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10. Februar 2016 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||
Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet. |
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Quelle: NBCUniversal Archives & Collections, © Universal Pictures Vorführungen:
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USA 1937, Buch: Charles Kenyon, R.C. Sheriff, Lit. Vorlage: Erich Maria Remarque, Kamera: John J. Mescall, George Robinson, Schnitt: Ted J. Kent, Charles Maynard, Musik: Dimitri Tiomkin, Special Effects: John P. Fulton, mit John »Dusty« King (Ernst), Richard Cromwell (Ludwig), Slim Summerville (Rudolf Tjaden), Maurice Murphy (Albert), Andy Devine (Wilhelm »Willy« Homeier), Larry J. Blake (Weil), John Emery (Captain von Hagen), Henry Hunter (Bethke), Noah Beery Jr. (Wessling), Gene Garrick (Giesicke), Barbara Read (Lucy), Spring Byington (Ernst's Mother), Frank Reicher (Ernst's Father), Marilyn Harris (Maria - Ernst's Sister), Jean Rouverol (Elsa), Etienne Girardot (Mayor), Charles Halton (Uncle Rudolph), Laura Hope Crews (Ernst's Aunt), Louise Fazenda (Angelina), Robert Warwick (Judge), Samuel S. Hinds (Defense Attorney), Arthur Hohl (Heinrich), William B. Davidson (Bartscher), Lionel Atwill (Prosecutor), Edwin Maxwell (Principal), Margaret Armstrong (Heinrich's Wife), Patricia Barry (Gretel), 97 Min.
Laut wikipedia war Der Weg zurück (1931) Erich Maria Remarques Fortsetzung zu seinem größten Erfolg Im Westen nichts Neues (1928). Die pessimistische Grundstimmung des Kriegsrückkehrer-Romans traf aber nicht recht die politische Strömung des damaligen Deutschlands und beide Bücher gehörten 1933 zu den Werken, die die Nazis öffentlich verbrannten. Lewis Milestones Verfilmung All Quiet on the Western Front (1930) war ebenfalls ein großer Erfolg (Oscars für bester Film und bester Regie), aber hier kam es erst 1937 zu einer »Fortsetzung«, wobei der beide Filme verbindende Auftritt von Slim Summerville als »Tjaden« wohl am ehesten über den rein thematischen Fortsetzungsaspekt hinweg einen Bezug erstellt. The Road Back von Universal-Regisseur James Whale (Frankenstein, The Bride of Frankenstein) funktioniert aber auch ohne die vermeintliche »Vorgeschichte«, denn die Absurdität des Krieges und insbesondere unnötiges Blutvergießen, wenn der Friedensvertrag bereits unterschrieben wurde, aber noch nicht in Kraft getreten ist, machen die ersten zwanzig Minuten des Films aus, die für die »Einstimmung« unverzichtbar sind.
Zur Vorführung auf der Berlinale kommt dieser Film, weil er nach seinem US-Kinostart wegen Beschwerden aus Deutschland wieder »zurückgenommen« wurde und nur noch in einer zensierten und teilweise durch neue Szenen ergänzten Form gespielt wurde. Dass die Nazis so ihre Probleme mit Remarque hatten (dessen »deutscher« Name übrigens gar nicht Kramer war, wie ich jahrzehntelang geglaubt hatte, sondern »Remark«), ist ja eine Sache, und die »pessimistische Grundhaltung« und Beschreibung der revolutionären Bewegungen in Deutschland sind nachvollziehbare wunde Punkte, aber aus heutiger Sicht hat gerade der Schluss des rekonstruierten und restaurierten Films in der ursprünglichen Fassung fast eine unglaublich schmeichelhafte Perspektive auf ein Deutschland, das ja kurz davor steht, einen Weltkrieg anzuzetteln. Denn der Film schließt die Lücke vom Ende des Ersten Weltkrieg über den Zeitpunkt der Romanveröffentlichung hinweg (Jahreszahlen werden wie Kalenderblätter eingeblendet: 1918, 1925, 1930, 1935, 1937) und kritisiert, dass sich die Rüstungskosten seit 1913 verdreifacht hätten. Und dazu sind man quasi als »Beweismittel« englischsprachige Zeitungsschlagzeilen, die den Aufrüstungswahn dokumentieren. Hierbei fällt aber auf, dass insbesondere Deutschland hier keineswegs als Aggressor dargestellt wird, sondern Italien, Frankreich und die USA sind es, die aus Sicht des Films das Wettrennen der weltweiten Rüstung vorantreiben. In der Phase von 1936 und 1938 war das Studio unter neuer Führung besonders erpicht darauf, den »europäischen Markt« auszubauen, aber nicht zuletzt der deutsche Ärger über die Remarque-Verfilmung sorgte dafür, dass die »Zensur auf Anfrage« eigentlich außer der Zerstörung eines Films, der jetzt auch nicht zu den größten Meisterwerken der Filmgeschichte gehört, nichts einbrachte. Weder für Universal noch für die Nazis - und ganz sicher nichts für James Whale.
