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4. Dezember 2015 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||
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Jenseits des DokmaIch bin bekannt dafür, im Bereich Dokumentarfilm ein ziemlicher Purist zu sein. Wenn irgendwo Fotos animiert werden und darin sichtbare Figuren plötzlich einen 3D-Effekt bekommen oder sich im Hintergrund Blätter im Wind bewegen, schellen bei mir sämtliche Alarmklingeln, denn das Prinzip der Dokumentation wird mit Füßen getreten, um irgendeinem zappingsüchtigen Fernsehpublikum zu suggerieren, noch ein wenig beim Sender zu verweilen (und die arme Sau, die einen Film nur wegen solcher Effekte weiterschaut, tut mir ehrlich gesagt leid). Natürlich hat jeder Dokumentarfilm durch die die Wahl seines Sujets, der Ansprechpartner oder des Kamerastandpunkts (von der Montage als wichtigstem aller filmischen Mittel gar nicht zu sprechen) auch einen inszenatorischen Aspekt, aber ich denke dann immer an die Stelle in James L. Brooks' Broadcast News, wo eine Nachrichtenreporterin einem Kriegsteilnehmer befiehlt, sich jetzt, wo die Kamera darauf gerichtet ist, die Schnürsenkel zu binden, ehe ein Kollege eingreift und betont, dass der »dokumentierte« Herr ganz allein wählen darf, ob und wann er sich die Schuhe zubindet. Das klingt wie Korinthenkackerei, verdeutlicht aber sehr schön das generelle Problem, an welcher Stelle man willentlich den Dokumentarbereich verlässt und sich der Inszenierung verschreibt. Die beiden in den nächsten Wochen in Deutschland startenden empfehlenswerten Filme, die man auf den ersten Blick ganz klar dem »Genre« Dokumentarfilm zuordnen würde, durchbrechen beide an einer unterschiedlich deutlich markierten Stelle diese Grenze - und zumindest einer der Filme kommt danach auch nicht wieder auf die ursprüngliche Seite zurück. Aber da beide verantwortungsvoll und offen mit der Problematik umgehen und durch den »Regelverstoss« klar zur Qualität und Einzigartigkeit der Filme beitragen, nimmt man dies in beiden Fällen gerne in Kauf.
Hasret (Sehnsucht)
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Bildmaterial: Real Fiction Filmverleih |
Originaltitel: El botón de nácar, Chile / Frankreich / Spanien 2015, Buch: Patricio Guzmán, Kamera: Katell Djian, Schnitt: Patricio Guzmán, Emmanuelle Joly, Musik: Hughes Maréchal, Miguel Miranda, José Miguel Tobar, Art Direction: Pamela Chamorro, 82 Min., Kinostart: 10. Dezember 2015
In Patricio Guzmáns im Wettbewerb der Berlinale mit dem Drehbuchpreis ausgezeichneten El botón de nácar folgt man zunächst ebenfalls ganz strikt den Regeln eines Dokumentarfilms. Guzmán wählt als Anfangspunkt das Wasser, das sein Heimatland Chile in einem Maße umfängt, wie es vermutlich einzigartig auf der Welt ist. Von der Lebenskraft des Wassers, die er in einem einzelnen eingesperrten Tropfen in einem 3000 Jahre alten Quarzkristallwürfel ebenso findet wie in den wuchtigen Wogen des Ozeans bis zu den (aus der chilenischen Wüste) auf ferne Gestirne blickenden Teleskopen auf der Suche nach außerirdischen Beweisen für Wasservorkommen.
Während die Kamera einen kleinen Bruchteil der 4300 Kilometer umschreibenden Küste Chiles abfährt, kommt der Film dann auf ein zweites großes Thema: die Wassernomaden, die bis zum 18. Jahrhundert insbesondere Patagonien bevölkerten. Wobei sie sich aber mehr in ihren Kanus aufhielten als an Land. Einer der nur zwanzig direkten Nachfahren dieser Naturvölker präsentiert stolz so ein Kanu, mehrere Ahnen der in fünf distinkte Gruppen aufgeteilten Nomadenvölker rezitieren dann im Interview Fragmente einer fast vergessenen Sprache (»Was ist das Wort für 'Gott'?« – »So was haben wir nicht!«).
Wie andere, weitaus weniger gelungene Dokumentationen arbeitet sich Guzmán einfallsreich an einem Thema (Wasser) ab, befragt einen Ozeanologen ebenso wie einen Dichter, lässt eine Künstlerin den langgezogenen Grundriss Chiles auf Wellpappe nachbilden oder untermalt alte Fotos oder Superzeitlupenbilder der Kraft des Wassers mit indigener Musik, die so klingt, als hätte man ein Didgeridoo mit einer Mundorgel gekreuzt. Nebenbei kommt er aber auch auf sein persönliches Verhältnis zum Wasser zu sprechen. Und wer sich in der Biographie des Regisseurs gut auskennt, ahnt evtl. vielleicht schon, welche Rolle ein Schulfreund spielt, den Guzmán einst auf etwas mysteriös klingende Weise ans Meer verloren hat.
Im Normalfall hat man diese kurz erwähnte Episode aber längst wieder vergessen, wenn der Film über den ein gutes Jahrhundert zurückliegenden, vom Staat finanziell unterstützten Genozid an den indigenen Ureinwohnern berichtet. Nur um von dort auf ganz elegante Weise zum Thema seiner intensiven cineastischen Hassliebe zurückzukehren: der Militärdiktatur unter Pinochet. Hier nur ein kleiner Beweis dafür, wie der in dieser Kurzzusammenfassung allenfalls nach freier Assoziation klingende Erzählstrom des Films bis ins Detail durchdacht ist: Salvador Allende, der noch Jahrzehnte später als der strahlende vorbildliche Staatsmann in der Geschichte Chiles gilt, hatte bereits begonnen, den Indianern ihre Gebiete zurückzugeben – doch dann folgte der US-finanzierte Putsch, der im Konstruktionsplan des Films die ultimative Parallele zwischen zwei schweren Zeiten für Teile des chilenischen Volkes heraufbeschwört.
Zum größten, allumfassenden Kunststück des Films möchte ich in dieser Kritik gar nicht kommen – und wenn man zirka zwei Drittel des Films hinter sich hat, ist man diesbezüglich auch noch komplett schimmerlos. Was hat es eigentlich auf sich mit dem titelgebenden Knopf? Wie meisterhaft Guzmán hier seine Handlungsfäden verknüpft, das sollte man selbst im Kino erleben. In einer perfekten Welt müsste es im Dezember eigentlich zwei »Filme des Monats« geben. Doch Todd Haynes' Carol hat mich noch eine Winzigkeit stärker verzückt. Aber wenn es rein um Dokumentarfilme (in Guzmáns Fall um einige winzige, aber wichtige »inszenierte« Szenen ergänzt) gehen würde, gehörte El botón de nácar neben Wenders' Buena Vista Social Club und Nicolas Philibert Être et avoir zu den drei großartigsten Dokus der letzten zwanzig Jahre.
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