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Bildmaterial © Concorde Filmverleih GmbH
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Mr. Nobody
(R: Jaco Van Dormael)
Kanada / Belgien / Frankreich / Deutschland 2009, Buch: Jaco Van Dormael, Kamera: Christophe Beaucarne, Schnitt: Matyas Veress, Co-Editor: Susan Shipton, Musik: Pierre van Dormael, Kostüme: Ulla Gothe, Consultants for the Future: François Schuiten, Benoit Peeters, mit Jared Leto (Nemo Nobody adult / Nemo Nobody aged 118), Diane Kruger (Anna / Anna #2), Sarah Polley (Elise), Linh-Dan Pham (Jean), Rhys Ifans (Nemo’s Father), Natasha Little (Nemo’s Mother), Toby Regbo (Nemo age 16), Juno Temple (Anna age 15), Clare Stone (Elise age 15), Audrey Giacomini (Jean age 15), Thomas Byrne (Nemo age 9), Léa Thonus (Elise age 9), Anaïs Van Belle (Jean age 9), Laura Brumagne (Anna age 9), Noa De Costanzo (Nemo age 5), Robin Carette (Nemo 18 months old), Allan Corduner (Dr. Feldheim), Daniel Mays (Young journalist), Ben Mansfield (Stefano), Michael Riley (Harry), Harold Manning (TV host), Roline Skehan (Joyce), Jaco Van Dormael (Unemployed Brazilian man), Pascal Duquenne (Henry), Juliette Van Dormael (Angel of Oblivion 2), 138 Min., Kinostart: 8. Juli 2010
In seiner Kritik im neuen epd-Film macht Kai Mihm mit Jaco van Dormaels Mr. Nobody kurzen Prozess: vom “wenig subtilen Namen des Protagonisten” (Nemo Nobody) über den “bedeutungsschwangeren Gestus” lässt er kaum ein gutes Haar an der Produktion, die er zwar “handwerklich beachtlich” findet, dieses aber im gleichen Satz gänzlich am Budget von über 30 Mio. Euro festmacht. Die “hübsch anzusehende Pastiche” macht am Ende “nicht wirklich Sinn” und die Ästhetik changiert “irgendwo zwischen dem Surrealismus von David Lynch und der gefälligen Niedlichkeit von Die fabelhafte Welt der Amélie”.
Selbst, wenn man diesen letzten Kritikpunkt ohne Widerstand übernehmen würde, übersieht Mihm offenbar, dass dieser Spagat eine nicht nur handwerklich beachtliche Leistung darstellt. An David Lynch erinnert bei Dormael noch am ehesten die Darstellung eines primärfarbenen Suburbia, wie wir sie neben Blue Velvet auch aus Pleasantville, Edward Scissorhands oder eben Toto le héros kennen - wobei aber die verschachtelte Narration weniger einer (wie bei Lynch) traumatisierten Psyche nachempfunden ist, sondern nostaligisch gefärbten Kindheitserinnerungen, die durchaus im Widerspruch zum weiteren, futuristisch antiseptischen Leben des Protagonisten steht, der in einer Interview-Situation, die an Arthur Penns Little Big Man erinnert (Nobody ist mittlerweile mit 117 bzw 118 Jahren der “letzte Sterbliche”), und die sich durchaus (wie Kai Mihm attestiert) bei 2001 oder The Matrix bedient, dies aber vorwiegend, um der eigentlichen Geschichte des Films, die sich keinen wirklichen Deut um Science Fiction kümmert, ein größeres Zielpublikum zu erschwindeln - das sich dann, so meine Prognose, nicht einmal darüber beschweren wird, dass Mr. Nobody (sicher ein prätentiöser Filmtitel - aber auch einer, der neugierig macht) eben kein SF-Streifen ist, auch wenn die Spezialeffekte beeindruckend sind (die belgischen Comickünstler Benoit Peeters und François Schuiten arbeiteten an dieser Vision mit).