Aber auch völlig losgelöst von der ganzen Zensur-Story (zu der man ja eigentlich auch beide Filmfassungen vergleichen müsste) ist The Road Back ein Film, der zumindest für Cinephile trotz mancher Schwächen sehr interessant ist. Und wenn man dann noch eine deutsche Perspektive mitbringt, ist es umso unterhaltsamer.
Immerhin spielt der Film ja nahezu komplett in Deutschland, mit deutschen Protagonisten. Diese sprechen aufgrund ihrer amerikanischen Darsteller zwar allesamt vorwiegend Englisch (ein paar deutsche Lieder werden eingestreut) und haben mitunter echte Probleme, Namen wie »Müller« oder »Giesicke« auszusprechen (ich habe sehr lange gebraucht, bis ich mir sicher war, ob eine der Hauptfiguren »Ludwig« oder »Lorenz« heißen soll), aber als Zuschauer fühlt man mit ihren Problemen durchaus mit, auch wenn vieles aus heutiger Sicht theatralisch (die Überwältigung der snipers), pathosgeladen (Dimitri Tiomkins Soundtracksauce) oder sonstwie eigentümlich (Kriegsabschlussfest mit Franzosen, mit äußerst freundlichen Französinnen) wirken.
Ich hatte in der Anfangsphase teilweise sogar Probleme, die Nationalitäten auseinanderzuhalten, weil man ja außer den Uniformen und gelegentlich erwähnten Namen kaum eine Chance hatte, Deutsche, Franzosen und Holländer zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang war eine meiner Lieblingsszenen ein Aufeinandertreffen einer deutschen Truppe mit einer offenbar französischen Zivilistin. Etwas plump, wie hier ein mitgeführter deutscher Schäferhund auf einen »French poodle« trifft, aber aus US-amerikanischer Sicht kann man das bestens zuordnen, auch wenn man noch nie in Europa war.
Der Humor ist, so war das damals, teilweise sehr klamaukig, aber gerade die Figuren, die für den comic relief zuständig sind, schließt man schnell ins Herz. Mir gefiel besonders der dickliche Andy Devine als »Willy Homeier«, der bei der Rückkehr zur alten Schule plötzlich wieder so schüchtern agiert wie einst. Und natürlich Slim Summerville, der wie ein (Schauspiel-)Veteran à la Walter Brennan auftritt, den uns der Film aber offenbar als jungen Burschen verkaufen will (damals wurden Romeo & Julia ja auch noch meistens von 40jährigen gespielt).
Was für mich den Film ausmacht, sind nicht die politischen Aussagen oder die Spannungsmomente, sondern das Old-School-Filmmaking aus der Studiozeit. Trotz einer klar als solcher erkennbaren Studiolandschaft beeindruckt manche Kamerafahrt mit Truppenbewegung, Miniaturflugzeuge oder -züge sind für mich viel spannender als wenn etwa in Das Tagebuch der Anne Frank ein CGI-Bomber über der Stadt gezeigt wird und insbesondere mit Überblendungen werden hier tolle filmische Effekte erzielt, die die Geschichte voranbringen. Mal wirkt die filmische Vergangenheit so altbacken und mal die Gegenwart so ideenlos...
