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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




9. Juli 2008
Thomas Vorwerk
für satt.org


  AlleAlle (R: Pepe Planitzer)
AlleAlle (R: Pepe Planitzer)
AlleAlle (R: Pepe Planitzer)
AlleAlle (R: Pepe Planitzer)
AlleAlle (R: Pepe Planitzer)

AlleAlle
(R: Pepe Planitzer)

Deutschland 2008, Buch: Pepe Planitzer, Lit. Vorlage: Oliver Bukowski, Kamera: Uwe Mann, Schnitt: Katrin Ewald, Musik: Peter Liljeqvist, Calexico, mit Milan Peschel (Dohmühl), Eberhard Kirchberg (Hagen), Marie Gruber (Ina), Simone Frost (Magda), Christina Große (Caroline), Teo Vadersen (Lulle), Peter Kurth (Otto), Udo Kroschwald (Heimleiter), Eckard Becker (Hagedorn), Kinostart: 10. Juli 2008

Ich weiß noch, wie ich 2007 Jagdhunde schon früh zum “schönsten Film der Berlinale” gekürt hatte. Irgendjemand bei der ZDF-Sendung Aspekte behauptet, AlleAlle sei der “poetischste” Film der diesjährigen Berlinale. Wobei man wohl beim Adjektiv “poetisch” erst mal über die Definition reden muss, ehe man sich vernünftig streiten kann.

Irgendwo südlich von Berlin (eine eigentlich nicht unbedingt besonders schöne oder poetische Gegend) sucht der aus dem Heim entlassene geistig etwas zurückgebliebene Hagen (Eberhard Kirchberg) nach seinem Onkel, der sich nun um ihn kümmern soll. Er findet aber nur den mit seinem heruntergekommenen Firmenwagen liegengebliebenen Gerüstbauer Dohmühl (Milan Peschel), der ihn für schier herkulianische Anschiebdienste vorerst bei sich unterkommen lässt, ehe er den doch irgendwie anstrengenden Behinderten am nächsten Tag, inzwischen wieder halbwegs nüchtern, postwendend loswerden will. Die dritte Person in diesem seltsamen Bunde ist die Nachbarin Ina (Marie Gruber), auf die Dohmühl in seiner nicht immer charmanten Weise ein Auge geworfen hat, und die nach einer längeren Gefängnisstrafe auch erst vor kurzem in ihren mittlerweile desolaten Heimatort zurückgekehrt ist.

Neben dem an Detlev Bucks Wir können auch anders erinnernden etwas trotteligen Ost-Provinzhumor erinnert AlleAlle wohl am eindeutigsten an John Steinbecks Of Mice and Men, wo sich ebenfalls ein kleiner Gewitzter und ein geistig flügellahmer mit Bärenkräften zusammentun. Hagen schleppt sogar ein Nagetier mit sich herum, das er Maus nennt (“Hagen bei Maus, Maus bei Hagen”), und man wartet schon bald auf die Szene, die bei Tex Avery die unsterbliche Dialogzeile “I had a little friend once - but he don’t move no more” bekam. Und auch die Weiterführung wie im Original, wenn nach der “gekniffenen” Maus auch ein Mensch sich später nicht mehr rührt, findet ihre Entsprechung in AlleAlle (der Titel impliziert ja schon die nicht mehr vorhandene Lebensenergie). Soweit also die Poesie.

Was bei AlleAlle so gar nicht poetisch geriet, ist zu Beginn die extrem schlechte Tonspur, an die man sich aber erstaunlicherweise sogar gewöhnt (oder die später nicht mehr so eklatant schrecklich ist). Die Darstellung der geistigen Behinderung ist mal wieder haarscharf an der Grenze, Hagen völlig lächerlich darzustellen (also irgendwo zwischen Rain Man und Wo ist Fred?, um die deutsch-amerikanischen Vergleiche beizubehalten), doch trotz des nicht immer zündenden oder auch nur teilweise freiwillig erscheinenden Humors versammelt der Film immerhin eine Menge guter Ideen (ein Gerüstbauer mit Höhenangst, Hagens Pokemon-Sammlung), wenn auch das aufgesetzte Ende nach der wundersamen Rettung von “Maus” sich nicht mehr nur der offensichtlichen Märchenhaftigkeit des Films zu verdanken scheint, sondern den Zuschauer fast so behandelt wie “Dohmi” es lange Zeit mit Hagen macht.

Nicht wenige Besucher der Pressevorführung konnten mit dem Film - vielleicht auch deshalb - so gar nichts anfangen, aber wer Dialogzeilen wie “Onkel Hause, Hagen Hause, Maus Hause” oder “Schlaf schön fein. Mit Traum” als entweder poetisch oder zumindest interessant einstuft, und sowohl über Fassbinder als auch über Beavis & Butthead lachen kann, der ist hier im Kino gut aufgehoben.