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7. Januar 2011
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Heartless (R: Philip Ridley)
Heartless (R: Philip Ridley)
Heartless (R: Philip Ridley)
Bildmaterial © Senator Film Verleih
Heartless (R: Philip Ridley)
Heartless (R: Philip Ridley)
Heartless (R: Philip Ridley)
Heartless (R: Philip Ridley)


Heartless
(R: Philip Ridley)

UK 2010, Buch, Songtexte: Philip Ridley, Kamera: Matt Gray, Schnitt: Chris Gill, Paul Knight, Musik: David Julyan, Production Design: Ricky Eyres, Kostüme: Jo Thompson, mit Jim Sturgess (Jamie Morgan), Clémence Poésy (Tia), Timothy Spall (George Morgan), Noel Clarke (A.J.), Ruth Sheen (Marion Morgan), Luke Treadaway (Lee Morgan), Justin Salinger (Raymond Morgan), Fraser Ayres (Vinnie), Joseph Mawle (Papa B), Eddie Marsan (Weapons Man), 114 Min., DVD-/ BD-Start: 5. Januar 2011

Déjà Vu und Nostalgie-Alarm. Nach Jaco Van Dormaels Mr. Nobody ist Heartless von Philip Ridley innerhalb eines Jahres das zweite Comeback eines Regie-Wunderkinds vergangener Jahrzehnte, das man bereits für immer verloren wähnte. Und der Film machte trotz einiger offensichtlichen Knack-Punkte, an denen die findigen Kritiker-Kollegen ihren erbarmungslosen Meißel ansetzen werden (mit oder ohne Vorschlaghammer) auf mich einen ähnlich positiven Eindruck wie Mr. Nobody (der auch nicht überall mit Samthandschuhen angefasst wurde). Was erneut auch mit dem früheren Werk des Regisseurs zusammenhängt, in diesem Fall also dem überragenden The Reflecting Skin (dt.: Schrei in der Stille, 1990), dessen Themen sich größtenteils in Heartless wiederfinden. Und statt jetzt die Story von Heartless detailliert wiederzugeben und / oder auseinanderzunehmen (»Geben und Nehmen« ist nicht immer eine Tugend), werde ich mich an der Gestalt von The Reflecting Skin abarbeiten, und darüber mein Wohlgefallen in hoffentlich ausreichendem Maße erklären.

In The Reflecting Skin geht es um den Jungen Seth, der irgendwo im amerikanischen Mittelwesten der 50er Jahre inmitten wogender Kornfelder seine Jugend verbringt. Was den Schauplatz angeht, könnte der im (größtenteils nächtlichen) East London spielende Heartless also kaum weiter entfernt sein. Seth ist (angesichts seines Alters verständlicherweise) verwirrt über einige tragische reale Ereignisse und seine Fantasievorstellung, eine Nachbarin könnte ein Vampir sein. Diese Überlappung von schrecklichen realen Vorkommnissen mit einem übernatürlichen Plot-Twist (Aliens? Dämonen? wird hier nicht verraten) findet sich auch in Heartless wieder.

In The Reflecting Skin geht es neben Seth auch um dessen erwachsenen Bruder Cameron (Viggo Mortensen), der nach seinem Kriegseinsatz ähnliche psychische Narben trägt wie in Heartless die Hauptfigur Jamie (Jim Sturgess) einen physischen Makel - ein handflächengroßes herzförmiges Muttermal mitten im Gesicht. Die beiden erwachsenen Männer sehnen sich jeweils nach einer Liebesbeziehung, die auch in beiden Fällen zustande kommt. Doch Philip Ridley stellt diese Beziehung in beiden Fällen unter ungünstige Vorzeichen, wobei jeweils der jüngere Bruder eine wichtige Rolle spielt.

Die vielleicht auffallendste Verbindung zwischen den beiden Filmen will ich an dieser Stelle mal sehr vage umschreiben: sowohl Seth als auch Jamie werden Zeuge, wie ein Familienmitglied auf sehr dramatische Weise stirbt (wobei die Inszenierung hier erneut in unterschiedliche Extreme geht).