Vorführungen:
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USA 2015, Deutscher Titel: Maggies Plan, Buch: Rebecca Miller, Story: Rebecca Miller, Karen Rinaldi, Kamera: Sam Levy, Schnitt: Sabine Hoffman, Musik: Michael Rohatyn, mit Greta Gerwig (Maggie), Ethan Hawke (John), Julianne Moore (Georgette Nørgaard), Travis Fimmel (Guy), Bill Hader (Tony), Maya Rudolph (Felicia), Wallace Shawn (Kliegler), Mina Sundwall (Justine), Monte Greene (Max), Sue Jean Kim (Komiko), Jackson Frazer (Paul), Ida Rohatyn (Lily), 92 Min., Kinostart: 4. August 2016
Ein Filmtitel wie Maggie's Plan verheißt ja nicht unbedingt, dass dieser Plan aufgehen wird. Eher im Gegenteil. Und wenn die Titelfigur noch von Greta Gerwig gespielt wird, umso deutlicher. Und eigentlich geht es in diesem Film um zwei Pläne, die Maggie schmiedet: Gleich zu Beginn will sie Mutter werden und will dafür auf eine Samenspende von Guy (Travis Fimmel) zurückgreifen, der ihrer Meinung nach nicht nur ein »pickle salesman« ist, sondern ein »pickle entrepreneur«. Auch wenn kaum jemand ihr hochgeschätztes Urteil für den etwas verplant wirkenden Guy teilt. Aber aus dem Plan wird auch schon mal nichts, weil Maggie und John (Ethan Hawke) sich stattdessen verlieben - ungeachtet des kleinen Details, dass John Familienvater ist und mit Georgette (Julianne Moore) verheiratet.
An dieser Stelle macht der Film einen Zeitsprung vom ersten Schäferstündchen zwischen Maggie und John - und einem Zeitpunkt, wo sie bereits mit ihrer liebenswerten Tochter Lily herumlaufen, die im Verlauf des Film ihren dritten Geburtstag feiert. Aus unerfindlichen Gründen haben sich die Filmemacher aber entschieden, diese nicht geringe Zeitspanne auch bei den drei teilweise recht kleinen Kindern von John und Georgette bzw. Maggies besten Freunden (Bill Hader als Tony und Maya Rudolph als Felicia) ganz auf die »schauspielerischen Leistungen« der jungen Darsteller zu laden, was insofern doppelt blöd ist, weil man es auch ohne weiteres hätte so drehen können, dass man die Kinder vor dem Zeitsprung nicht oder kaum hätte sehen müssen. Der Film ist quasi der Gegenentwurf zu Boyhood - Und wer den neuen Wayne Wang auf der Berlinale sieht, wird erkennen, dass die Boyhood-Herangehensweise an Altersvorgänge durchaus Schule macht (oder das Casting ist dort cleverer). Einzig Mina Sundwall als Älteste kann die Jahre der Veränderung (so von 12 auf 15 oder so) halbwegs überzeugend vortäuschen. Wenn auch mit reichlich Make-Up zur Unterstützung.
Bildmaterial: Jon Pack © Hall Monitor, Inc.
Ich will noch kurz Maggies zweiten Plan erklären, ehe ich mich dann ganz den unterschiedlichen Schauspielleistungen bzw. Figuren des Films widme - denn das war schon in Rebecca Millers letztem Film, The Private Lives of Pippa Lee (nach eigenem Roman), ein wichtiger Punkt. Damals tummelten sich immerhin Robin Wright, Keanu Reeves, Maria Bello, Julianne Moore, Alan Arkin, Winona Ryder, Zoe Kazan und Monica Bellucci vor der Kamera - und das Casting bei Maggie's Plan mag eine Spur weniger prominent wirken, funktioniert aber nach den selben Regeln: Jeder gibt sich reichlich Mühe und irgendwie wird schon ein Film daraus. Aber ich wollte auf den zweiten Plan zurückkommen.
Nach einigen Jahren, die größtenteils in der filmischen Ellipse stattfinden, entdeckt Maggie nämlich, dass Georgette und John ein besser funktionierendes Paar waren (sie stehen aufgrund der Kinder immer noch in freundschaftlichem Kontakt), als sie und John es vermutlich jemals sein werden. Und deshalb versucht sie tatsächlich, ihren Mann mit seiner Exfrau zu verkuppeln, in dem sie ihn auf eine Tagung schickt, bei der auch Georgette zugegen ist. Perfide und potentiell durchaus unterhaltsam.