In den 13 Jahren, die van Dormael vor allem am Drehbuch des Films gearbeitet hat (er schildert dies in einem Interview glaubhaft als langwierigen kontinuierlichen Arbeitsprozess), kamen vor allem viele Filme heraus, die das “Work-in-Progress” im direkten Vergleich immer wieder zurückwarfen. Doch van Dormael verstand dieses wiederholte Scheitern im Wettstreit mit dem Weltkino als Chance, und entdeckte in Filmen wie Lola rennt, Amélie, Vanilla Sky oder The Matrix vor allem Inspirationen. Der Film nimmt sich einerseits Zeit für Ehrerweisungen an Filmklassikern (Strangers on a Train, Sunset Boulevard, 2001, Harold and Maude), aber bei allem, was auf den Kinoleinwänden seit van Dormaels letztem Film 1996 auftauchte, kann man wohl kaum von geistigem Diebstahl (übrigens nicht Mihms Worte!) reden, sondern - und hier muss ich mich wiederholen - von Inspiration. Denn Mr. Nobody hat einige clevere Ideen, für die Tykwer, Jeunet, die Wachowskis und viele andere heutzutage mindestens einen Finger hergeben würden. Die Farbdramaturgie des Films ist so einfach wie subtil (drei Mädchen = drei Typen, drei Haarfarben, drei Primärfarben), wenn van Dormael wie nebenbei mal die Kamera “durch” einen Spiegel fahren lässt, werden dies 80% der Zuschauer nicht einmal merken, und auch wenn der Vergleich mit Amélie nicht von der Hand zu weisen ist (ich habe ihn selbst bereits in einer früheren Kritik benutzt), so bleibt der Film nicht annähernd so “niedlich”, lässt beispielsweise Sarah Polley ergreifend eine manisch-depressive Mutter darstellen oder gibt Einblicke auf das Schicksal einer Bettlerin, die schon eine Spur weitergehen als die “flash-forwards” und die Rolle Joachim Krols in Lola rennt.
Zugegeben, der Film hat in seiner komplizierten Erzählstruktur einige Fehler, die man aber erst nach dem Film (und seiner Auflösung) diskutieren kann. Doch sie tun dem Vergnügen an dieser cineastischen Wundertüte keinen Abbruch. Mr. Nobody bietet unwiederbringliche große Kinomomente, wie man sie manchmal in einem ganzen Kinojahr kaum zusammenbekommt. Und Regisseur Jaco van Dormael ist dabei ein Meister aller filmsprachlichen Mittel. Schon der Einsatz eines kurzen Freeze-Frames im Vorspann ist wahrscheinlich nur für solche Zuschauer interessant, die sich mit solchen Spielereien gerne auch etwas länger befassen, und wenn man diesen Film das erste Mal betrachte, möchte man oft auf die Pausetaste drücken, zwischendurch noch mal was nachschauen, was zuvor passierte und so weiter. Außer vielleicht Kai Mihm, für den dieser Film offenbar gedehnte Langeweile darstellt. Und da verstehe ich ihn nicht und bemitleide ihn ein wenig. Denn wer diesen Film schon öde findet, der sollte eigentlich gar nicht mehr ins Kino gehen (oder nur noch zu Wiederaufführungen von alten Klassikern).
Einige großartige Momente von Mr. Nobody
(nach Sichtung des Films vergleichen)
- Der Vorspann: Problemlösung als Einstiegsthema.
- Wenn man hinfällt, ist das nicht immer witzig.
- Der Fall eines Regentropfens.
- Die Kreiselbewegung auf einer Bühne, die weder Theater noch Kino ist (und trotzdem irgendwie auch beides).
- Gespräch über die Qualität von Schnürsenkeln.
- Die kleinen Schilder im Hintergrund (Chance, Give way).
- Die Fahrräder im All, die roten Autos auf der Erde.
- Gastauftritt des Regisseurs als brasilianischer Arbeitsloser.
- Die Musikeinsätze (u. a. Everyday von Buddy Holly, mindestens 4x Mr. Sandman, Sweet Dreams von den Eurythmics, Where is my Mind? von den Pixies).