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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




9. März 2010
Friederike Kapp
und Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 66:
Berlinale 2010: Winners


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Berlinale 2010

Zunächst einmal eine Auswahl der auf der Berlinale 2010 verliehenen Preise, dann einige Rezensionen zu den Preisträgern.

Preise der Internationalen Jury
Goldener Bär für den Besten Film:

Bal (Honey) von Semih Kaplanoglu
Großer Preis der Jury - Silberner Bär:
Eu cand vreau sa fluier, fluier (If I want to whistle, I whistle)
von Florin Serban
Silberner Bär für die Beste Regie:
Roman Polanski für The Ghost Writer
Silberner Bär für die Beste Darstellerin:
Shinobu Terajima in Caterpillar
Silberner Bär für den Besten Darsteller:
ex aequo: Grigori Dobrygin & Sergei Puskepalis
für Kak ya provel etim letom (How I Ended this Summer)
Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung:
Pavel Kostomarov für die Kamera
in Kak ya provel etim letom (How I Ended this Summer)
Silberner Bär für das Beste Drehbuch:
Wang Quan'an & Na Jin für Tuan Yuan (Apart Together)
Alfred-Bauer-Preis:
(für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet)
Eu cand vreau sa fluier, fluier (If I want to whistle, I whistle)
von Florin Serban

Jury für den Besten Erstlingsfilm
Bester Erstlingsfilm:

Sebbe von Babak Najafi

Preise der Internationalen Kurzfilmjury
Goldener Bär:

Händelse Vid Bank (Incident at the Bank) von Ruben Östlund
Preis der Jury - Silberner Bär:
Hayerida (The Descent) von Shai Miedzinski

Kinderjury Generation Kplus
Gläserner Bär für den Besten Film:

Shui Yuet Sun Tau (Echoes of the Rainbow) von Alex Law
Lobende Erwähnung:
This Way of Life von Thomas Burstyn
Gläserner Bär für den Besten Kurzfilm:
Franswa Sharl von Hannah Hilliard
Lobende Erwähnung:
Indigo von Jack Price

Jugendjury Generation 14plus
Gläserner Bär für den Besten Film:

Neukölln Unlimited von Agostino Imondi & Dietmar Ratsch
Lobende Erwähnung:
Dooman River von Zhang Lu
Gläserner Bär für den Besten Kurzfilm:
Az Bad Beporsid (Ask the Wind) von Batin Ghobadi
Lobende Erwähnung:
Ønskebørn (Out of Love) von Birgitte Stærmose

Internationale Jury von Generation Kplus
Großer Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den Besten Film:

Boy von Taika Waititi
Lobende Erwähnung:
Yeo-haeng-ja (A Brand New Life) von Ounie Lecomte
Großer Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den Besten Kurzfilm:
Apollo von Felix Gönnert
Lobende Erwähnung:
The Six Dollar Fifty Man von Mark Albiston & Louis Sutherland

Preise der Ökumenischen Jury
Für einen Film aus dem Wettbewerb:

Bal (Honey) von Semih Kaplanoglu
Für einen Film aus dem Panorama:
Kawasakiho Růže (Kawasaki's Rose) von Jan Hřebejk
Für einen Film aus dem Forum:
Aisheen (Still Alive in Gaza) von Nicolas Wadimoff

Preise der FIPRESCI Jurys
Für einen Film aus dem Wettbewerb:

En familie (A Family) von Pernille Fischer Christensen
Für einen Film aus dem Panorama:
Parade von Isao Yukisada
Für einen Film aus dem Forum:
El vueco del cangrejo (Crab Trap) von Oscar Ruiz Navia

Preis der Gilde deutscher Filmkunsttheater
Shahada von Burhan Qurbani

Preise der C. I. C. A. E.
Für einen Film aus dem Panorama:

Kawasakiho Růže (Kawasaki's Rose) von Jan Hřebejk
Für einen Film aus dem Forum:
Winter's Bone von Debra Granik

Label Europa Cinemas
Die Fremde von Feo Aladag

Teddy Awards
Bester Spielfilm:

The Kids are All Right von Lisa Cholodenko
Bester Dokumentarfilm:
La bocca del lupo (The Mouth of the Wolf) von Pietro Marcello
Bester Kurzfilm:
The Feast of Stephen von James Franco
Teddy Jury Award:
Open von Jake Yuzna

Dialogue en Perspective
Lebendkontrolle von Florian Schewe
Lobende Erwähnung:
Portraits deutscher Alkoholiker von Carolin Schmitz

Caligari-Filmpreis
La bocca del lupo (The Mouth of the Wolf) von Pietro Marcello

NETPAC-Preis
Yi yè Tái bei (Au revoir Taipei) von Arvin Chen

Friedensfilmpreis
Son of Babylon von Mohamed Al-Daradji

Amnesty International Filmpreis
ex aequo
Son of Babylon von Mohamed Al-Daradji &
Waste Land von Lucy Walker

Femina-Film-Preis
Reinhild Blaschke für das Szenenbild in Im Schatten

Leserpreis der Berliner Morgenpost
En ganske snill mann (A Somewhat Gentle Man)
von Hans Petter Moland


