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9. Juli 2014
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die große Versuchung – Lügen, bis der Arzt kommt (Don McKellar)


Die große Versuchung
Lügen, bis der Arzt kommt
(Don McKellar)

Originaltitel: The Grand Seduction, Kanada 2013, Buch: Michael Dowse, Ken Scott, Kamera: Douglas Koch, Schnitt: Dominique Fortin, Musik: Maxime Barzel, Paul-Étienne Côté, Francois-Pierre Lue, Kostüme: Denis Sperdouklis, Production Design: Guy Lalande, Art Direction: François Sénécal, mit Brendan Gleeson (Murray French), Taylor Kitsch (Dr. Paul Lewis), Gordon Pinsent (Simon), Liane Balaban (Kathleen), Matt Watts (Frank Dalton), Cathy Jones (Barbara French), Mary Walsh (Vera), Margaret Killingbeck (Ellie), Mark Critch (Henry Tilly), Pete Soucy (Bob Mahoney), Sarah Tilly (Miriam Mahoney), Carly Boone (Lucy Tilly), Anna Hopkins (Stimme Helen), Rhonda Rodgers (Samantha), Steve O'Connell (Joe), Michael Therriault (Tripps Assistent), 113 Min., Kinostart: 10. Juli 2014

Dieses Remake des ebenfalls aus Kanada stammenden, aber französischsprachigen Le grande séduction von 2003 (damals mit mehr Übersetzungs-Verständnis als Die große Verführung in die deutschen Kinos gekommen) hat alles, was großes Kino ausmacht: Spannung, Erotik, Fußpilz!

Das mag nicht die verlockendste »Tagline« der Filmgeschichte sein, aber The Grand Seduction ist Kino, wie es Spaß macht. Eine kleine Komödie mit sehr viel Herz, die den Zuschauer aber nicht für dumm verkauft. Schon dies ist im Mainstream-Kino die absolute Ausnahme. Zwar gibt es hier konservative Elemente wie eine altmodische Liebesgeschichte (zart, und mehr am Rande) und das Beharren auf traditionelle Werte, es geht sogar so weit, dass der Film mit Inbrunst einige Klischees aufrechterhält, aber was an anderer Stelle sauer aufstoßen könnte, gehört hier zum speziellen Charme, der an filmische Kleinode wie Local Hero oder Waking Ned (deutsch: Lang lebe Ned Devine!) erinnert.

Im abgelegenen neufundländischen Küstenkaff Tickle Head gab es einst stolze Fischer, die im Schweiße ihres Angesichts durch harte Arbeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie erwirtschaften. Murray French (Brendan Gleeson, der als Ire unter lauter Kanadiern kaum auffällt) erinnert sich noch voller Nostalgie daran, wie sein Vater damals mit den anderen Hafenbewohnern im Morgengrauen aufbrach. Heutzutage ist der Ort halb ausgestorben, reichlich vergreist, und die vorherrschende Beschäftigung der Verbliebenen ist das Warten auf den Sozialhilfescheck.

Die große Versuchung – Lügen, bis der Arzt kommt (Don McKellar) Die große Versuchung – Lügen, bis der Arzt kommt (Don McKellar)

Die unwiederbringlich erscheinende »gute alte Zeit« steht hier im starken Kontrast zur nur am Rande erhaschten »modernen Welt«. Wenn nach der Intro des desolaten Alltags im Küstenort (der Bürgermeister und Murrays Frau haben zur Einstimmung auch das Weite gesucht, weil es anderswo wenigstens Jobs gibt) hier erstmals das Stadtleben vorgeführt wird, dann auf einem Flughafen: Man hört geschäftige Jazzmusik und sieht auf einer Rolltreppe zwischen auffällig vielen Farbigen (konservative Klischees, die sich aber selbst entlarven) den auf Schönheits-OPs spezialisierten Arzt Dr. Paul Lewis (Taylor Kitsch, zuletzt im überhypeten John Carter reichlich gefloppt), der einen dekadent wirkenden Kricket-Pokal unterm Arm trägt und neben seiner leicht arroganten »weltmännischen« Art zunächst dadurch auffällt, dass er sich beim Kokainschmuggel erwischen lässt. Der Kontrast zu den Bewohnern von Tickle Head könnte kaum größer sein, und ausgerechnet dieser Dr. Lewis stellt für den Ort die fast märchenhafte letzte Hoffnung dar. Denn wenn man einen ortsansässigen Arzt hätte (und mehr Einwohner, reichlich Schmiergeld und andere Kleinigkeiten), könnte man sich vielleicht zum Fabrikstandort mausern …

  Die große Versuchung – Lügen, bis der Arzt kommt (Don McKellar)
Bildmaterial © Wild Bunch Germany
Die große Versuchung – Lügen, bis der Arzt kommt (Don McKellar)
Die große Versuchung – Lügen, bis der Arzt kommt (Don McKellar)

