UK 2011, Buch: Abi Morgan, Steve McQueen, Kamera: Sean Bobbitt, Schnitt: Joe Walker, Musik: Harry Escott, mit Michael Fassbender (Brendan Sullivan), Carey Mulligan (Sissy), James Badge Dale (David Fisher), Nicole Beharie (Marianne), Lucy Walters (Woman on Subway Train), Mari-Ange Ramirez (Alexa), Lauren Tyrrell (Hostess), Alex Manette (Steven), Hannaha Ware (Samantha), Elizabeth Masucci (Elizabeth), Rachel Farrar (Rachel), Loren Omer (Loren), 101 Min., Kinostart: 1. März 2012
Als der Brite Steve McQueen, der zuvor mit filmischen Installationen im musealen Umfeld auftrat, mit Hunger sein Debüt als Spielfilmregisseur ablieferte, wirkte der Film widerborstig, sperrig und kompromisslos. Als hätte jemand in Einstellungen von mehreren Minuten Exkremente auf eine Leinwand geschmiert. Auf eine Kinoleinwand.
Sein zweiter Film Shame ist zwar noch weit davon entfernt, ein Mainstream-Publikum anzusprechen, aber das Thema (Sex), die Location (New York) und die Besetzung (neben dem seit Hunger zum veritablen Star avancierten Michael Fassbender die Überfliegerin Carey Mulligan) rücken McQueen vom Außenseiter-Status direkt ins Scheinwerferlicht, er kann schon jetzt als eine der großen Regiehoffnungen der 10er Jahre betrachtet werden.
Noch wichtiger als solche Oberflächlichkeiten ist aber, dass McQueen nach seinem Debüt, das bereits eine bemerkenswerte Beherrschung des Mediums Film demonstrierte, nun in Shame inszenatorisch und filmsprachlich noch einen draufsetzt.
Wie sich für den Betrachter die Chronologie einer zunächst fragmentarisch bis mysteriösen Montagen ganz langsam erschließt, wie der Alltag des Brendan Sullivan (Fassbender) sich aus zeitlos wirkenden Vignetten Stück für Stück zusammensetzt, sich in Job, in der Wohnung und im Gewühl der Stadt ein Muster herausstellt, dessen kleine Geheimnisse das Interesse des Publikums binden, bis sich dann doch kein Aha-Erlebnis, sondern eine fortschreitende Verstörung des Zuschauers einstellt, das ist nicht weniger als eine Meisterschaft der Möglichkeiten, an die ein Großteil der mit Regie-Oscars ausgezeichneten, teilweise seit Jahrzehnten im Metier tätigen Handwerker nicht einmal heranreichen.
McQueen arbeitet mit Stille, mit Geräuschen, mit Musik; mit komplizierten Plansequenzen, herkömmlichen Continuity-Editing oder mit Bilderstürmen, in denen ein gutes Dutzend Einstellungen von ein bis zwei Frames wie ein visueller Platzregen auf das Publikum herabstürzen. Und das alles zur Unterstützung seiner Inhalte, nicht als bloße Angeberei eines Kindskopfs, der über Nacht im Spielzeugladen eingesperrt wurde und nun mal alles ausprobiert.
Shame brilliert mit einem Montage-Rhythmus, der sich über narrative Muster und Konventionen hinwegsetzt und sein eigenes Kino erfindet, so wie es in letzter Zeit nur Filmen wie Elephant oder (mit Einschränkungen) The Social Network gelang. Eine Stimme auf dem Anrufbeantworter, die immer wieder (vergehen Stunden? Tage? Monate?) »Hey, it's me. Pick up. Pick up!« ruft, bevor die Stimme dann irgendwann ein Gesicht bekommt, und man erfährt, wer die Person ist (eine Stalkerin? Die Exfrau?). Inszeniertes Begehren Hand in hand mit routinierter Leere, menschlichen und sexuellen Abgründen. Ganz großes Tennis!
Doch dann kommt leider ein winziger Moment, eine kleine Dialogzeile, die wie eine Reihe von Toastbroten, die man anstelle von Ziegelsteinen in der tragenden Wand eines mehrstöckigen Hauses verwendet hat, das ganze hübsche Gebäude ins Wanken bringt.
Denn wo der Film zu Beginn den Zuschauer fordert und dadurch seine Kraft entwickelt, da scheint gegen Ende jemand der Meinung gewesen zu sein, dass man zumindest den Ansatz einer Erklärung braucht, warum Brandon und Sissy (Carey Mulligan) sich so verhalten. Und dieser »Ansatz einer Erklärung« ist dann leider so offensichtlich (und dabei klischeebelastet), dass man fast vergisst, wie wunderschön und exotisch es war, über eine Stunde lang zuzuschauen, wie ein filmisches Meisterwerk Stück für Stück aufgebaut wurde, ehe es wie ein Yenga-Turm in sich zusammenstürzte.
Doch ein Scheitern von Steve McQueen im Kinosessel mitzuerleben ist immer noch zehnmal befriedigender als beispielsweise der beste Film, den Steven Spielberg, Ron Howard oder Martin Scorsese in den letzten zehn Jahren gedreht hat. Also: hingehen, staunen und gegen Ende ein bisschen enttäuscht sein, aber darüber nicht vergessen, was für ein großartiges Meisterwerk Shamebeinahe geworden wäre.
Und beim nächsten Film wird das Toastbrot weggeschlossen.