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26. August 2015 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||
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Das Märchen der Märchen
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Es beginnt mit der wegen Kinderlosigkeit traurigen Königin Salma Hayek, die von einem gruseligen Necromancer (subtiler Effekt-Einsatz von Stelzen, agiert oft im Schatten) die Lösung ihrer Probleme gewahr wird, mit typischen Märchenzutaten wie einem zu erlegenden Seeungeheuer oder einer Jungfrau, aber letztendlich vor allem mit einer Moral wie in der klassischen Gruselstory The Monkey's Paw von W.W. Jacobs: Überleg Dir gut, was Du Dir wünscht, denn Du wirst dafür bezahlen müssen. Die Hayek-Story ist die komplizierteste, sie umfasst gut zwei Jahrzehnte und verdeutlicht auch sehr stark, dass Matteo Garrone bei seinen Märchen gerne etwas Interpretationsfreiraum lässt. Hier gibt es etwa eine Einstellung, in der man eine Frau sehen kann, die durchaus Salma Hayek ähnelt, und das gäbe auch etwas Futter für diejenigen, die in so einem Märchen klare Kausalzusammenhänge erwarten. Aber im Grunde eröffnet die Freiheit der Narration Diskussionsansätze für nach dem Film, die von der Nachwirkung des Films zeugen.
Ähnlich ist es auch in der Geschichte von König Toby Jones (die Könige haben im Film allesamt keine Namen und auch die Bezeichnungen ihrer drei Königsreiche hört man im Film zu keinem Zeitpunkt). Zu Beginn sieht man ihn, wie er mit der jungen Tochter liebevoll spielt (die Mutter spielt nie eine Rolle), doch als Violet (Bebe Cave, die ich hier lange Zeit für Zoe Kazan mit einer größeren Nase hielt) erwachsen ist, wechselt die väterliche Liebe in eine andere, an Kafka erinnernde Richtung: König Toby ist ganz verschossen in ein neues Haustier, einen Floh. Aus diesem seltsamen Hang zum Grotesken (der Floh hat bald die Größe eines Dackels, dann eines ausgewachsenen Keilers) zehrt sich die Geschichte auch im weiteren, denn dass die Tochter einem Oger versprochen wird, entwickelt sich fast geradlinig aus der Absonderlichkeit des Vaters. Und noch deutlicher als beim Kampf mit dem Seeungeheuer, der noch etwas Erhabenes hat in seiner träumerischen Verlangsamung, geht es nun in Richtung Horror, beinahe schon zum Backwoods-Slasher, denn in der Höhle des Ogers liegen nicht nur zahlreiche Knochen rum, die er zum Empfang der vermeintlichen »Gattin« erstmal zur Seite schubst. Hier wird auch relativ klar eine Vergewaltigung durch das konkrete Gegenteil des Märchenprinzen impliziert.
Die dritte Geschichte hat mit Vincent Cassel als rücksichtslosem Schürzenjäger den unwürdigsten der drei Könige. Noch bevor seine eigentliche Geschichte beginnt (das Aufwachsen von Hayeks Sohn drängt in der Chronologie die anderen Episoden nach hinten), sieht man, wie er sich unermüdlich mit jedem Frauenbild vergnügt, das nicht schnell genug auf den Baum kommt. Ob er hierbei ein erlesener Liebhaber und charmanter Unterhalter ist, kommt nicht direkt raus. Vielleicht lässt er auch einfach seine Königsgewalt sprechen und keine mag ihm widersprechen. Jedenfalls erblickt er von weitem eine lieblich singende Gestalt, von der der Zuschauer bald erfährt, dass die Dame ca. 80 Jahre alt zu sein scheint (oder das Doppelte, das Altersmakeup ist jedenfalls sehr markant), und so beginnt ein Werben ohne visuelle Gegenüberstellung, mit typischen Tricks wie aus der Odyssee oder der Gene-Kelly-Version von The Three Musketeers. Und als er dann nach vollbrachtem Werk unbedingt seine Gespielin im Kerzenlicht betrachten will, erschrickt er sehr und lässt die alte Vettel augenblicklich aus dem hohen Fenster schmeißen. Frauen kommen hier generell nicht so gut weg.
Der eigentliche Horror beginnt aber, als die Alte durch Zauberwerk jung wird, und ihre Schwester (Shirley Henderson, selbst unter drei Schichten Latex die lieblichste Frau im Film) eifersüchtig wird und sich auch verjüngen will. So blutig sind Märchen meist nicht mal, wenn einem Wolf der Bauch aufgeschnitten wird.
Gerade, weil die Geschichten oft anders verlaufen, als man annehmen würde, sich aber dennoch an bestimmte Genre-Vorgaben halten, ist Tale of Tales trotz zweier Stunden und der nicht durchgehend gelungenen Aufteilung in Erzählungshäppchen ein lohnender Film, der in seiner ungewöhnlichen visuellen Ausprägung (die prächtigen Kostüme wirken oft wie mit Staub oder Patina überzogen, die Effekte sind meistens Old School) durchaus ein wenig verzaubert. Und das viele, was ich hier ausgeplaudert habe, umfasst allenfalls ein Drittel der Story.
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