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4. Dezember 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


Jenseits des Dokma

Ich bin bekannt dafür, im Bereich Dokumentarfilm ein ziemlicher Purist zu sein. Wenn irgendwo Fotos animiert werden und darin sichtbare Figuren plötzlich einen 3D-Effekt bekommen oder sich im Hintergrund Blätter im Wind bewegen, schellen bei mir sämtliche Alarmklingeln, denn das Prinzip der Dokumentation wird mit Füßen getreten, um irgendeinem zappingsüchtigen Fernsehpublikum zu suggerieren, noch ein wenig beim Sender zu verweilen (und die arme Sau, die einen Film nur wegen solcher Effekte weiterschaut, tut mir ehrlich gesagt leid).

Natürlich hat jeder Dokumentarfilm durch die die Wahl seines Sujets, der Ansprechpartner oder des Kamerastandpunkts (von der Montage als wichtigstem aller filmischen Mittel gar nicht zu sprechen) auch einen inszenatorischen Aspekt, aber ich denke dann immer an die Stelle in James L. Brooks' Broadcast News, wo eine Nachrichtenreporterin einem Kriegsteilnehmer befiehlt, sich jetzt, wo die Kamera darauf gerichtet ist, die Schnürsenkel zu binden, ehe ein Kollege eingreift und betont, dass der »dokumentierte« Herr ganz allein wählen darf, ob und wann er sich die Schuhe zubindet. Das klingt wie Korinthenkackerei, verdeutlicht aber sehr schön das generelle Problem, an welcher Stelle man willentlich den Dokumentarbereich verlässt und sich der Inszenierung verschreibt.

Die beiden in den nächsten Wochen in Deutschland startenden empfehlenswerten Filme, die man auf den ersten Blick ganz klar dem »Genre« Dokumentarfilm zuordnen würde, durchbrechen beide an einer unterschiedlich deutlich markierten Stelle diese Grenze - und zumindest einer der Filme kommt danach auch nicht wieder auf die ursprüngliche Seite zurück. Aber da beide verantwortungsvoll und offen mit der Problematik umgehen und durch den »Regelverstoss« klar zur Qualität und Einzigartigkeit der Filme beitragen, nimmt man dies in beiden Fällen gerne in Kauf.

  Hasret (Sehnsucht) (Ben Hopkins)
Hasret (Sehnsucht) (Ben Hopkins)
Bildmaterial: Piffl Medien
Hasret (Sehnsucht) (Ben Hopkins)
Hasret (Sehnsucht) (Ben Hopkins)
Hasret (Sehnsucht) (Ben Hopkins)


Hasret (Sehnsucht)
(Ben Hopkins)

Deutschland / Türkei 2015, Buch: Ben Hopkins, Ceylan Ünal Hopkins, Kamera: Jörg Gruber, Schnitt: Lewo, Musik: Efe Akmen, mit Ben Hopkins (Himself), Serhat Saymadi (Serhat), Isa Çelik (Ghost Girl), Bilge Güler (Faruk Korkmaz), 82 Min., Kinostart: 26. November 2015

Ben Hopkins beginnt seine cineastische Reise in Hasret damit, dass er – wie so viele Flüchtlinge – in einem Container versteckt aufbricht. Allerdings in eine ungewohnte Richtung – von Deutschland in die Türkei – und nur, weil der Fernsehsender (er nennt ihn immer »The Channel«), der ihm den Auftrag für eine Dokumentation über Istanbul gab, für das Reise-Budget nicht aufkommen kann (oder will). Der Einstieg ist für das Kinopublikum fast so unbequem wie für die Filmemacher, denn die Bilder aus dem Container zeichnen sich durch geringe digitale Auflösung und schlechte Ausleuchtung aus. Doch gleich nach der Ankunft werden dann einige Hafenarbeiter interviewt. Der Film besticht sofort durch seine intime Nähe zum zu beschreibenden Objekt.

Noch näher als an Istanbul (wo Hopkins drei Jahre lebte) ist der Film aber am Regisseur selbst, der überraschend offen (und ganz klar nicht im Sinne seines Auftraggebers) über sein Leben spricht. Etwa darüber, dass diese Auftragsarbeit ganz sicher nicht sein Ding ist, aber nach einer Depression war es der beste Job, den er bekommen konnte. Das heißt aber noch lange nicht, dass er bereit ist, wie vom »Channel« gewünscht, das Nachtleben von Istanbul in Zeitrafferaufnahmen einzufangen, die dann von Techno-Beats unterlegt werden sollen. Man erkennt schnell, dass Hopkins die »Regeln« seiner Auftraggeber zumindest biegen, wenn nicht brechen will.

