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8. Februar 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org
Berlinale 2016



Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet.


  Girl Asleep (Rosemary Myers)

Bildmaterial © Andrew Commis






Girl Asleep
(Rosemary Myers,
Generation 14plus)

Australien 2015, Buch: Matthew Whittet, Kamera: Andrew Commis, Schnitt: Karryn De Cinque, Musik: Harry Covill, Kostüme / Production Design: Jonathon Oxlade, Sound Design: Luke Smiles, mit Bethany Whitmore (Greta Driscoll), Harrison Feldman (Elliott), Matthew Whittet (Conrad Driscoll / Abject Man), Amber McMahon (Janet Driscoll / Frozen Woman), Eamon Farron (Adam / Benoit Tremet) Tilda Cobham-Hervey (The Huldra), Imogen Archer (Genevieve), Maiah Stewardson (Jade), 77 Min.

Schon in seiner ersten, auffällig langen, aber dennoch sehr unterhaltsamen Einstellung reißt Girl Asleep mit, was nicht zuletzt auch an seinem tollen Paar von Protagonisten liegt. Dieser australische 14plus-Beitrag erinnert augenblicklich an Napoleon Dynamite oder Eagle vs. Shark (letzterer stammt immerhin aus Neuseeland, also der relativen Nachbarschaft). Doch Greta und Elliott, die wir hier bei ihrem (beinahe) ersten Aufeinandertreffen kennenlernen, sind noch um einiges liebenswerter als die nicht mehr ganz als jugendlich durchgehenden Außenseiter der beiden Vergleichsfilme.

Das Genre Coming-of-Age bestimmt ja das 14plus-Programm seit Anbeginn, und man ist immer dankbar, wenn es mal nicht überdeutlich um die erste Liebe oder das erste Mal geht, sondern vielmehr um das Lebensgefühl von Teenagern. Und in diesem Fall wird die fragile Grenzlinie zwischen Kindheit und Erwachsensein ausgelotet, wobei man sich besonders auf das Niemalsland (ja, das heißt absichtlich so!) dazwischen konzentriert, eine »Grauzone«, die kaum bunter sein könnte.

Wie der Geheimtip der letzten Berlinale, Diary of a Teenage Girl, spielt auch Girl Asleep in den 1970ern, nähert sich dieser Zeit aber eher in Wes-Anderson-Manier an. Das Production Design und die Kostüme, erstaunlicherweise aus der selben Hand (Jonathon Oxlade heißt der Herr), sind schon mal deutliche Pluspunkte für den Film, wenn man Greta zu Beginn des Films in ihrer gelbroten Schuluniform einsam auf einer Bank sitzen sieht, ist eigentlich alles am Setting ausgesprochen artifiziell – aber es reißt einen dennoch hinein in diese Geschichte, die trotz rasantem Anfangstempo immer weiter aufdreht.

Girl Asleep (Rosemary Myers)

»15 is gonna herald the arrival of a new era« – aus der Sicht 14jähriger stimmt das sicher. Inmitten ihrer feindlichen (Schul-)Umgebung wirkt Greta ein wenig wie die sommersprossige junge Version von Alison Hannigan, der »Willow« in Buffy the Vampire Slayer. Nur fast noch eine Spur eingeschüchterter. Darstellerin Bethany Whitmore ist trotz ihrer jungen Jahre fast schon ein »alter Hase«, ihre hierzulande bekannteste Rolle war aber der Synchronjob bei der sperrigen Knetgummi-Animation Mary & Max. Ihr zur Seite steht Harrison Feldman (was für ein Name!) als Elliott, ein kleiner Pee-Wee Herman mit Zahnspange. Hier ein Einblick in eines der ersten Gespräche der beiden:

Er: »Should we just hang out or something…?«
Sie: »I guess.«
Er: »Awesome. […] Good Choice!«

Zum weiteren Ensemble gehören drei Schülerinnen, die man einfach »Heathers« nennen will, obwohl sie Amber, Genevieve und Jade heißen. Bei diesen drei entzückend hinterhältigen Grazien sieht man auch wieder den Wes-Anderson-Touch, der aber auch einfach was mit der Herkunft des Stoffs aus dem Jugendtheater (also vor allem für Jugendliche!) zu tun haben könnte. Die aktivste, die Führerin des Trios, steht immer in der Mitte, hat den meisten Text, ist aber die kleinste und offenbar die mit der geringsten Schauspielerfahrung. Aber die beiden wortkargen hochgewachsenen, wie Zwillinge erscheinenden »Höllenhunde« der Marke »Next Topmodel«, verleihen der »Sprecherin« den Impetus, die Präsenz, schlichtweg die Macht, die sie verkörpert – obwohl dabei alle drei in einer Rolle gefangen scheinen. Wenn man sogar mit den Bullies mitfühlt, hat der Film definitiv etwas Besonderes.