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Eu cand vreau sa fluier, fluier (Florin Şerban, Wettbewerb)
Int. Titel: If I want to whistle, I whistle, Rumänien / Schweden 2010, Buch: Catalin Mitulescu, Florin Şerban, Lit. Vorlage: Andreea Valean, Kamera: Marius Panduru, Schnitt: Catalin F. Cristuţiu, Sorin Baican, mit George Piştereanu (Silviu), Ada Condeescu (Ana), Clara Voda (Mutter), Mihai Constantin (Direktor), Marian Bratu (Marinus), Chilibar Papan (Ursu, "Bär") Mihai Svorişteanu (Soare, "Sonne"), Alexandru Mititelu (Finu, "Patensohn"), Cristian Dumitru (Blondu, "Blonder"), Laurenţiu Banescu (Psychologe), 94 Min.

Ein Gefängnis für jugendliche Straftäter irgendwo auf dem Lande in Rumänien. Das Leben der Gefangenen ist hart, aber geregelt. Zu den Regeln der Anstalt kommen die Regeln unter den Gefangenen, die im einen wie im anderen Fall mit körperlicher Gewalt durchgesetzt werden. Der junge Silviu (George Piştereanu) kommt ganz gut klar. In der Hackordnung der Gefangenen kann er sich auf einem erträglichen Platz behaupten. In einer Woche soll er entlassen werden. Wenn nichts dazwischenkommt.

Da besucht ihn sein etwa dreizehnjähriger kleiner Bruder, Marinus (Marian Bratu), und erzählt ihm, daß die Mutter der beiden (Clara Voda) wieder aufgetaucht ist und ihn mitnehmen will nach Italien. Silviu ist alarmiert. Er hat berechtigte Zweifel, daß Marinus bei der Mutter gut versorgt wird. Marinus soll in Rumänien bleiben, unter Silvius Obhut, und seine Schule abschließen.

Silviu setzt alle Hebel in Bewegung, um die Abreise seines Bruders zu verhindern. Die Bitte um einen Tag Freigang wird abgelehnt. Viele Mittel bleiben ihm nicht. Für ein unerlaubtes Handytelefonat zahlt er Wucherpreise. Wie ein Stier geht Silviu mit gesenkten Hörnern auf sein Ziel los, legt sich mit den Wärtern an, legt sich mit seinen Mitgefangenen an, bezieht Prügel und wird in der Gruppe der Häftlinge zum Rechtlosen degradiert. Schließlich kommt es zur blutigen Geiselnahme. Er bringt Ana (Ada Condeescu) in seine Gewalt, eine junge Praktikantin, die er im Haftentlassungsprogramm kennengelernt hat und für die er heimlich schwärmt.

Parallel dazu wird der Alltag der Häftlinge beschrieben, ihr Umgang miteinander, ihre Lebensbedingungen. Der schäbige Gefängnisbau, die spartanischen Waschanlagen, die Zelle mit den sechs Etagenbetten. Die halbwegs entspannte Arbeit als Landwirtschaftshelfer. Fußballspielen auf dem Gefängnishof. Der Wind wirbelt den Staub auf, so daß man kaum etwas sieht. Kein Wunder, daß die Mannschaft, die mit dem Wind spielt, das Tor macht. Bei Verlassen des Essensraumes wird die Besteckabgabe scharf kontrolliert.

Die Kamera bleibt meistens auf Distanz, bleibt in der Beobachtung, keine Details, keine schnellen Schnitte. Aus der Teilnahme ergibt sich für den Zuschauer die Anteilnahme. Die Jungs sind allesamt keine Chorknaben, wie schon die Narben auf ihren kurzgeschorenen Schädeln belegen.

In seiner ersten Filmrolle spielt der 19jährige George Piştereanu den Silviu mit großer Eindringlichkeit, auch mit großer physischer Präsenz. Seine sparsame Mimik zeigt die lauernde Bereitschaft, es mit jeder Situation aufzunehmen, sich niemals geschlagen zu geben. Die Bewegungen, mit denen er kurz und trocken eine Scheibe einschlägt, einen Mitgefangenen in die Mangel nimmt, verraten die jahrelange Übung, die beiläufige Selbstsicherheit eines Handwerkers. "Ein Mucks, und ich drück' dir die Augen aus!" Daran besteht kein Zweifel. Dabei ist er keineswegs bösartig, er will nur sein Ziel erreichen. So dämlich sein unbeirrtes Beharren auf dem Unmöglichen auch ist, es ist zugleich vollkommen verständlich.

Clara Voda gelingt es, Sympathien zu wecken für eine Frau, die es offensichtlich nicht packt. Wie sie dasteht vor ihrem Sohn mit ihren gefärbten blonden Haaren, auf ihrem Recht als Mutter besteht, fürchtet sie doch seine Vorwürfe.

Marian Bratu, mit gaunermäßigem Brilli im linken Ohr, zeigt die ganze Scheu eines kleinen Straßenjungen, der den großen Bruder anhimmelt, nicht sicher, was in Zukunft mit ihm geschieht.