Daraus bezieht der Film auch seinen schelmischen Humor, wenn der Regisseur etwa im Hotel einen Pagen fragt, was man am ehesten filmen könne, seine Untergebenen damit neckt, dass er natürlich das beste Hotelzimmer bekommen müsse oder die nicht ganz so künstlerisch ausgelegten Mitarbeiter mehrfach seinen Masterplan hinterfragen, wenn Hopkins mal wieder etwas aufnimmt, was allenfalls sehr vage mit der Aufgabenstellung der Geldgeber zusammenhängt. »Ey, sag mal: das mit den Kindern – gehört das mit zum Film oder ist das nur Spaß?«

Dem Film bleibt aber ausreichend Raum, um Istanbul genauestens zu untersuchen: die politische Situation mit »Erdo-gone« und den geheimen Graffiti der Demonstranten; die unterschiedlichen muslimischen Splittergruppen wie Schiiten, Aleviten, Sunniten und Sufi; aber auch darüber hinaus religiöse Sonderfälle wie eine armenische Kirche oder die nicht »islamkonforme« Heiligenanrufung.

Doch Hopkins konstruiert sein ganz eigenes Bild von Istanbul, wo Kapitelüberschriften wie »Geister«, »Katzen« oder »Einkaufszentrumisierung« sich immer deutlicher vom vermeintlichen »Plan« entfernen. Zwischendurch erklärt der Regisseur mal »Tourism and time-lapse for the producers, ghosts, rubbish and cats for me.«

Während seine Filmcrew kurz vorm Meutern steht, weil sie statt wochenlanger Überstunden lieber das Nachtleben genießen oder ganz simpel eine Fußballübertragung sehen wollen, identifiziert sich Hopkins immer deutlicher mit dem Filmprojekt. Doch wenn er beim Materialsichten eine mysteriöse Frau entdeckt, von der sich alle Crewmitglieder einig sind, dass sie dort während der Dreharbeiten nicht stand, wird zunehmend deutlich, dass der Film das dokumentarische Gebiet verlässt, das sich im Nachhinein aber dennoch als ungemein clevere »Einstiegsdroge« für die Zuschauer erweist. Die »Geister« stehen zwar auch als Metapher für unzählige inoffizielle Bewohner Istanbuls, aber Hasret entwickelt sich unerwartet tatsächlich zu einer Art Geisterfilm (der esoterische Aspekt wird nicht alle Zuschauer überzeugen), wobei eine der tollsten Ideen des Films darin besteht, dass der mittlerweile wie in einem Horrorfilm allein zurückgelassene Hopkins eine Überwachungskamera in seinem Hotel aufstellt. Und das, was man auf diesen an Paranormal Activity erinnernden Bildern zu sehen bekommt, verdeutlicht auf unnachahmliche Weise mindestens drei wichtige Teilaspekte des Films: die Realität der »kleinen« Menschen, die mythischen Geister, die nachts durch Istanbul zu wandeln scheinen – und nicht zuletzt das immense Unterhaltungspotential des Films. Was sich hier wie zufällig entwickelt, ist aber im Skript von langer Hand vorbereitet, wie man an manchen frühen Sätzen erkennt. Etwa »To see the real city, you have to see it at dawn and see the people who clean up after last night's party.«

Auch inszenatorisch wird das Prinzip des Films elegant unterstützt, etwa durch Schwarzweiß-Passagen, die die »Geisterbilder« der Stadt stilistisch gekonnt einbinden (damit wären vielleicht sogar die Produzenten zufrieden gewesen). Trotzdem bleibt der Film dezidiert persönlich und gliedert sich nahtlos in die Filmographie Hoskins ein. Wenn er mal wieder sein Befinden schildert (»These past days I'm losing my way, I can feel the return of my terrible friend, the black inky melancholy.«) Eine Kritikerkollegin kommentierte dies nach dem Film mit dem auf den ersten Blick etwas herzlos klingenden Urteil »Solange er solche Filme dreht, ist Hopkins' Depression aus unserer Sicht ja fast positiv zu bewerten« Aber ehrlich gesagt muss ich zugeben, dass ich diese Ansicht irgendwie teile ...