Nun könnte man meinen, dass eine »petrochemical byproduct repurposing facility« weit entfernt ist vom einfachen Fischerglück vergangener Tage, doch selbst der rückständigste Nostalgiker hat zumindest eine Veränderung der letzten paar Jahrzehnte nachvollzogen: heute existieren Berufe nicht mehr a priori dazu, Waren zu fertigen, die Jobs selbst sind die Frucht der Produktion: ein MacGuffin der postindustriellen Beschäftigungsrealität: die Fabrik fertigt Jobs, und damit steht sie hier quasi im selben güldenen Licht wie der an Weihnachten erinnernde morgendliche Aufbruch der Fischer oder der mysteriöse Kofferinhalt in Pulp Fiction. Das man für diese Jobs im Endeffekt auch noch regelrecht »bezahlen« muss (»That loan will cost us 500 dollars a month, for 20 years«), treibt die Absurdität noch auf die Spitze, doch für den rein unterhaltungsorientierten Kinogänger spielen sich solche philosophischen Betrachtungen unmerklich in der Peripherie, gerade noch im Bereich der Augenwinkel, ab.

Denn um vermeintlich politische Kernfragen geht es in The Grand Seduction nur, wenn man sich als Hartz-IV-Journalist besonders dafür interessiert, es zeichnet die in Grunde simpel gestrickte Komödie aber aus, dass sie auch bei einer etwas tiefergehenden Analyse bestehen kann. Fußpilz, die Abgründe der Innenarchitektur, komplette Verwahrlosung als Indiz für ein Weltkulturerbe oder Kricket als sportliche Entsprechung der realitätsfernern Petrofabrik: all diese Themen werden nur am Rande mal angerissen, aber stehen dem puren Spaß an der Geschichte nie im Weg.

Durchweg liebenswert sind nämlich die Bewohner von Tickle Head, denen der Film trotz kleiner Rollen viel Platz einräumt. Und da ich den Film zweimal sah und sie mir dadurch nur mehr ans Herz wuchsen, will ich einige davon vorstellen:

Da ist etwa Matt Watts als Frank Dalton, ein Typ wie Jay Baruchel, leicht neben der Spur, wie ein humpelnder Gassenhund, den man retten will. Franks Verachtung für Jazz macht ihn innerhalb des Films zum wahren Märtyrer, denn er wird abgeordert, gemeinsam mit Dr. Lewis dessen musikalischer Vorliebe zu frönen. Wie Jazz hier als »moderner« Gegenpol der traditionellen Folkmusik aufgebaut wird, könnte in anderen Filmen schnell wie ein stumpfes Klischee wirken, doch selbst der größte Fan atonaler Jamsessions weiß ja um die fehlende Akzeptanz »seiner« Kunstform beim breiten Publikum, und in diesem Konflikt gelingt es dem Film, beide Figuren gleichzeitig zur Identifikation anzubieten. Das macht diesen Film aus: man mag den vertrottelten Hinterwäldler, bei dem sich der »athlete's foot« (dt.: Fußpilz) mittlerweile zum »athlete's leg« ausgeweitet hat, ebenso gern wie den versnobten Arzt, dem nach und nach die Scheuklappen entfernt werden.

Wie immer großartig ist auch Gordon Pinsent (Away from her), der als leicht griesgrämiger Side-Kick Gleesons oft nur ein glorifizierter Stichwortgeber ist, dabei aber (und das zeichnet Schauspieler aus) ein Eigenleben entwickelt. Wenn der Film fast am Schluss wie nebenbei offenbart, dass Simon nicht alleinstehend ist, und man seine Frau als weitere Nebenfigur (eine der beiden Abhörspezialistinnen, die außerdem aus einer verschlissenen Gardine und einem rosa Handtuch eine akzeptable Kricket-Uniform zaubern kann) längst kennengelernt hat, dann ist das einer der vielen »magischen« Momente des Films, der in nichts zurücksteht gegenüber dem Anblick des fröstelnd-genervten Simon in einem Taucheranzug, weil zum vollkommenen Glück des umgarnten Dr. Lewis auch gehört, dass er wenigstens einmal etwas fängt bei den Angeltouren mit seinem Ersatz-Vater Murray (dessen Vater ja einst Fischer war, und der diese Tradition somit in grotesk pervertierter Weise weitergibt – man sollte hierbei nicht vergessen, dass die Lüge – lateinisch fabula – quasi das Rückgrat aller narrativen Künste darstellt …)

Ich gebe mich geschlagen. Es gelingt mir einfach nicht, diesen Film als einfache, universell unterhaltsame Komödie vorzustellen, weil er so viel mehr bietet und ich mich außerstande sehe, dies auch nur für drei aufeinanderfolgende Sätze auszublenden. Es ist ein wenig so, als solle man bei einer Frau, die man liebt, beschreiben, wie großartig sie Socken stopft. Dabei gibt es so viel mehr, worüber man schwärmen kann.

Und je länger man darüber nachdenkt, umso besser wird der Film.