Die Häftlinge werden von Laiendarstellern gespielt, die der Regisseur Florin Şerban in rumänischen Jugendgefängnissen gesucht und gefunden hat. Sie spielen gewandt, selbstbewußt, konzentriert, mit Verve und - gelegentlich gibt es auch heitere Szenen - mit großem Vergnügen. Der Regisseur Florin Şerban zeigte sich beeindruckt von der Zusammenarbeit mit den Jugendlichen. Herausgekommen ist ein beeindruckender Film. [Friederike Kapp]

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Bal (Semih Kaplanoğlu, Wettbewerb)
Int. Titel: Honey, TR/D 2010, Buch: Orçun Köksal, Semih Kaplanoğlu, Kamera: Barıs Özbiçer, Schnitt: Ayhan Ergüsel, Semih Kaplanoğlu, Suzan Hande Güneri, mit Bora Altaş (Yusuf), Erdal Beşikoçioğlu (Yakup), Tülin Özen (Zehra), 103 Min.

Der sechsjährige Yusuf (Bora Altaş) ist ein ausgesprochenes Papakind. Mit seinem Vater Yakup (Erdal Beşikoçioğlu), einem Imker, verbindet ihn eine ganz besondere Beziehung. Yakup nimmt ihn mit in den Wald, wenn er an den Bienenstöcken arbeitet, die in ca. sechs Meter Höhe in den Bäumen hängen. Er zeigt ihm verschiedene Blumen und Blüten, lehrt ihn alles über deren Pollen, über das Ausräuchern der Bienen, die Honigernte und den Umgang mit den beiden Arbeitstieren, dem dressierten Falken und dem Esel.

Mit der Mutter (Tülin Özen) verbindet Yusuf weniger. Sie ist freundlich, sie ist da, aber sie versteht beispielsweise nicht, daß man Träume nur flüsternd erzählen darf, oder noch besser gar nicht. Sie besteht darauf, daß er jeden Tag ein Glas Milch trinkt. Als sie wegschaut, trinkt der Vater die Milch.

Auch mit anderen Menschen tut Yusuf sich schwer. Er ist ein eifriger, aber schlechter Schüler. Beim öffentlichen Vorlesen in der Klasse stammelt er unerträglich an jedem einzelnen Buchstaben, während er zu Hause flüssig vorliest.

Als die Honigernte immer magerer ausfällt, beschließt Yakup, einen Teil der Bienenvölker in die Berge zu verlegen. Wie gefährlich dies ist, wissen die Zuschauer schon aus der ersten Szene: Ein Ast gibt nach und bricht zur Hälfte durch, Yakup hängt zwischen Himmel und Erde am Seil, kann weder vor noch zurück.

Der Vater kommt nicht wieder. Yusuf hat den Falken gesehen und folgt ihm in den Wald. Bei Einbruch der Dämmerung sehen wir ihn zwischen den hohen, mächtigen Wurzeln eines Baumes kauern, ein kleines helles Etwas in der zunehmenden Dunkelheit des Waldes, sehr verloren.

Bal besteht im Grunde aus zwei kompositorischen Strängen: Szenen, in denen die Handlung weitererzählt wird, wechseln mit kontemplativer Bildbetrachtung, symbolhaften Naturansichten von großer suggestiver Kraft. Wie schon in Kaplanoğlus Erstling Meleğin Düşüşü (2004) werden die wie Gemälde durchkomponierten Bilder mit überlauten Alltagsgeräuschen unterlegt, hier dem Rascheln von Blättern oder, naheliegenderweise, dem Summen einer einzelnen Biene. Diese akustische Überhöhung, mit der die eindringlichen Bilder unterlegt sind, zwingt den Zuschauer in eine Position geschärfter Wahrnehmung.

Die sparsame äußere Handlung – ein Esel wirft einen Wassereimer um, ein Kind trocknet seine Schulsachen am Herdfeuer – steht im Gegensatz zu ihrer sozialen und emotionalen Bedeutung – eine Familie ringt um ihre wirtschaftliche Existenz, ein Kind sucht seinen Platz in der Welt – und bezieht hieraus ihre Spannung. Der Erzählrhythmus alterniert zwischen ruhig und sehr, sehr ruhig.

Damit unterläuft der Film eine konventionelle Erzählweise, die alle Bilder narrativ erklärt und in zügigem Tempo voranschreitet. Es lohnt sich jedoch für den Zuschauer, diese Herausforderung anzunehmen.

Bal bildet den abschließenden dritten Teil einer chronologisch rückwärts schreitenden Trilogie um das Leben des (fiktionalen) Dichters Yusuf. Süt („Milch“) zeigt Yusuf als jungen Mann in der schwierigen Zeit, die auf den Schulabschluß und die abgelehnte Bewerbung um einen Studienplatz folgt. Der Film wurde 2007 in Cannes uraufgeführt und war in Deutschland bislang nicht zu sehen. Yumurta („Ei“) zeigt Yusuf als etwa 40jährigen auf einer persönlichen Reise in die Vergangenheit anläßlich des Todes seiner Mutter. Uraufführung 2008 bei den Filmfestspielen in Venedig, seit 14. Januar 2010 in deutschen Kinos. Dank des Goldenen Bären, wird demnächst hoffentlich auch die komplette Trilogie zu sehen sein. [Friederike Kapp]

