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April 2006 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||
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Die Zeit die bleibt
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Der junge (30), attraktive und erfolgreiche Photograph Romain (Melvil Poupaud) erfährt nach einer Ohnmacht von seinem Arzt, daß er nicht mehr lange zu leben hat (Ozon wählt hierfür nicht die stigmatisierte Schwulenkrankheit Aids, sondern einen Gehirntumor). Romain sieht sich außer Stande, sich damit zu arrangieren. Er übt vor dem Spiegel, die Neuigkeit weiterzugeben, behält seinen Status aber für sich, streitet sich am Telefon mit seiner Schwester und bricht eine eigentlich funktionierende Beziehung mit dem jüngeren Sasha (Christian Sengewald) abrupt ab. Erst im Gespräch mit seiner Großmutter (Jeanne Moreau), die dem Tod schon ob ihres Alters ebenfalls nahe es, schafft er es, sich zu offenbaren, warum er auf dem Filmplakat einen Säugling an seiner Seite liegen hat, verrate ich an dieser Stelle nicht.
Ozon, dessen Filme oft ein wenig rätselhaft bleiben, hat mit Le temps qui reste nicht nur einen Film vorgelegt, bei dem ihn nahezu jeder Journalist nach der autobiographischen Komponente fragt (zuvor waren seine Protagonisten meist heterosexuelle Frauen), für jeden Freund der Filmanalyse ist der Streifen auch ein gefundenes Fressen. Die Kombination des Themas Tod mit der Photographie scheint wenig innovativ, aber Ozon eröffnet gleich eine ganze Dichotomie mit zueinander in Beziehung stehenden Themenpaaren: Licht und Schatten, Sex und Tod, Kindheit und Alter. Nach dem Abschiedsfick mit seinem Freund beginnt er, diesen zu würgen; Stöhnen verbindet die Photographie (Photo-Shot wie Sexgestöhne) mit dem Tod (Ego-Shooter mit realistischem Todesgestöhne); im Spiegel erblickt er sein kindliches Ich, erinnert sich an seine sexuelle Initiation, weitere Kinder in Reflexionen folgen; der Übergang vom Leben zum Tod wird bis zur letzten Einstellung (aber auch schon vorher -> Brief der Schwester im grellen Sonnenlicht - Telefonat im Park im Baumschatten) wie das Überschreiten der Grenze zwischen Licht und Schatten zelebriert (zwischenzeitig gibt es sogar schwarze und weiße Zwischeneinstellungen), und auch, wenn Romain nicht an Aids erkrankt ist, passt sein Ausflug in eine Schwulenbar im Keller auch sehr gut in dieses Schema, insbesondere, wenn man darauf achtet, welche Kindheitsmomente sich im Licht, welche im Schatten abspielen.
Natürlich gibt es auch viele Bezugspunkte zu Ozons früheren Filmen wie den Auftritt von Valeria Bruni-Tedeschi, die an Sous le sable (und Barton Fink) erinnernde erste (und letzte) Einstellung oder das Blättern im Photoalbum der Großmutter, das über die Bilder der jungen Jeanne Moreau wie der Photoauftritt von Romy Schneider in 8 femmes funktioniert. Aber obwohl sich Ozon beim Schreiben und Drehen offensichtlich viel gedacht hat, ist es mit Bedauern festzustellen, daß der Film (zumindest bei jemandem wie mir, der sein analytisches Gehirn nicht einfach ausschalten kann) nicht die emotionale Tiefe erreicht, die beispielsweise den sehr ähnlichen Son frere von Patrice Chéreau auszeichnet. Nicht nur verschließt sich Romain gegen seine Umwelt, der Film selbst ist einfach zu clever, um die Empfindungen des Zuschauers so anzurühren, wie es das Sujet fast schon fordert. Vielleicht sollte man mal analysieren, warum dies nicht funktioniert bzw. ob es bei anderen Zuschauern womöglich doch funktioniert …
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