Ich springe heute ein wenig wild hin und her zwischen angerissenen Gedanken, aber so gehört sich das halt, wenn man über einen Greta-Gerwig-Film spricht. Die zunehmend abgefeierte Darstellerin spielt eigentlich immer nur sehr ähnliche Typen, und viele Menschen scheinen in diesen Figuren etwas äußerst liebenswertes zu entdecken, was bei mir leider nicht funktioniert. Aber: ich muss attestieren, dass Maggie's Plan einer der besseren Gerwig-Filme der letzten Jahre ist. Die Witze auf Kosten von Akademikern wirken zwar etwas bemüht (John ist Experte für »fictocritical anthropology«, Maggie unterstützt absurd wirkende Geschäftspläne von Künstlern), aber zumindest wird eine ganz interessante Story erzählt, es gibt immer mal wieder gelungene Szenen - und die Schauspieler tragen den Film.
Ethan Hawke etwa wirkt so abgestumpft, wie man es sich nach einer aufreibenden Ehe (oder drei Filmen mit Julie Delpy) gut vorstellen kann. Julianne Moore ist es sich als Oscargewinnerin schuldig, ihre Figur zumindest mit einem überzeugenden skandinavischen Akzent anzureichern, und Maya Rudolph und Bill Hader (in diesem Fall besonders letzterer mit einer sehr töricht wirkenden Frisur) bereichern ohnehin jeden Film - ob sie den innewohnenden Schalk rauslassen oder auch nur subtil andeuten. Wer sich über Wallace Shawn nicht freut, sollte generell nicht ins Kino gehen, und der mir zuvor nicht so geläufige Travis Fimmel wird trotz weniger Szenen hier reich beschenkt (»I'll be back in a jiff with the jizz!«).
Es gibt noch so einige Kleinigkeiten, die in dem Film nicht so ganz zusammenpassen, eine nicht funktionierende Rauminszenierung hier, eine platte Musikauswahl dort - und auch ein paar Unstimmigkeiten im Buch. Aber wenn man dem Film eine Chance gibt, kann man durchaus schlechter seine anderthalb Stunden verbringen (insbesondere auf der Berlinale). Und das Erstaunlichste ist, dass der Film sogar mich mit meiner Greta-Gerwig-Allergie und der Erbsenzählerei über den fehlenden Wachstumsschub bei Kinderdarstellern so peu à peu auf seine Seite zog. Er könnte zwar noch viel besser sein, aber das Klassenziel wurde eindeutig erreicht.
Vorführungen:
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UK / Deutschland 2015, Buch: Omer Fast, Lit. Vorlage: Tom McCarthy, Kamera: Lukas Strebel, Schnitt: Andrew Bird, Musik: Schneider TM, Kostüme: Sam Perry, Production Design: Adrian Smith, Casting: Jenny Duffy, mit Tom Sturridge (Tom), Cush Jumbo (Catherine), Ed Speleers (Greg), Arsher Ali (Naz), Danny Webb (Samuels), Nicholas Farrell (Daubenay), Sasha Frost (Callgirl), 97 Min., Kinostart: 12. Mai 2016
Meine Ausgabe des Romans Remainder von Tom McCarthy (nicht der US-amerikanische Schauspieler und Regisseur, sondern ein Brite) zeigt auf dem Cover vor himmelblauem Hintergrund ein winziges kleines weißes Flugzeug, das, wie man am Kondensstreifen gut erkennen kann, gerade einen perfekten Kreis umschreibt, dieses aber wohl vollenden wird, weil die Dokumentation der Herkunft wieder vergeht, bevor die Maschine die gleiche Stelle wieder erreicht.
Diese »Szene« hat ein ganz konkretes Gegenstück im Roman, doch der israelische Videokünstler Omer Fast (der übrigens in Berlin lebt) hat in seinem Spielfilmdebüt das Buch in solch einer Weise verändert, dass es noch deutlicher zu den vorherrschenden Themen seiner Arbeit passt.
Irgendwie gefällt mir der Roman besser. Die Idee dazu hatte McCarthy, als er einen Riss in der Wand einer Wohnung sah und in einem Déjà vu-Moment etwas vor seinem geistigen Auge entstand, was womöglich gar keine echte Erinnerung war.
In der Handlung, die Buch und Film vereint, wird ein junger Mann (Tom Sturridge, der schnittige Sergeant aus Far From the Madding Crowd, als »Tom«) von einem ominösen Objekt, das aus dem Himmel gestürzt war, beinahe erschlagen, und bekommt als Abfindung für seine Verletzungen 8,5 Millionen englische Pfund, die er dann benutzt, um exakt jene Erinnerung, die der Auslöser des Romans war, nachzustellen: Katzen, die auf einem Dach herumlungern, der Geruch von gebratener Leber - Im Roman und Buch kommen noch einige Details hinzu.