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Neukölln Unlimited (Agostino Imondi & Dietmar Ratsch, Generation 14plus)
Deutschland 2010, Buch: Agostino Imondi, Kamera: Dietmar Ratsch, Schnitt: Agostino Imondi, Lars Späth, Musik: Tim Stanzel, Eike Hosenfeld, Moritz Denis, mit Lial Akkouch, Hassan Akkouch, Maradona Akkouch, 96 Min., Kinostart: 8. April 2010

In Form einer Filmreportage beschreibt Neukölln Unlimited das Leben der drei Geschwister Hassan (18), Lial (19) und Maradona Akkouch (14), die gemeinsam mit ihrer jüngsten Schwester (2) und ihrer Mutter im Berliner Stadtteil Neukölln in einer Dreizimmerwohnung leben.

Der Film begleitet die drei in ihre wichtigsten Lebensfelder: ins Tanztraining, zu Auftritten, in die Schule oder in den Betrieb, in die häusliche Umgebung, auf die Ausländerbehörde und die Ausländerberatung.

Vor 16 Jahren entkam die Familie dem Bürgerkrieg im Libanon, seit 16 Jahren ist sie ständig von der Abschiebung bedroht. Lial hat derzeit noch am meisten „Glück“: Weil sie eine Ausbildung macht, bekommt sie weitere drei Jahre Duldung. Hassan macht in einem Jahr sein Abitur, also bekommt er ein Jahr. Und die Mutter und die anderen Geschwister? Die leben von Tag zu Tag und müssen sich vor jedem Klopfen an der Tür fürchten.

Vor sechs Jahren wurde die Familie ohne Vorwarnung schon einmal in den Libanon abgeschoben, genau am Tag von Maradonas neuntem Geburtstag und trotz gegenteiliger Empfehlung der Härtefallkommission. Der Rückblick auf dieses Ereignis, das die Familie nachhaltig geprägt, auch traumatisiert hat, wird in Comicsequenzen geschildert, Hassans Stimme erzählt.

Umso wichtiger, der äußeren Bedrohung etwas Eigenes entgegenzusetzen: Alle drei Geschwister sind kreativ begabt und besitzen eine unglaubliche Energie, tanzen Breakdance, Hassan und Lial singen jeweils in einer Band. Ihr Deutschrap drückt aus, was sie empfinden, Zuhören lohnt sich.

Maradona hat es in den „Recall“ für Deutschland sucht den Superstar geschafft und hofft auf den ersten Platz. Ansonsten entwickelt er sich eher zum Problemfall: Er schwänzt häufig die Schule, bekommt Ärger, weil er mit einem Totschläger rumläuft. Der äußerst reflektierte Hassan erklärt Maradonas Verhalten mit der Traumatisierung durch die erste Abschiebung. Maradona fühle sich von der deutschen Gesellschaft abgelehnt, wolle ein arabischer Mann sein, aber: Er hat hier keine guten Vorbilder. Hassan faßt zusammen: „Du mußt erstmal selber verstehen, daß Du kein Ausländer bist.“

Lial und Hassan tun alles, um der Familie einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu verschaffen. Das wäre möglich, wenn der Nachweis gelingt, daß die Familie wirtschaftlich unabhängig ist. Aber was der Schüler Hassan mit seinen gelegentlichen Gagen und die Azubine Lial mit ihrem Lehrlingslohn zusammenbringen, reicht einfach nicht für das geforderte Mindesteinkommen, so großherzig und mutig diese beiden Teenager auch die Verantwortung für eine ganze Familie zu schultern versuchen.

Bei einem öffentlichen Auftritt Ehrhart Körtings wendet sich Hassan direkt an den Innensenator: Sie sagen, die Ausländer wollen den Staat bescheißen. Auf uns trifft das nicht zu, warum bekommen wir kein Aufenthaltsrecht? Körting bleibt auf Linie, kommt sehr schnell vom konkreten Fall auf das Allgemeine zurück: „Personen nachschleusen“, ein Generalvorwurf.

Bewundernswert die selbstbewußte Hartnäckigkeit, mit der die Jugendlichen trotz aller behördlichen, institutionalisierten Ablehnung ihr Bleiberecht, ihren Platz in der deutschen Gesellschaft einfordern. Natürlich bin ich deutsch, ich bin doch hier aufgewachsen!

Bei den diversen Auftritten der Protagonisten schweift die Kamera immer mal wieder auch über das Publikum und man sieht: jubelnde Jugendliche jeglicher Herkunft. Die Integration dieser jungen Migranten ist schon längst Gegenwart, nur die Politik hat das noch nicht begriffen.

Neukölln Unlimited zeichnet sich durch ein gutes Tempo aus. Es wird keinen Moment langweilig. Die Szenenfolge ist stimmig, jede einzelne Szene sehenswert. Daß die Musik einen hohen Stellenwert einnimmt, liegt in der Natur der Sache. Gerne hätte man alle Tracks des Films auf CD. Neben den Einzelschicksalen der Protagonisten und dem exemplarischen Blick auf unser zynisches Ausländerrecht gelingt es dem Film hervorragend, das Lebensgefühl einer ganzen Generation einzufangen.