Girl Asleep (Rosemary Myers)

Gretas Eltern sind aber auch echte Bringer. Er, »Conrad«, wird gespielt von Matthew Whittet, dem Autor des Theaterstücks (eigentlich gab es sogar eine Trilogie von vergleichbar erfolgreichen Stücken um dieses Lebensalter aus seiner Feder). Er wirkt wie eine leicht depperte Mischung aus Edward Norton und meinem ehemaligen Erdkunde-Lehrer Wömpner. Und zu seinen wichtigsten Charakterzügen gehören Bonmots wie dieses: »Have you heard of that new movie … what's it called … !? Constipation! [kurze Pause für die Punchline] Because it hasn't come out yet!« So einen Paps muss man ja lieben. Aber die Frau an seiner Seite (Amber McMahon als Janet) steht ihm in nichts nach und ist eine Art 70er-Jahre-Version von Elizabeth Banks. Auf Ecstasy! Einen stärkeren Eindruck als Gretas große Schwester macht deren boyfriend, der in unnachahmlicher Weise für die bedrohliche Faszination der Sexualität steht – ein wenig wie der mit französischem Akzent auftretende Doppelgänger von Michael Cera in Youth in Revolt (ja, ich gebe mir Mühe, einige 14plus-Klassiker der letzten Jahre ins Gedächtnis zurückzurufen).

Schlimmer als Eltern, die einen nicht verstehen, sind aber Eltern, die einem auch noch helfen wollen – ohne Rücksicht auf Widerspruch und Gefangene! Und so landet die arme Greta auf einer Überraschungsparty zu ihrem 15. Geburtstag, wobei man darüber sinnieren kann, wie stark der Titel Girl Asleep hier zum Zuge kommt. Wo man in anderen Filmen wie Xavier Dolans Mommy oder dem Disney-Streifen Brother Bear mit unterschiedlichen Bildformaten Realitätsebenen quasi-subliminal suggeriert, arbeitet Girl Asleep derart subtil mit dem Formatwechsel, dass ich selbst als quasiprofessioneller Kinogänger nach der ersten Sichtung nicht sagen könnte, wann das Spiel mit den Formaten im Film begann. Relativ spät im Film, als Greta einen Wald betritt, ist mir aufgegangen, dass links und rechts das Bild deutlich gekappt wurde. Und ich dachte zunächst, dies sei eine deutliche Traummarkierung, die für die Interpretation eine Hilfe sein würde. Doch abgesehen vom Nachspann springt das Format nicht wieder. Meine auf Formate und Kamerazeugs eingeschossenen Kritikerkollegin meinte auf Nachfrage, dass sie annimmt, dass das Bild langsam und kontinuierlich geschrumpft sein muss – oder anders ausgedrückt: auch sie wurde getäuscht. Und der Übergang ist so schleichend wie der zwischen Kindheit und Erwachsensein, es gibt keinen Schlüsselmoment oder Alter, mit dem man die Seiten wechselt.

In der aufregenden traumähnlichen Passage des Films fühlt man sich übrigens abwechselnd wie in einem Björk-Video von Michel Gondry und der Realfilmfassung eines Miyazaki-Films. Eine finnische Kriegerin hilft Greta, ein Origami-Vogel übermittelt ihr Botschaften. Und dieses Mittelding zwischen Märchen-Horror und Alptraum schafft es besser als alles zuvor gesehene, den dunklen Wald der Pubertät zu visualisieren, noch dazu mit einem teilweise phänomenalen Soundtrack im 70er-Jahre-Stil. It makes you feel mighty real!

Als letztes noch ein Bild, das verdeutlicht, wie der Film auf einigermaßen harmlose (aber doch perfide) Weise mit der Sexualität spielt: Wenn der boyfriend der Schwester der Mutter hilft, ein Gurkenglas zu öffnen, ist das eine so geniale Allegorie auf die männliche Version der Pubertät, dass jener Kritiker, der einst so prägnant einen Virginia-Madsen-Film umschrieb (#toolazytogoogle), wahrscheinlich sagen würde, dass hier das Kino nach Gewürzgurken riecht...