Ein deutlicher Unterschied der Verfilmung zum Buch ist zum einen das Fehlen der inneren Stimme der Hauptfigur, die im Roman sehr viel sympathischer wirkt (und dem Buch auch einen Anstrich von Paul Auster gab). Das ist aber ja meistens die beste Herangehensweise, weil Film halt ein anderes Medium ist. Was mich aber störte, war die (meistens auch nicht zu umgehende) Verkürzung. Im Buch ist der wohlhabende Protagonisten Dutzende von Seiten damit beschäftigt, das Gebäude aus seiner Erinnerung zu finden bzw. nachzuempfinden. Und ähnlich lange beschäftigt er sich auch mit dem Casting seines »Personals« wie der »Leber-Oma« etc.
Im Film wird dieses Haus viel schneller gefunden, es wird nur etwas am Putz gearbeitet, aber eine Aufschrift über dem Eingang gibt einem als Zuschauer, der das Buch nicht kennt, ganz eindeutig das Gefühl, dass es sich um das Gebäude aus der Erinnerung handelt. Und auf ähnliche Weise geht man im Film auch immer davon aus, dass der schemenhafte Junge, der mehrfach auftaucht, eine ganz wichtige Rolle in der Vergangenheit Toms spielt. Vermutlich ist es sogar Tom selbst.
Der Regisseur vergleicht seinen Film gern mit Sophokles' Rex Oedipus (»With enlightenment comes punishment«), einem Möbius-Streifen oder Chris Markers La jetée - insbesondere, wenn er die vielgestellte Publikumsfrage »What's the point?« antizipiert. Aus seiner Sicht ist der Roman »linearer«, was fast wie ein Schimpfwort klingt. Doch für mich hatte das Buch ungeachtet einiger frustrierender Momente einen tiefen Impetus, während die im Film erzählte, abweichende Geschichte, zwar super zum sonstigen Werk des Künstlers passt - aber ich habe das Gefühl, dass ich diese Geschichte schon viel zu oft erzählt bekommen habe. Der »re-enactment«-Teil ist für mich im Bezug auf Remainder weitaus interessanter als »trauma, mediation and repetition«. Da ist Tom McCarthy weitaus versöhnlicher, wenn man seinem Interview im Presseheft folgt. Aber im Gegensatz zu ihm hat der Erfolg des Films auf mein Leben auch keinerlei Einfluss.
Ich kann nur empfehlen, den Roman zu lesen. Und zwar lieber vor Sichtung des Films als danach. Denn es ist vielleicht sogar möglich, dass man durch die Geschlossenheit des Films, diesen exekutierten Kreis, die entsprechende Flugzeug-Szene im Buch als sehr enttäuschend empfinden könnte. Und das ist dann einfach die falsche Reihenfolge.
Vorführungen:
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Japan 1977, Originaltitel: 88 - man bun no 1 no koduku, Buch: Sogo Ishii, Kamera: Toshio Inoue, Yosuke Ito, mit Makoto Nittono (Teramitsu), 43 Min.
Eines der vier Adjektive, mit denen Teramitsu, der Protagonist dieses Films im Berlinale-Katalog beschrieben wird, lautet »sexsüchtig«, die Filmzusammenfassung endet mit dem Satz »Unweigerlich eskaliert schon dieses Klagelied eines Unterdrückten in einem gewaltsamen Ausbruch«. Wenn man die englischsprachige Fassung dieses Satzes liest, versteht man ihn ansatzweise besser, aber der Eindruck, den der Film auf mich machte, war ein deutlich unterschiedlicher.
Dass sich Teramitsu eher überdurchschnittlich viele Hochglanzmagazine mit eher harmlos wirkenden Nacktfotos kauft und aus seinem Fenster heraus eine Nachbarin beobachtet, macht in meinen Augen gemeinsam mit ein paar implizierten Masturbationen noch keine Sexsucht aus, und ich finde auch nicht, dass der Film ihn als »Unterdrückten« darstellt, der quasi rebelliert. Dazu wird die Figur viel zu komisch dargestellt, und sein größtes Problem scheint weder seine Gehbehinderung noch seine Schüchternheit (in einer Szene wird mal vage angedeutet, dass er auch Kontakt zum anderen Geschlecht aufnehmen könnte, aber das ist eine der wenigen Stellen, wo man wirklich mit ihm mitfühlt) zu sein, sondern ein psychisches Problem, das ihm bei nahendem Prüfungsdruck zum Erbrechen zu drängen scheint.
