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21. März 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die Tribute von Panem (Gary Ross)
Die Tribute von Panem (Gary Ross)
Bildmaterial: STUDIOCANAL Filmverleih
Die Tribute von Panem (Gary Ross)
Die Tribute von Panem (Gary Ross)
Die Tribute von Panem (Gary Ross)


Die Tribute von Panem
(Gary Ross)

Originaltitel: The Hunger Games, USA 2012, Buch: Gary Ross, Suzanne Collins, Billy Ray, Lit. Vorlage: Suzanne Collins, Kamera: Tom Stern, Schnitt: Stephen Mirrione, Juliette Welfling, Musik: James Newton Howard, T-Bone Burnett, Kostüme: Judianna Makovsky, mit Jennifer Lawrence (Katniss Everdeen), Josh Hutcherson (Peeta Mellark), Woody Harrelson (Haymitch Abernathy), Stanley Tucci (Caesar Flickerman), Liam Hemsworth (Gale Hawthorne), Elizabeth Banks (Effie Trinket), Wes Bentley (Seneca Crane), Lenny Kravitz (Cinna), Donald Sutherland (President Coriolanus Snow), Toby Jones (Claudius Templesmith), Amandla Stenberg (Rue [District 11]), Willow Shields (Primrose Everdeen), Alexander Ludwig (Cato [District 2]), Isabelle Fuhrman (Clove [District 2]), Dayo Okeniyi (Thresh [District 11]), Leven Rambin (Glimmer [District 1]), Jack Quaid (Marvel [District 1]), Jacqueline Emerson (Foxface [District 5]), Paula Malcomson (Katniss' Mother), 142 Min., Kinostart: 22. März 2012

In The Salmon under my Sweater, der zehnten Folge der zweiten Staffel von Two and a Half Men, soll der elfjährige Jake für den Unterricht William Goldings Lord of the Flies lesen, und wie so oft drückt er sich. Sein Vater versucht mehrfach herauszubekommen, wie weit er mit der Lektüre ist, und ein Dialog gestaltet sich wie folgt:

Jake: »Lord of the Flies is kind of like Survivor, but with kids.«
Alan: »Huh – that's an interesting analogy. What's your favorite part?«
Jake: »Um... when the first kid gets voted of the island...?«

Dass Casting-Shows für die heutige Jugend wichtiger sind als Literatur, ist symptomatisch, und offensichtlich reagiert die Unterhaltungsbranche darauf.

The Hunger Games spielt in einer Zukunft, in der der nordamerikanische Kontinent von einem totalitären Regime geleitet wird. Die Hauptstadt heißt Panem (wie in »panem et circensis« = Brot und Spiele), und um die die bereits einmal aufständisch gewordenen Unterdistrikte gefügig zu halten, werden einmal im Jahr (zum 74. Mal übrigens) die »Hunger Games« ausgetragen, ein aus PR- / Propaganda-Hinsicht selten idiotischer Name, denn er erinnert die Unterdrückten an ihr Problem. Aus jedem der zwölf Distrikte werden ein Junge und ein Mädchen im Alter von 12 bis 18 (die Zielgruppe des Films) ausgelost, die sich dann gegenseitig umbringen, und der eine Gewinner (oder die Gewinnerin) wird dann reich beschenkt, was sich das Regime als Großzügigkeit auslegt.

