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11. April 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau)
Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau)
Bildmaterial: Arsenal Filmverleih
Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau)
Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau)
Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau)


Monsieur Lazhar
(Philippe Falardeau)

Kanada 2011, Buch: Philippe Falardeau, Lit. Vorlage: Evelyne de la Chenelière, Kamera: Ronald Plante, Schnitt: Stéphane Lafleur, Musik: Martin Léonmit [Mohamed] Fellag (Bachir Lazhar), Sophie Nélisse (Alice L'Écuyer), Émilien Néron (Simon), Danielle Proulx (Mme Vaillancourt), Brigitte Poupart (Claire Lajoue), Jules Philip (Gaston), Daniel Gadouas (M Gilbert Danis), Louis Champagne (Concierge), Seddik Benslimane (Abdelmalek), Marie-Ève Beauregard (Marie-Frédérique), André Robitaille (Commissionner), Francine Ruel (Mrs. Dumas), Sophie Sanscartier (Audrée), Evelyne de la Chenelière (Alice's mother), Vincent Millard (Victor), Louis-David Leblanc (Boris), Nicole-Sylvie Lagarde (Psychologist), Gabriel Verdier (Jordan), Marie Charlebois (Ankläger), Marianne Soucy-Lord (Shanel), Stéphane Demers, Nathalie Costa (Marie-Frédériques Eltern), Héléna Laliberté (Martine Lachance), 94 Min., Kinostart: 12. April 2012

Aus meiner Sicht ist es für einen Film viel viel aussagekräftiger, wenn er für den Oscar als »Bester fremdsprachiger Film« nominiert ist, als wenn es sich »nur« um den »Besten Film« dreht. Nicht nur, weil die Academy seit einigen Jahren die Nominierungen im letzteren Fall aus schwer nachvollziehbaren Gründen aufgestockt hat, sondern weil man als »bester fremdsprachiger Film« erst mal vom Herkunftsland eingereicht werden muss (einer pro Land, egal, wie viele großartige Film in dem Jahr womöglich in diesem Land entstanden), bevor man überhaupt von den Academy-Mitgliedern wahrgenommen wird. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man sich dann auch noch besonders hervortun muss, ehe man überhaupt angeschaut - geschweige denn gewählt - wird. Die fünf Filme, die dabei am Schluss herauskommen, sind nicht unbedingt besser als die Kandidaten aus den USA. Aber sie haben einen weitaus beschwerlicheren und schlecht vorauszuberechnenden Weg hinter sich. Auf diesem Weg wird wahrscheinlich vieles an wirklicher Filmkunst und an nationalkinematographisch bedeutsamen herausgekürzt, und einige der Nominierten wirken manchmal wie ein Abziehbild herkömmlicher US-Filmdramaturgie, doch ich schaue mir allemal lieber alle fünf »fremdsprachigen« Filme an (so sie überhaupt den Weg in die deutschen Kinos antreten) als so manchen Schmarrn, der für mich kaum nachvollziehbar für den »Besten Film« nominiert wird.

Wenn das Leben gerecht wäre, müsste ein Film wie Monsieur Lazhar eigentlich in Deutschland große Aufmerksamkeit widerfahren, doch der durchschnittliche Kinogänger legt keinen Wert darauf, auch mal zwischendurch einen Film zu sehen, der nicht aus den USA oder Deutschland kommt oder in Frankreich Millionen Zuschauer lockte. Der durchschnittliche deutsche Kinozuschauer geht zu Die Tribute von Panem, The Avengers und vielleicht noch dem neuen Schweig(höf)er-Streifen - und im allergünstigsten Fall wird dann noch mal über die Qualität des Films nachgedacht.

Wer will denn schon in einen französischsprachigen Film aus Kanada, in dem ein aus Algerien stammender Lehrer die sechste Klasse einer Kollegin übernimmt, die die unfassbare Gedankenlosigkeit besaß, sich tatsächlich im Klassenzimmer zu erhängen (potentiell mit dem Wissen, welcher ihr gegen den Strich gehende Schüler sie entdecken wird)? Das ist auf den ersten Blick (und auch auf den zweiten und dritten) natürlich ganz starker Tobak, doch Monsieur Lazhar ist keine Traumabewältigung à la Atom Egoyans The Sweet Hereafter, sondern trotz des schwierigen Themas ein lebensbejahender und oftmals sehr belustigender Film. Aus meiner Sicht ermöglicht der Film es dem Zuschauer, die Probleme der Kinder (besonders zwei rücken in den Mittelpunkt) so ernst und traumatisch aufzufassen, wie es ihm oder ihr gefällt. Denn zum einen sind Kinder fast so »unkaputtbar« wie Fanta-Flaschen (mir ist die Problematik dieses Vergleichs bewusst - natürlich kann auch eine Fanta-Flasche jemandem, der es drauf angelegt hat, keinen Widerstand leisten), und zum anderen lernt man die Kinder im Film kaum vor dem Selbstmord kennen, kann also kein Urteil darüber tätigen, wie stark sie sich verändert haben. Und das ist irgendwie ziemlich clever.

Die Geschichte(n), die der Film erzählt, sind geschickt miteinander verbunden. Der neue Lehrer hat wegen der Vorgeschichte einen schlechten Stand, ist altmodisch und fremdländisch in seinen Erziehungsmethoden und muss beispielsweise erst lernen, dass Kinder in Kanada wie radioaktiver Abfall behandelt werden: »Nicht anfassen«. Wenn er einem Kind mal einen Klaps gibt, heißt es gleich »Wir sind hier nicht in Saudi-Arabien«, doch im Endeffekt macht Lazhar einiges instinktiv richtig, während etwa die bestens ausgebildete Psychologin trotz aller cleveren Vorkehrungen den Kindern niemals näher kommt.

Kinofilme über Lehrer haben ein großes Potential, das meistens verschenkt oder gar (für schlichtweg dumme Filme) missbraucht wird, aber Monsieur Lazhar erzählt filmisch versiert eine Geschichte über Toleranz, vom Aufeinanderzugehen und vom Entdecken von Ähnlichkeiten in Dingen, die eigentlich ganz unterschiedlich sind. Und allein für seine letzte Einstellung, die in einem anderen Film vielleicht klischeebeladen oder bedenklich gewesen wäre, liebe ich den Film.