Tatil Kitabi
(R: Seyfi Teoman)
Türkei 2008, Dt. Titel: Tatil Kitabi - Summer Book, Buch: Seyfi Teoman, Kamera: Arnau Valls Colomer, Schnitt: Cicek Kahraman, mit Taner Birsel (Hasan), Ayten Tökün (Güler), Osman Nan (Mustafa), Harun Özüa (Veysel), Tayfun Günay (Ali), 92 Min., Kinostart: 24. Juni 2010
Mein (etwas eingeschränkter) Einblick in den künstlerisch wertvollen Teil des türkischen Films fördert eine Konzentration auf Kindererfahrungen vermengt mit Erwachsenenproblemen hervor. Ob in Nuri Bilge Ceylans Kasaba (lief vor ziemlich genau einem Jahr in der Arsenal-Forums-Retro), dem Berlinale-Gewinner Bal oder jetzt in Tatil Kitabi: Die Türken sind ganz vernarrt in ihre Kinder, und auch die politisch interessierten Regisseure nutzen diese Vorliebe und verbinden filmische Ansätze, die zu nostalgisch gefärbten Kinderfilmen gehören könnten, mit sozialkritischen Geschichten, die man teilweise erst im Hintergrund der Filme entdecken müssen.
Tatil Kitabi bezeichnet ein von der Schule verteiltes Buch mit (verspielten Zweitklässler-) Aufgaben, mit dem die Schüler sich während der Sommerferien hin und wieder beschäftigen sollen. Der wissbegierige Knabe, der zunächst den Fokus dieses Films darstellt, büßt aber sein “Summer Book” aufgrund diebischer Schulkameraden ein, und er will einerseits diese Schande nicht vor seiner Familie eingestehen, und versucht andererseits, das Geld für den Kauf eines neuen Buchs während der Ferien zu erarbeiten. Hierbei wird er auch von seinem Vater angetrieben, der ihn ziemlich forsch losschickt, Kaugummis (das türkische Äquivalent zu Bazooka Joe) auf der Straße zu verkaufen, was aber größtenteils dermaßen schiefgeht, dass die Einnahmen des Knaben schnell ausschließlich aus den großzügigen Einkäufen seiner Mutter bei ihm bestehen.
Soweit die Kindergeschichte. Der Vater, der viel mit dem Auto unterwegs ist und beispielsweise frühmorgens Pflückerinnen aufsammelt, die er an einer Plantage zum Arbeiten ablädt (Anlass für wunderschöne lange Einstellungen der sich langsam mit Arbeitskräften füllenden Ladefläche des Autos), wird fällt zwischendurch ins Koma, und der Onkel des Knaben versucht einerseits, herauszubekommen, ob der Vater seine Frau betrogen hat, und ist andererseits auf der Suche nach einer verschwundenen Geldbörse.
So werden erste Kindheitserfahrungen mit den Tücken der Marktwirtschaft parallelisiert mit einer fast detektivischen Suche, bei der - wie nebenbei - die Lebensträume und tatsächlich beschrittenen Arbeitswege der älteren Generation zutage treten - was mich stark an Kasaba erinnerte, nur dass Regisseur Seyfi Teoman das Thema weniger gesprächslastig und dafür visuell ansprechender umsetzt.
Der Film hat viele clevere Ideen, die oft in langen Einstellungen umgesetzt werden. So zeigt die erste Einstellung eine festungsähnliche Kulisse mit einer zentralen türkischen Flagge, die sich dann als der steinige Ort einer Klassenexkursion offenbart, ehe unser kleiner Held sich geschickt in den Bildmittelpunkt bewegt. Und gegen Schluss des Films gibt es eine ähnliche Einstellung, die fußballspielende Kinder vor dem Fenster eines Klassenzimmers zeigt (abermals ist eine Flagge nicht weit), und somit die nunmehr beendeten Sommerferien kennzeichnet. Und ich bin mir sicher, dass der dramaturgisch nicht völlig überzeugende Widerspruch zwischen den Schülern und den Ballspielern (zu meiner Schulzeit hätte da längst ein Lehrkörper über die Lärmbelästigung protestiert, aber vielleicht ist das wieder Teil der türkischen Mentalität und Kinderliebe) auch eine symbolische Aussage zu den unterschiedlichen Entwicklungen im Erwachsenenstadium beinhaltet.