließlich lässt sich Jan dazu hinreißen, Jule von seinen nächtlichen Aktionen zu erzählen. Da sie sich dabei gerade in der Nähe des Hauses jenes Mercedes-Besitzers befinden, der für Jules Verschuldung "verantwortlich" ist, überredet wiederum Jule Jan, in diese Villa einzubrechen. Leicht beschwipst landet man schließlich gemeinsam im Pool - vergisst aber wegen eines anschlagenden Wachhunds der Nachbarn Jules Handy. Als man dieses gegen alles bessere Wissen in der nächsten Nacht wiederholen will (inzwischen ist auch Peter aus dem Urlaub zurück), kommt der Villenbesucher, dem Jule mal in seinen Luxusschlitten reingefahren war, überraschend aus dem Urlaub zurück und stört die traute Zweisamkeit. Man weiß nicht, was man machen soll, ruft schließlich Peter - und entführt den 50jährigen Hardenberg Burghart Klaußner) auf die Almhütte von Jules Onkel.

War der Film bis hier schon durchaus anregend, findet er in der Gruppendynamik der Holzhütte seine Höhepunkte. Hardenberg, der früher auch mal "68er" war und Rudi Dutschke persönlich kannte, respektiert den Idealismus der unfreiwilligen Entführer, gemeinsam kocht man Spaghetti oder spielt Mau Mau, doch Hardenberg schielt auch immer wieder zum Fenster, während Peter langsam dahinter kommt, daß zwischen Jan und Jule etwas läuft.

Auch wenn sich Die fetten Jahre sind vorbei als „Anti-Globalisierungs-Komödie" klassifiziert, bleibt der Film spannend bis zuletzt.

Man droht immer wieder in den Entführungsstil der 70er abzurutschen (was bleibt einem für eine Wahl, wenn der Entführte die Namen und Gesichter der Entführer kennt?), und insbesondere die staatliche Gewalt greift bereits bei einer kleinen Demo zu Beginn mit unvermittelter Härte ein, man ahnt den Märtyrer-Tod wie zuletzt in Baader.

Weingartners Regie ist nahezu makellos (einige Szenen, die die Liebesgeschichte vorantreiben, sind etwas unbeholfen und klischeehaft), und das kleine (aber extrem feine) Schauspieler-Ensemble macht aus dem Film die sympathischere und massentauglichere Version von Muxmäuschenstill. Neben dem bewährt überzeugenden Daniel Brühl und dem höchstens unter seiner Rolle leidenden Stipe Erceg begeistern vor allem Burghart Klaußner als Hardenberg (er spielte in Good Bye, Lenin! Brühls West-Vater) und die junge Julia Jentsch (Mein Bruder, der Vampir). Wenn diese beiden in bestimmten Szenen den Kopf aus dem Seitenfenster des VW-Bus halten und sich am Fahrtwind berauschen, ist der Generationsunterschied kaum mehr zu bemerken.

Musikalisch nimmt Weingartner dieses Thema übrigens durch eine Cover-Version von Leonard Cohens Hallelujah vom jung verstorbenen Jeff Buckley auf - ein wenig klingt der Film, als wenn die ziellose Jugend von heute ("was früher subversiv war, kannste heute im Laden kaufen - Che Guevara-T-Shirts, Anarcho-Sticker …") an den ehemaligen Idealen der Eltern festhält - und wenn einer aus der Elterngeneration dabei mitmischt, klingt es noch authentischer.