  Der Perlmuttknopf (Patricio Guzmán)
Der Perlmuttknopf (Patricio Guzmán)
Bildmaterial: Real Fiction Filmverleih
Der Perlmuttknopf (Patricio Guzmán)
Der Perlmuttknopf (Patricio Guzmán)
Der Perlmuttknopf (Patricio Guzmán)


Der Perlmuttknopf
(Patricio Guzmán)

Originaltitel: El botón de nácar, Chile / Frankreich / Spanien 2015, Buch: Patricio Guzmán, Kamera: Katell Djian, Schnitt: Patricio Guzmán, Emmanuelle Joly, Musik: Hughes Maréchal, Miguel Miranda, José Miguel Tobar, Art Direction: Pamela Chamorro, 82 Min., Kinostart: 10. Dezember 2015

In Patricio Guzmáns im Wettbewerb der Berlinale mit dem Drehbuchpreis ausgezeichneten El botón de nácar folgt man zunächst ebenfalls ganz strikt den Regeln eines Dokumentarfilms. Guzmán wählt als Anfangspunkt das Wasser, das sein Heimatland Chile in einem Maße umfängt, wie es vermutlich einzigartig auf der Welt ist. Von der Lebenskraft des Wassers, die er in einem einzelnen eingesperrten Tropfen in einem 3000 Jahre alten Quarzkristallwürfel ebenso findet wie in den wuchtigen Wogen des Ozeans bis zu den (aus der chilenischen Wüste) auf ferne Gestirne blickenden Teleskopen auf der Suche nach außerirdischen Beweisen für Wasservorkommen.

Während die Kamera einen kleinen Bruchteil der 4300 Kilometer umschreibenden Küste Chiles abfährt, kommt der Film dann auf ein zweites großes Thema: die Wassernomaden, die bis zum 18. Jahrhundert insbesondere Patagonien bevölkerten. Wobei sie sich aber mehr in ihren Kanus aufhielten als an Land. Einer der nur zwanzig direkten Nachfahren dieser Naturvölker präsentiert stolz so ein Kanu, mehrere Ahnen der in fünf distinkte Gruppen aufgeteilten Nomadenvölker rezitieren dann im Interview Fragmente einer fast vergessenen Sprache (»Was ist das Wort für 'Gott'?« – »So was haben wir nicht!«).

Wie andere, weitaus weniger gelungene Dokumentationen arbeitet sich Guzmán einfallsreich an einem Thema (Wasser) ab, befragt einen Ozeanologen ebenso wie einen Dichter, lässt eine Künstlerin den langgezogenen Grundriss Chiles auf Wellpappe nachbilden oder untermalt alte Fotos oder Superzeitlupenbilder der Kraft des Wassers mit indigener Musik, die so klingt, als hätte man ein Didgeridoo mit einer Mundorgel gekreuzt. Nebenbei kommt er aber auch auf sein persönliches Verhältnis zum Wasser zu sprechen. Und wer sich in der Biographie des Regisseurs gut auskennt, ahnt evtl. vielleicht schon, welche Rolle ein Schulfreund spielt, den Guzmán einst auf etwas mysteriös klingende Weise ans Meer verloren hat.

Im Normalfall hat man diese kurz erwähnte Episode aber längst wieder vergessen, wenn der Film über den ein gutes Jahrhundert zurückliegenden, vom Staat finanziell unterstützten Genozid an den indigenen Ureinwohnern berichtet. Nur um von dort auf ganz elegante Weise zum Thema seiner intensiven cineastischen Hassliebe zurückzukehren: der Militärdiktatur unter Pinochet. Hier nur ein kleiner Beweis dafür, wie der in dieser Kurzzusammenfassung allenfalls nach freier Assoziation klingende Erzählstrom des Films bis ins Detail durchdacht ist: Salvador Allende, der noch Jahrzehnte später als der strahlende vorbildliche Staatsmann in der Geschichte Chiles gilt, hatte bereits begonnen, den Indianern ihre Gebiete zurückzugeben – doch dann folgte der US-finanzierte Putsch, der im Konstruktionsplan des Films die ultimative Parallele zwischen zwei schweren Zeiten für Teile des chilenischen Volkes heraufbeschwört.

Zum größten, allumfassenden Kunststück des Films möchte ich in dieser Kritik gar nicht kommen – und wenn man zirka zwei Drittel des Films hinter sich hat, ist man diesbezüglich auch noch komplett schimmerlos. Was hat es eigentlich auf sich mit dem titelgebenden Knopf? Wie meisterhaft Guzmán hier seine Handlungsfäden verknüpft, das sollte man selbst im Kino erleben. In einer perfekten Welt müsste es im Dezember eigentlich zwei »Filme des Monats« geben. Doch Todd Haynes' Carol hat mich noch eine Winzigkeit stärker verzückt. Aber wenn es rein um Dokumentarfilme (in Guzmáns Fall um einige winzige, aber wichtige »inszenierte« Szenen ergänzt) gehen würde, gehörte El botón de nácar neben Wenders' Buena Vista Social Club und Nicolas Philibert Être et avoir zu den drei großartigsten Dokus der letzten zwanzig Jahre.