Ein besonderes Vergnügen war es, die Berlinale-Vorführung von Neukölln Unlimited im Kino Babylon zu erleben, inmitten der Zielgruppe eines jugendlichen Publikums, das genauso alt war wie die Protagonisten selbst. Die drei Geschwister Akkouch und die beiden Regisseure waren anwesend und stellten sich den ungenierten, neugierigen Fragen des Publikums. Wie geht es jetzt weiter? Habt ihr jetzt eine Aufenthaltsgenehmigung? Wie war das für euch, als ihr im Libanon wart? Wie seid ihr zurückgekommen? Was ist eine Kartoffelparty? An den Mädchenschwarm Maradona: Wie läuft’s jetzt in der Schule? Auf welche Schule gehst du? Großes Gelächter, Maradona gibt die gewünschte Auskunft, fragt zurück: Und auf welche Schule gehst du? An Lial: Wie ist das, wenn man als Mädchen Breakdance machen will, ist das schwierig? Ja, sehr schwierig, man muß beständig um Anerkennung kämpfen, man muß sie einfordern. Und wie macht man das? Indem man hart trainiert. An Hassan: Fühlst du dich wirklich als Deutscher? Hassan: Ich fühle mich nicht als Deutscher, aber ich fühle mich auch nicht als Libanese. Ich bin hier aufgewachsen, ich fühle mich als Berliner. Große Zustimmung im Saal, Applaus.

Eine Kartoffelparty ist eine Feier im privaten Kreis anläßlich der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft. [Friederike Kapp]

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Apollo (Felix Gönnert, Generation Kplus Kurzfilm)
Deutschland 2010, Buch, Design: Felix Gönnert, Schnittberatung: Rudi Zieglmeier, Musik: Max Knoth, mit den Stimmen von Rudi Zylka, Cedric Ziouech, Hannah Pirot, Max Knoth, 6 Min.

Nachdem Felix Gönnert für Walter Moers dessen Adolf für einen zweiminütigen Videoclip computeranimieren durfte und er auch bei Lissi und der wilde Kaiser mitarbeitete, hat er sich wieder einem persönlicheren Projekt gewidmet, und in Apollo die Astronomie-Begeisterung seiner frühen Jugend thematisiert. Ein halbwüchsiger ist fasziniert von einem Raketenmodell in einem Schaufenster und stibitzt es kurzerhand, verfolgt vom Ladenbesitzer.

Aus dieser Prämisse holt Gönnert alles raus und beflügelt die Fantasie seiner Zuschauer mit einer Exkursion ins All, gekoppelt mit einem einfallsreichen Spiel mit Fermaten, dass die Raumfahrerei mit den alltäglichen Gefahren des Strassenverkehrs in Beziehung setzt, ohne didaktisch zu wirken.

Gute Kinderfilme zeichnen sich dadurch aus, dass sie (wie z. B. Yuki & Nina oder Knerten) dem Publikum nicht alles vorkauen, sondern es motivieren, die Logik einer Geschichte zu hinterfragen. Nichts ist langweiliger als eine Traumsequenz, die danach lang und schmutzig erklärt wird. Aber wenn man sich gar nicht so sicher ist, wo der Traum beginnt und die Realität endet, dann wird es interessant ...

Wie aufgeweckt junge Zuschauer sein können, zeigte das Q&A nach der Vorführung. Neben eher ermüdenden Fragen wie "Warum ist der Vorhang elektrisch?", "Warum sprechen die ausländischen Filmemacher kein Deutsch?" oder "Kann ich ein Autogramm haben?" gab es mindestens einen Knirps, der im Film Lucia aus Gönnerts Film von 2004 wiedererkannte. Und ein anderer wollte wissen, warum der Film mit einer Plakatwand endet, die ein überlebensgroßes Pin-Up zeigt, und der Regisseur bekam die Gelegenheit, seinem minderjährigen Publikum seine Vorliebe für die Good-Girl-Art von Gil Elvgren zu erklären. Da lernt man was fürs Leben ... [Thomas Vorwerk]

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Kawasakiho Růže (Jan Hřebejk, Panorama)
Int. Titel: Kawasaki's Rose, Tschechische Republik 2009, Buch: Petr Jarchovský, Kamera: Martin Šácha, Schnitt: Vladimir Barák, mit Lenka Vlasáková (Lucie), Milan Mikulčik (Ludék), Martin Huba (Pavel), Daniela Kolářová (Jana), Antonin Kratochvíl (Bořek), Anna Šimonová (Bára), Petra Hřebíčková (Radka), Ladislav Chudík (Kafka), Martin Schulz (Kristian), Ladislav Smoček (Dr. Pešek), Isao Onoda (Kawasaki), Vladimir Kulhavý (Chefarzt), Josef Pařenica (Dr. Šima), 100 Min.

Ein Mann, eine Frau. Eine Tochter, ein Schwiegersohn, eine Enkelin. Ein betrogener Freund. Ein Maler, der nicht mehr malt. Der Maler Kawasaki (Isao Onoda): Sinnbild für das Verstummen eines Menschen als persönliche Reaktion auf staatlichen Terror. Eine nicht-intentionale, grundlegende Weigerung, die erlebte und bezeugte Katastrophe zu übergehen, indem irgendetwas so sei wie zuvor.