Die Polizeikräfte sehen aus wie die Feuerwehrmänner in Fahrenheit 451 oder die imperialen Sturmtruppen aus Star Wars, die staatliche Reaktion auf Hungersnot und zivilen Ungehorsam erinnert an Soylent Green, die audiovisuelle Gehirnwäsche funktioniert wie in 1984 über »Public-Viewing«-Leinwände, die allgegenwärtigen Kameras hingegen bleiben nahezu unsichtbar. Doch auch wenn aus so ungefähr jedem SF-Roman oder -Film des letzten Dreivierteljahrhunderts geklaut wird, und man sich mit klassischen (also lateinischen) Namen wie Seneca, Claudius oder Cornucopia (die Namenswahl ist ähnlich tiefgründig wie bei »Panem«) schmückt, die Dramaturgie ist größtenteils Casting-Shows entlehnt. Stanley Tucci spielt einen schleimigen Dauergrinser wie Dieter Bohlen (aber mit einer Frisur wie Marge Simpson), die 24 »Tribute« buhlen um das Publikum (bzw. um »Sponsoren«), kämpfen gegeneinander, und tun auch mal so, als sei man ineinander verliebt. Und das Regime unterscheidet sich in seiner Flexibilität der Spielregeln nur soweit von RTL, dass man dem Fernsehsender meines Wissens bisher noch keine hinterhältige Tötung zur Maximierung der Einschaltquoten nachweisen konnte – und dass das Interessanteste an Big Brother und Dschungelcamp, die manipulative Montage, in diesem Film nicht thematisiert wird. Sogar das penetrante Beharren auf Countdowns hat man übernommen und kommt dadurch auf fast zweieinhalb Stunden Lauflänge (Gewinnmaximierung durch Überlänge und mehr Werbepausen bei der späteren Fernsehausstrahlung).

Was das Ganze aber wirklich ärgerlich macht, sind die Details, die diesmal noch stärker als bei Harry Potter oder Twilight aufs Zielpublikum zugeschnitten sind. Bis auf wenige Ausnahmen werden alle Erwachsenen im Film der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Bewohner der Hauptstadt kleiden sich protzig und absurd (Elizabeth Banks sticht hier mit Leichtigkeit Helena Bonham-Carter als Herzkönigin in Alice in Wonderland aus) und pflegen einen hedonistisch-stupiden Lebensstil. Man ergötzt sich an den Spektakeln (einen Einblick, was die Panemer in den anderen elfeinhalb Monaten des Jahres so treiben, erhält man nicht), und wenn ich nicht etwas Grundlegendes übersehen habe, beteiligt sich der Nachwuchs der Stadt (den es ja auch geben müsste, aber vielleicht wird das nur im Roman erklärt) nicht bei dieser Zurschaustellung, die Gegensätze »Erwachsene sind doof oder gemein« und »Teenager müssen um ihr Leben kämpfen« sind offensichtlich. Noch schlimmer wird es dann durch die Art und Weise, wie Hauptfigur Katniss (Jennifer Lawrence) ihren Überlebenskampf gestaltet. Sie ist im Einklang mit der Natur, talentiert und gewitzt, aber auch etwas rebellisch. Soweit komplett in Ordnung. Doch bei allem brutalen Gemetzel um sie herum (das der Film durch Wackelkamera und Stakkatoschnitt kaschiert, um die Freigabe ab 12 zu bekommen) hat sie aber dennoch Zeit, um mit einem Schmetterling zu spielen, ein Lied zu singen oder für eine gefallene kleine Freundin Blumen für die Beerdigung zu sammeln. Oder zusammengefasst wie in einem Deutschaufsatz: Sie repräsentiert die Menschlichkeit und darf deshalb in diesem unmenschlichen Spiel gewinnen.

Und wenn sie tötet, dann immer in einer akuten Notlage oder in Selbstverteidigung. Und Romanvorlage bzw. Drehbuch (die Autorin des »Weltbestsellers« arbeitete daran mit) sorgen dafür, dass »ehrenwerte« oder »schwächere« Gegner, deren Tötung negativ auf sie abfärben würde, jeweils auf indirekte / unverwandte Weise ins Gras beißen. So verlogen wie dieser Film ist nicht einmal RTL, und auch, wenn es in Teil 2 und 3 wahrscheinlich stärker um politische Belange geht (allerdings muss Bella sich dann auch zwischen dem Werwolf und dem Vampir entscheiden), habe ich bereits keinen Appetit mehr.