In beiden Filmen (Ridleys »mittleren« dritten Spielfilm, The Passion of Darkly Noon von 1995, kenne ich leider nicht) arbeitet Ridley mit starken Bildern (weshalb es auch sehr schade ist, dass Heartless in Deutschland nur einen DVD-Start erfährt - der Presse wurde er immerhin auf der Kinoleinwand vorgeführt) und baut eine dichte Atmosphäre auf - wozu übrigens auch das Tondesign mit seinen tierähnlichen Schreien einiges beiträgt (wenn ich den Film auf DVD gesehen hätte, hätte ich wahrscheinlich den Ton herabgemindert und dadurch die Wirkung zunichte gemacht - Lasst den Nachbarn ruhig teilhaben an eurem Filmerlebnis und dreht den Lautstärkeregler hoch!)

Kurzes Zwischenspiel: Ridley ist zwischen seinen Filmen übrigens nicht »verschwunden«, sondern er ist als Fotograf, und Autor von Theaterstücken und Kinderbüchern in England wohl ebenso bekannt wie aktiv. Je eines seiner thematisch doch recht unterschiedlichen literarischen Werke habe ich gelesen (weitere Kinderbücher sind zu mir unterwegs), und sie haben mir ebenfalls gefallen. Und auch, wenn der Titel des einen Theaterstücks nichts mit dem berühmten »Uncle Walt« zu tun hat, ist der Titel dieses Buches, The Pitchfork Disney, eine ziemlich gute Umschreibung einiger Eckdaten, die man auch bei Heartless wiederfindet. Ridley mischt nämlich eine mitunter kitschige Märchenwelt, wie sie auch von Walt Disney stammen könnte, mit einem teuflischen Untergrund (es krabbelt und wabert in der Erde wie bei David Lynchs Blue Velvet, an dessen Affinität zu Primärfarben man schon in The Reflecting Skin erinnert wurde).

Das Kernstück der Handlung von Heartless verbindet das Märchenhafte mit dem »Pakt mit dem Teufel«, wie er in Märchen wie Rumpelstilzchen ja auch ohne Probleme wiederzufinden ist. Auch hier ist man sich nicht sicher, ob die Person, mit der Jamie einen Deal eingeht, ihm wirklich helfen will, oder ob er sich durch seine Gegenleistung (Shakespeare lässt grüßen!) bereits selbst verdammt.

Die bedrückende Stimmung des Films geht Hand in Hand mit einigen erstaunlich komischen Szenen (s. a. Blue Velvet) wie dem Auftritt von Eddie Marsan als »Weapons Man«. Für mich war Heartless ein großes Kinoerlebnis, nur weil Ridley gegen Ende ein bisschen mehr erklärt, als nötig gewesen wäre, kann dies nicht zunichte machen. Ich kann mir auch vorstellen, dass einiges am Film eine geschickte Konzession des Regisseurs an die Geldgeber war, denn im Grunde findet sich der Film ziemlich in der Mitte zwischen Filmkunst und Horror, mit dem Manko, dass er den Puristen aus beiden Lagern zu sehr in die »falsche« Richtung gehen könnte. Und das bringt natürlich auch Probleme bei der Vermarktung (siehe DVD-Start), weshalb die Horror-Elemente und die »Story« stärker ausdefiniert wurden, als es dem Film manchmal gut tut. Diese Zerrissenheit könnte das größte Problem des Films sein, doch mir persönlich gefällt diese Mixtur (im Gegensatz zum im weitesten Sinne ähnlich »zerrissenen« Antichrist von Lars von Trier). Ich mag kitschige Liebe, dunkle Abgründe, Horror, Humor - und sogar die ins Religiöse abdriftenden Elemente des Film gefallen mir. Ich liebe den Film nicht trotz, sondern eher wegen seiner Makel!