Der Psychiater Dr. Pavel Josek (Martin Huba), ein angesehenes, sehr angesehenes Mitglied der Gesellschaft, fast ein Heiliger. Und, wie sich herausstellt, doch nur ein Scheinheiliger. Der während der staatlichen Repressionen nach dem Prager Frühling einen persönlichen Rivalen ans Messer geliefert hat, um an die Frau seiner Träume zu kommen. Können die guten Taten, all die Jahrzehnte als anständiger Mensch, das aufwiegen? Die Schizophrenie der Situation, das Andauern der Lüge als Lebensvoraussetzung.

Seine Frau Jana (Daniela Kolářová) hat sie mitgetragen, hat den Geliebten ans Messer geliefert und sich damit selbst gerettet. Hätte sie anders handeln können? Wenn ja, wären sie und ihr Kind dann heute noch am Leben?

Der Schwiegersohn Ludék (Milan Mikulčik), der als Toningenieur an einer Homestory über Dr. Josek mitarbeitet, deckt die ganze Sache auf. Er begibt sich auf eine Suche in die Vergangenheit, die kriminalistische Züge trägt.

Wie gut lebt es sich in der Lüge? Wem nützt die Wahrheit? Hilft sie dem Opfer, hilft sie dem Täter? Wird es dem angesehenen Mitglied der Gesellschaft gelingen, sich zu seiner Schuld zu bekennen? Sie zu akzeptieren? „Ich habe niemals jemandem geschadet.“

Kawasakiho Růže ist ein unglaublich spannender, atmosphärisch dichter Film. Keine Einstellung ist zuviel, kein Satz überflüssig. Die zentralen Fragen nach persönlicher Schuld, nach Versöhnung, nach Einsicht werden von verschiedenen Seiten beleuchtet, in vielen Handlungsfacetten reflektiert. Die Protagonisten sind mit Eigenheiten und Eigenleben ausgestattet, das in vielen kleinen Momenten zum Ausdruck kommt. Kamera und Schauspieler arbeiten hervorragend zusammen.

In dieser wohlanständigen Familie wird viel gelogen: Ludék verheimlicht seiner Frau die Affäre, die er mit einer Kollegin hat. Lucie verheimlicht ihrem Mann, wie krank sie ist. Jana verheimlicht ihrer Tochter (Anna Šimonová), wer ihr biologischer Vater ist. Alles ganz normale Lügen, wie sie in vielen Beziehungen vorkommen.

Neben den gewendeten Täter und den aufgewühlten Fahnder stellt das Drehbuch zwei weitere Figuren. Bořek (Antonin Kratochvíl), Lucies leiblicher Vater, wurde nach dem Verrat durch Pavel und Jana von den Schergen des Geheimdienstes zur Emigration gezwungen. Er ist nach Schweden gegangen, wo er für sich Frieden finden konnte. Kafka (Ladislav Chudík) war der Scherge. Er hat immer im Frieden mit sich selbst gelebt. In grausamer, fröhlicher Unverbesserlichkeit doziert er heute noch, als alter Mann, vor laufender Kamera über die Kunst des Verhörs.

Eine schöne dramatische Zuspitzung der Handlung ergibt sich aus dem Anlass der Homestory über Dr. Josek: Er ist nämlich für den – fiktiven – „National Memorial Award“ vorgesehen. Das erhöht die Spannung, die Brisanz der Vorwürfe, den Handlungsdruck für die Protagonisten.

Bei dem im Film erwähnten Preisträger Jan Wiener handelt es sich um eine reale Person. Während des Nationalsozialismus nach der Annektierung der Tschechoslowakischen Republik als Jude verfolgt, gelang ihm unter schwierigsten Bedingungen die Flucht. Nach Kriegsende kehrte er in die Tschechoslowakei zurück, wurde als Spion festgenommen und war mehrere Jahre interniert, bevor er schließlich in die USA emigrierte. Der amerikanische Regisseur Amir Bar-Lev setzte ihm 2000 mit dem sehenswerten Dokumentarfilm Fighter ein Denkmal. 2001 erhielt Wiener in Tschechien die Verdienstmedaille Za zásluhy, die seit 1995 jährlich vergeben wird und in etwa dem Bundesverdienstkreuz entspricht.

Wo Oskar Roehler mit Jud Süß – Film ohne Gewissen gescheitert ist, zeigen Jan Hřebejk und Petr Jarchovský mit Kawasakiho Růže, wie es geht. Ein eindrucksvoller, hervorragender Film. [Friederike Kapp]

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En familie (Pernille Fischer Christensen, Wettbewerb)
Int. Titel: A Family, Dänemark 2010, Buch: Kim Fupz Aakeson, Pernille Fischer Christensen, Kamera: Jakob Ihre, Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud, Production Design: Rasmus Thjellesen, mit Jesper Christensen (Rikard Rheinwald), Lene Maria Christensen (Ditte), Anne Louise Hassing (Sanne), Johan Philip Asbæk (Peter), Line Kruse (Chrisser), Gustav Fischer Kjærulff (Vimmer), Coco Hjardemaal (Line), 102 Min.