Inwiefern der Film ferner »stilprägend« sein soll, kann ich nicht wirklich nachvollziehen - vielleicht bezieht sich das mehr auf den Stil des inzwischen unter dem Namen Gakuryu Ishii bekannten Regisseurs - oder ich habe schlichtweg zu wenige japanische Underground-Filme der 1980er gesehen.
Was den Film auszeichnet, ist der Umgang mit nachsynchronisiertem Filmmaterial, das auf einem Humor aufbaut, den ich eher mit humoristischen Mangas und Animes assoziiere. Teramitsu ist ein unbeholfener Nerd mit Woody-Allen-Brille, die aber erstaunlicherweise nie zertreten wird. Dass er Lernprobleme hat, liegt weniger an seiner »Sexsucht«, sondern daran, dass die Nachbarn oft nachts laute Musik spielen. Das ist gar nicht so einfach umzusetzen in einem Quasi-Stummfilm, der mit eher spärlichem Tonschnitt arbeitet. Die Tonspur ist auch mit das Interessanteste an dem Film, nicht nur das dauerhafte klassische Musikthema, das wirklich wenig mit dem langläufigen Verständnis von »Punk« zu tun hat, sondern vor allem die sehr eingeschränkten verbalen Äußerungen. Wenn er die Nachbarin mit dem frisch gekauften Fernstecher beim Ausziehen beobachten will, verbirgt diese sich hinter einer Milchglasscheibe und sein Kommentar könnte aus einem Slapstick-Film zwei Monate nach Einführung des Tonfilms stammen: »Oh, oh - Ah! Oh oh oh ...«
Wenn man ihn mit seinem Expander sieht oder beim Entleeren einer Kakerlakenfalle (der Film arbeitet viel und gerne mit kurzen hintereinandermontierten Szenen), dann wirkt er eher wie eine Witzfigur. Und erst im letzten Viertel des Film bekommt die Figur eine tragische Dimension, wenn er auf die U-Bahn wartet und scheinbar davor gestoßen wird (auch wieder reichlich armselig umgesetzt, aber das ist wohl das »Punk«-Element), ehe sich dies als eine Illusion / Halluzination oder sogar Wunschtraum offenbart. Der abschließende gewaltsame Ausbruch setzt in diesem Film zwar eine Art Schlusspunkt, der für die Interpretation sehr wichtig ist, doch gerade diese Szene zeichnet sich dann einen eher dilletantischen Umgang mit dem filmischen Mitteln aus. Wenn man sich keine Stuntmen und Effekte leisten kann, ist das eine Sache - aber ich war mir nicht einmal sicher, ob die verwackelte Sequenz im Stakkato-Schnitt andeuten sollte, dass er ein Kleinkind aus der Straßenbahn wirft. Oder was auch immer. Und somit bin ich als Betrachter es dann am Schluss, der die Punk-Attitüde annimmt, sich denkt »What the Fuck?« und den Film auch schon fast wieder vergessen hat. Was für den Film spricht: so ohne weiteres kann man ihn nicht einfach vergessen. Gerade, weil sein Dilletantismus ihn auch irgendwie auszeichnet. Wenn man den Film »besser« drehen würde, wäre er nicht besser. Und das ist dann irgendwie doch ziemlich punkmäßig, wie jeder bestätigen kann, der Pretty vacant schon mal in einer Philharmoniker-Version gehört hat.
Demnächst in Cinemania 142:
Hail, Caesar! (Joel & Ethan Coen, Wettbewerb außer Konkurrenz), Jug-yeo-ju-neun yeo-ja / The Bacchus Lady (E J-yong, Panorama), Midnight Special (Jeff Nichols, Wettbewerb), Pallasseum - Unsichtbare Stadt (Manuel Inacker, Perspektive Deutsches Kino) und Les premiers, les derniers / The First, the Last (Bouli Lanners, Panorama).
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