Als Pernille Fischer Christensen das letzte Mal auf der Berlinale war, gewann sie mit ihrem Film En soap einen Silbernen Bären und den Preis für das beste Regiedebüt. Jetzt hat man sie wieder eingeladen (die übliche Vetternwirtschaft im Wettbewerb), doch auf der Pressekonferenz war man bereits überfordert, auf ihren Namen zu kommen. Nach En soap folgt jetzt En familie, der Filmtitel ist Programm, und Thema Familie ist auf der Berlinale allgegenwärtig (siehe auch Cinemania 68).
Der Film beginnt mit einer schön auf alt getrimmten Familienhistorie (vom Design her wie eine Mischung aus Butch Cassidy and the Sundance Kid und Where the Wild Things Are), in der man vieles über die Rheinwalds erfährt. Wie der Opa mit einem geschulterten Sack Mehl aus Deutschland nach Dänemark kam, und man es unter der Führung des aktuellen Patriarchen Rikard (Jesper Christensen) bis hin zum königlichen Hoflieferanten und einer 19 Mehlsorten umfassenden Produktpalette brachte. Man erfährt auch etwas über die jüngste Generation, Ditte und Chrisser aus Rikards erster Ehe, und die zwei jüngeren Kinder Line und Vimmer, die er gemeinsam mit seiner ehemaligen Bäckerkollegin Sanne aufzieht. Zu Beginn des Films erfährt Rikard, dass seine Chemotherapie angeschlagen hat und sämtliche Spuren einer Krebserkrankung aus seinem Körper verbannt wurden. Grund genug für ihn, sich endlich zur Hochzeit mit Sanne zu entscheiden. Das läuft dann so: "Wir heiraten." (Punkt.) Sie zögerlich: "Stell mir einen ordentlichen Antrag!" Wird gemacht: "blabla blabla blabla - ja oder nein?" Der ewige Romantiker und Co-Autor Kim Fupz Aakeson (siehe auch En ganske snill mann) hätte den kompletten Wettbewerb des 14. Februar für sich bekommen sollen.
Ein inhärentes Konstruktionsprinzip dieses Films (auch eine Spezialität Aakesons) ist die tragische Ironie. Mit den guten Nachrichten kommen oft auch die schlechten, und wenn man eine Entscheidung trifft, kann man sie danach nicht immer wieder zurücknehmen. Rikard, dessen Krebs ungeachtet der krankenhäuslichen Freischeine wieder zurückkommt, hat nach der Entscheidung, seinen Lebensabend mit der Frau, die er liebt, zu verbringen, plötzlich mit Sanne einige Probleme - und er muss sich auch noch um seinen Familienbetrieb und dessen Zukunft kümmern, denn die Kinder sind daran kaum interessiert.
Auch die "gute" Tochter Ditte (Lene Maria Christensen, reiner Zufall, dass die Regisseurin und ihre zwei Hauptdarsteller alle den selben Nachnamen haben) muss zu Beginn des Films eine Entscheidung fällen. Innerhalb weniger Tage erfährt sie zunächst, dass sie einen großartigen Job in New York antreten kann, nach dem es nur noch ein kleiner Schritt zur eigenen Galerie wäre (Dittes Mann Peter ist ein Künstler, der auch vom Umzug profitieren würde), und dann stellt sie auch noch fest, dass sie schwanger ist. Ich will an dieser Stelle nicht alles ausplaudern, aber die Statusmeldungen von Rikards Krebserkrankungen könnten kaum zu unpassenderen Momenten kommen, die kleinen Probleme bauschen sich gegenseitig auf.
Die Art und Weise, wie Rikard und Ditte eigenmächtig die Entscheidungen fällen, weist die selben Parallelen auf wie die daraus entstehenden Probleme in ihren Beziehungen. Die tragische Ironie und das Zusammenspiel von guten und schlechten Nachrichten ist für Rikard auch Anlass für die Küchenphilosophie des Bäckerhandwerks ("the rough and the smooth" - grobes und feines Mehl), genau wie die USA für ihn vor allem für Donuts und Bagels stehen, im übertragenen Sinne also für den Untergang der westlichen (Bäcker-) Gesellschaft.
Die Dänen sind die Meister der Tragikomödie und der existentiellen Fragen, die in alltäglichen Situationen beantwortet werden müssen. Regisseurin Pernille Fischer Christensen arbeitete eigene Erfahrungen mit Krankheiten ins Skript ein, und versucht, das "kollektive Gedächtnis" des Kinopublikums durch individuelle Schicksale in die Geschichte einzubinden. Das hat bei vielen Zuschauern auch sehr gut funktioniert, doch ich für meinen Fall fand die einerseits recht konstruierte Grundsituation nur schwer vereinbar mit dem gleichzeitigen Realismus-Anspruch der Inszenierung (man hat beispielsweise im Regen gedreht, wenn es regnete, oder bei Sonnenschein, wenn das Wetter gut war - unabhängig von den jeweiligen Szenen), was an meiner diametral zu den Problemen des Films ausgelegten Mentalität gelegen haben mag. Dennoch weiß man natürlich einen Film wie diesen für seine Ansätze zu schätzen, und sowohl die erste Hälfte des Drehbuchs als auch die Darstellerleistungen verdienen große Anerkennung. Ein Film, dessen Sperrigkeit einfach dazu gehört, eine moderne Variation der klassischen griechischen Tragödie (obwohl es eher eine Tragikomödie ist), angereichert mit Dogma-Elementen. [Thomas Vorwerk]

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Shahada (Burhan Qurbani, Wettbewerb)
Int. Titel: Faith, Deutschland 2010, Buch: Burhan Qurbani, Ole Ciec, Kamera: Yoshi Heimrath, Schnitt: Simon Blasi, Musik: Daniel Sus, mit Maryam Zaree (Maryam), Jeremias Acheamping (Samir), Carlo Ljubek (Ismail), Marjia Škaricic (Leyla), Sergei Moya (Daniel), Vedat Erincin (Vedat), Anne Ratte-Polle (Sarah), Nora Abdel Maksoud (Renan), Burak Yigit (Sinan), Yollette Thomas (Amira), Alexandros “Alexi” Gehrckens (Kinay), Gerdi Zint (Rainer), 88 Min.

Der Türsteher will Maryam (Maryam Zaree) und Renan (Nora Abdel Maksoud) nicht in den Club lassen, weil sie zu jung sind. „Laßt euch erst mal Muschihaare wachsen“, formuliert er charmant. Das läßt Renan nicht auf sich sitzen. „Ey, wir Türkinnen haben die Muschihaare erfunden!“ Maryam wählt unterdessen 110 auf ihrem Handy, um den Türsteher wegen angeblicher Gewalt gegen Frauen anzuzeigen. Der gibt genervt nach, die Mädels entern den Club. „Ich muß gar nichts, außer schlafen, trinken, atmen und ficken“, rappt eine junge Frauenstimme aus den Lautsprechern. Im Laufe des Abends erleidet Maryam auf der Toilette des Clubs eine Fehlgeburt, die, wie wir erfahren werden, mit illegal verschafften Medikamenten absichtlich herbeigeführt wurde. Westlicher, integrierter kann eine junge Migrantin offensichtlich nicht sein.

In fünf mit Zwischentiteln – einer Liste der „fünf Säulen“ des Islam – abgeteilten Kapiteln erzählt der Film parallel drei Geschichten, die nur lose miteinander verknüpft sind. Im Zentrum steht die Geschichte von Maryam. Nach der Abtreibung durch heftige Nachblutungen geängstigt, glaubt sie, daß Gott sie bestrafen will, und vollzieht eine zunehmende Hinwendung zum orthodoxen Islam.

Die zweite Geschichte dreht sich um das Leben von Ismail (Carlo Ljubek), einem deutschtürkischen Polizisten, der mit seiner deutschen Freundin (Anne Ratte-Polle) und dem gemeinsamen Sohn Kinay (Alexandros „Alexi“ Gehrckens) ein säkulares bürgerliches Leben führt. Sein Gewissen plagt ihn, weil er vor Jahren bei einer Festnahme eine Unbeteiligte (Marjia Škaricic) angeschossen hat. Als er sie bei einer Razzia auf dem Großmarkt wiedersieht, läßt er sie trotz fehlender Aufenthaltsgenehmigung laufen und sucht in der Folge den Kontakt zu ihr, der in eine heimliche Liebesbeziehung mündet.

Auf nämlichem Großmarkt arbeiten auch der alltagsfromme Samir (Jeremias Acheampong) und seine Mutter (Yollette Thomas). Samir ist ein besonnener junger Mann, der nur ein Problem hat: Er fühlt sich zu seinem Arbeitskollegen Daniel (Sergei Moya) hingezogen, was er nicht akzeptieren kann. Verbietet der Islam nicht homosexuelle Beziehungen? Er sucht den Rat des Imams.

Der Imam Vedat (Vedat Erincin) ist zugleich Maryams Vater. Ein frommer Mann, ein toleranter Muslim, ein weiser geistlicher Führer. Allah ist Liebe, und vor Allah ist jede Art der Liebe gut. Das ist die Botschaft, die er nicht müde wird zu verkünden. Sie verhallt ungehört.

Die Hauptfiguren befinden sich in einem Konflikt zwischen existentiellen spirituellen Fragen und westlichem Lebensstil. In der Moschee trifft sich eine Community, die sich anscheinend selbst genügt. Die Verbindungen in die Mehrheitsgesellschaft scheinen fakultativ. Lösungen werden nicht angeboten, das zugrundeliegende antagonistische Postulat weder aufgedeckt noch in Frage gestellt. Und je mehr die Geschichte sich ihrem Ende zuneigt, desto mehr Moral, desto weniger Geschicht’. Desto mehr verdrängt das Dozieren per Voice-over die Handlung. Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube. Oder auch mal umgekehrt. [Friederike Kapp]


Demnächst in Cinemania 67 (Drei Chinesen mit dem Kontrabass):
Asiatische Berlinale-Beiträge wie Kanikosen, San qiang pai an jing qi (A Woman, a Gun and a Noodle Shop), Tuan Yuan (Apart Together), Yi yè Tái bei (Au revoir, Taipei) oder You yi tian (One Day).